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Mehr InfosDiplomarbeit, 2010, 72 Seiten
Diplomarbeit
DIPLOMA Fachhochschule Nordhessen; Abt. Kassel (Physiotherapie)
1,3
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1. Akuter Schmerz
2.2. Chronischer Schmerz
2.3. Krankheitsbilder
2.3.1. Wirbelsäulenschmerzen
2.3.2. Multilokuläre Schmerzen
2.3.3. Kopfschmerzen und Migräne
2.3.4. Chronic Regional Pain Syndrome (CRPS)
2.3.5. Rheumatische Schmerzen
2.4. Multimodale Screeninguntersuchung
2.4.1. Medizinische Untersuchung
2.4.2. Psychologische Untersuchung
2.4.3. Physiotherapeutische Untersuchung
2.4.3.1. Körperwahrnehmung/Koordination und Gleichgewicht
2.4.3.2. Beweglichkeit der Gelenke und der Wirbelsäule
2.4.3.3. Ausdauerleistung
2.4.3.4. Neuromobilität
2.4.3.5. Kraftleistung
2.4.3.6. Schmerzmanagement
2.5. Multimodale Therapie
2.5.1. Medizinische Therapie
2.5.2. Psychologische Therapie
2.5.3. Physiotherapie
2.5.3.1. Schmerzmanagement
2.5.3.2. Körperwahrnehmung
2.5.3.3. Ausdauertraining
2.5.3.4. Medizinische Trainingstherapie
2.5.3.5. Mobilisation der Wirbelsäule und der Gelenke
2.5.3.6. Koordinations- und Gleichgewichtstraining
2.5.3.6. Alltagstraining
2.5.3.7. Einzeltherapien
3. Auswertung
3.1. Kraftleistung am Ende der Vierwochen-Therapie
3.2. Beweglichkeitsmessung nach sechs Monaten
3.3. Körperliche Einschränkungen nach sechs Monaten
3.4. Einfluss sozialer Faktoren auf Einschränkungen des Lebens der Patienten nach sechs Monaten
4. Zusammenfassung
5. Einzelfalldarstellung
6. Literaturverzeichnis
7. Abbildungsverzeichnis
8. Tabellenverzeichnis
9. Eidesstattliche Erklärung
10. Anhänge
Schmerzen sind in unserer modernen Gesellschaft weit verbreitete Befindlichkeitsstörungen. Die Ausprägungen können sehr unterschiedlich sein. Sie reichen von gelegentlichen Gesundheitsstörungen bis zu schweren chronischen Schmerzerkrankungen, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität nach sich ziehen können.
Schmerzen sind die Wahrnehmung von Reizen aus der Umwelt, die die Unversehrtheit des Körpers eines Individuums bedrohen können. Sie sollen den Organismus rechtzeitig auf diese schädlichen Einwirkungen aufmerksam machen, um ihn davor zu schützen. Die Wahrnehmung des Schmerzes ist ein Bewusstseinsvorgang, der von den physiologischen Vorgängen der schädigenden Reizung, Nervenerregung und Weiterleitung unterschieden wird, diese jedoch voraussetzt. Erst im Gehirn werden die aus der Peripherie eintreffenden nervalen Impulse aufgrund vorheriger Erfahrungen (z. B. Berühren einer heißen Herdplatte) zu einem Schmerzerlebnis verarbeitet. Das heißt, neben den physiologischen Vorgängen umfasst Schmerz auch emotionale und verhaltensbestimmte Aspekte (Merkskey, 1976). Aus dieser Analyse hat die Internationale Association for the Study of Pain (IASP) 1994 die Definition des Schmerzes entwickelt:
„Schmerzen sind ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit den Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird“ (Schäfer, 2001, S. 3).
Akute Schmerzen sind also für die Gesunderhaltung des einzelnen Organismus wichtig, da sie eine Warnfunktion für den Körper haben, sie sollen ihn vor (weiteren) Schädigungen schützen und zum Heilungsprozess beitragen. Wird der Schmerz aber im weiteren Verlauf chronisch, löst er sich vom schädigenden Ereignis und hat seine Warnfunktion verloren. Er besteht dann als eigenständiges Krankheitsbild weiter.
Neuere Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland 5 - 8 Mio. Menschen an solchen chronischen Schmerzen leiden. Während akute Schmerzen monokausal verursacht werden und mit dem nozizeptiven Modell erklärt werden können, sind chronische Schmerzen multifaktoriell bedingt, in ihrer Entstehung ungleich komplexer und in der Symptomatik vielschichtiger (Geisner & Würtele, 1990). So kommen
bei der Entstehung neben dem auslösenden nozizeptiven Ereignis psychische und soziale Komponenten hinzu, die eine Chronifizierung des Schmerzes ermöglichen. Da die bisherigen somatisch orientierten Therapiekonzepte der Komplexität der entstandenen biologischen, psychologischen und sozialen Probleme und ihrer Auswirkungen nicht ausreichend gerecht werden, wurden ein weitergehendes Behandlungskonzept entwickelt - die multimodale Therapie. Hinter diesem multimodalen Therapieansatz steht ein bio-psycho-soziales Konzept, bei dem neben den körperlichen Beschwerden auch psychologische Faktoren und das gesellschaftliche/häusliche Umfeld der Patienten mit betrachtet werden. Da es bei diesen Patienten aufgrund ihrer sozialen und psychischen Probleme und des daraus resultierenden gesellschaftlichen Rückzugs immer auch zu körperlichen Störungen kommt, ist die Physiotherapie in diesem Konzept ein wichtiger Baustein. Das Patientengut ist sehr heterogen, und daher müssen auch die Therapieansätze variieren.
Ziel dieser Arbeit ist es:
1. Basierend auf einem multimodalen Therapiekonzept, den Unterschied zwischen akuten und chronischen Schmerzen zu erläutern, die möglichen Krankheitsbilder zu erklären und die häufigsten auf ihre medizinischen, psychologischen und vor allem physiotherapeutischen Auswirkungen und Defizite zu untersuchen.
2. Auf Grundlage der in einem Fragebogen gewonnenen Daten, der in der Voruntersuchung gemessenen Werte und in Befragungen erzielten Informationen eine multimodale Therapie für Schmerzpatienten vorzustellen, ihre Ergebnisse bei 29 Patienten zu dokumentieren und zu diskutieren.
3. Den Erfolg des physiotherapeutischen Teils der Therapie nach sechs Monaten anhand eines Fragebogens erneut zu überprüfen, um auch die Langzeitwirkung der Therapie bewerten zu können.
Gesamtziel der Arbeit ist es also, ein physiotherapeutisches Behandlungskonzept in der multimodalen Schmerztherapie auf seine Wirksamkeit zu untersuchen. Daraus ergeben sich folgende Hypothesen:
Die Hypothese (N1) lautet:
Eine intensive physiotherapeutische Behandlung im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie bei chronischen Schmerzpatienten verringert die körperlichen Einschränkungen der Patienten.
Die Nullhypothese (N0) lautet:
Es gibt keine Auswirkungen einer physiotherapeutischen Behandlung im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie auf die körperlichen Einschränkungen der Patienten.
Als „bellender Wachhund der Gesundheit“ macht uns der akute Schmerz darauf aufmerksam, dass irgendetwas im Körper nicht stimmt. Er will uns so darauf hinweisen, dass es im Körper Schädigungen, Entzündungen oder anderweitige Störungen gibt. „Dieser Schmerz, der meist nur wenige Stunden anhält, ist kein Gegner, sondern ein Helfer für unsere Gesundheit“ (Gerbershagen, 2001, S. A4). Es werden im Körper aufgrund physikalischer oder chemischer Prozesse Nozizeptoren aktiviert. Diese Aktivierung wird dann über Aktionspotentiale in den C- und A-d- Fasern zum Rückenmark übertragen. Im Rückenmark erfolgt die Umschaltung der Potentiale auf den Tractus spinothalamicus. Von dort werden sie zum Thalamus im Gehirn weitergeleitet. Im Thalamus werden die Nervenreize erfasst und in drei Gehirnzentren verarbeitet. Die Formatio-reticularis steuert das Weckzentrum, die Großhirnrinde bewertet den Schmerz und das limbische System sorgt für eine emotionale Aufarbeitung. Im Anschluss daran werden vom Gehirn Endorphine ausgeschüttet, die die absteigenden hemmenden Bahnen aktivieren, um den Schmerz zu dämpfen. Dieser Prozess wird so lange aufrecht erhalten, bis der schmerzauslösende Prozess in der Peripherie zum Stillstand gekommen ist. Durch die komplexe Gehirnreaktion wird der einfache Nervenimpuls der Schmerzauslösung zu einer individuellen, emotionalen, von Erfahrungen und Voreinstellung geprägten Wahrnehmung.
Bei Entzündungen werden von den Nozizeptoren verschiedene Mediatoren (Prostaglandine, Bradykinin, Histamin und Interleukin-1) in die periphere Umgebung abgegeben. Werden besonders viele Mediatoren aufgrund einer ständigen, länger anhaltenden Reizung des Gewebes freigesetzt, ist die Reaktion der Rezeptoren und des Umfelds dementsprechend groß. Dadurch werden nicht nur die Schmerzfasern empfindlicher, auch die umliegenden Gelenke, die Muskulatur oder Sehnen und Bänder können mitreagieren. Die Bewegung eines Gelenks oder die umgebende Muskulatur, die im gesunden Zustand keine Probleme verursacht haben, können dann schmerzhaft werden. Es kommt zu einer Hyperalgesie.
Sind diese Schmerzsignale aus der Peripherie besonders stark und länger andauernd, lösen sie an den Schaltstellen im Rückenmark biochemische Veränderungen
aus. Es wird die vermehrte Ausschüttung von Substanz P und Glutamat angeregt, die zu einer Veränderung der Nervenzellen führt – mit der Folge, dass sie empfindlicher für Schmerzreize werden (sekundäre Hyperalgesie). Aufgrund dieser Veränderung können die sekundären Nervenzellen Schmerzsignale auch dann an das Gehirn senden, wenn aus der Peripherie keine Impulse mehr kommen. So sind die Sensibilisierungsvorgänge in der Peripherie eine wesentliche Ursache für die Chronifizierung von Schmerzen im Zentralnervensystem.
Die dritte Stufe der Verschaltung und Verarbeitung erfolgt im Gehirn. Langjährige Beobachtungen bei Phantomschmerzpatienten zeigten, dass es bei einem langfristigen Schmerzgeschehen zu plastischen Veränderung in der Großhirnrinde und im Thalamus kommt. Veränderungen in der Großhirnrinde können dazu führen, dass sich das ursprüngliche Schmerzareal ausbreitet (Schmerzgedächtnis). So können ursächlich aufgetretene Rückenschmerzen in der Lendenwirbelsäule im Verlauf der Erkrankung bis in die Beine oder die Brustwirbelsäule ausstrahlen.
Auch negative emotionale Vorerfahrungen mit Schmerzen oder eine erhöhte Aufmerksamkeitslenkung auf das Schmerzgeschehen können eine weitere Chronifizierung begünstigen.
Wenn sich der Schmerz von der Grunderkrankung löst und unbehandelt bleibt, kann er nicht nur Einschränkungen in der Lebensqualität des Patienten zur Folge haben, sondern auch zu gesellschaftlichen Konsequenzen führen. Deshalb ist es wichtig, diese Schmerzen adäquat zu behandeln.
Da Schmerzen den ganzen Körper - alle Gelenke, die gesamte Muskulatur, alle Nerven und alle Organe - betreffen können, sind das Patientengut und die Krankheitsbilder in der multimodalen Schmerztherapie sehr vielfältig und vielschichtig. Es lassen sich aber Haupterkrankungen ermitteln, die besonders häufig zu einer Chronifizierung neigen und damit in der schmerztherapeutischen Tagesklinik vorgestellt werden.
In der schmerztherapeutischen Tagesklinik in Schweinfurt waren in den Jahren 2006 bis 2009 Patienten mit folgenden medizinischen Diagnosen führend (Abbildung 1):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Häufigste gestellte Diagnosen in der schmerztherapeutischen
Tagesklinik in Schweinfurt
1. Kopfschmerzen, Migräne und atypischer Gesichtschmerz (65 Patienten)
2. Multilokuläre Schmerzen, Fibromyalgie, myofascialen Schmerzen, somatoforme Schmerzstörungen (119 Patienten)
3. Wirbelsäulenschmerzen (180 Patienten)
4. Complex Regional Pain Syndrome - CRPS (15 Patienten)
5. Rheumatoide Arthritis ( 8 Patienten)
Am häufigsten kamen also Patienten mit Wirbelsäulenproblemen zur Screeninguntersuchung, die sich wie folgt differenzieren lassen: Probleme der Halswirbelsäule (HWS); des oberen Teils der Wirbelsäule mit 7 Halswirbelkörpern, der Brustwirbelsäule (BWS); des mittleren Teils der Wirbelsäule mit 12 Brustwirbelkörpern, den angrenzenden Rippen und der Lendenwirbelsäule (LWS); des unteren Teils der Wirbelsäule mit 5 Lendenwirbelkörpern (insgesamt 180 Patienten). Die zweite Hauptgruppe (119 Patienten) war die mit multilokulären Schmerzen.
Patienten mit Wirbelsäulenschmerzen stellen mit insgesamt 46,5% die größte Teilnehmergruppe am multimodalen Therapieprogramm dar. In Deutschland treten bei 80% - 90% der Menschen einmal oder mehrmals Rückenschmerzen auf (Waddell, 1998). 7% der Patienten werden längerfristig krank und verursachen 80% der gesamten Rückenschmerzbehandlungskosten (Zens, 1995). 60-70% der Patienten, die länger als 6 Monate krank waren, kehren nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurück (Hildebrand et al. 1997). Damit ist diese Patientengruppe besonders chronifizierungsgefährdet.
Bei Rückenschmerzen handelt es sich um Halswirbelsäulen-, Brustwirbelsäulen- und Lendenwirbelsäulenschmerzen sowie Probleme im lumbosacralen Übergang. Die Ursachen für diese Rückenbeschwerden sind sehr vielfältig. Sie reichen von Bandscheibenvorfällen, Arthrosen, Wirbelkanalverengungen, Wirbelkörperbrüchen und Gleitwirbeln über Muskelschwäche, Muskeldysbalancen und Verkürzungen bis hin zu neurologischen Defiziten und Einschränkungen der Neuromobilität. Bei einer großen Zahl von Patienten ist allerdings keine ausreichende, den Schmerz erklärende Ursache mehr erkennbar. Der Schmerz wird von psychosozialen Komponenten aufrecht erhalten, die den Patienten meist nicht bewusst sind. Vor allem die Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz, geringes Einkommen, niedriger sozialer Status, Verlust des Arbeitsplatzes und die Unzufriedenheit in der Familie scheinen das Auftreten von Rücken- und Nackenschmerzen zu begünstigen. (Waddel, 1998).
Aufgrund dieser Erkenntnis hat Waddel (1998) einige Zeichen für den chronisch-unspezifischen Rückenschmerz in der Lendenwirbelsäule entwickelt, die nicht den typischen medizinischen diagnostischen Kriterien entsprechen:
- Schmerzen an der Spitze des Steißbeins
- Kontrollverlust im ganzen Bein, keine nervenwurzelbezogene motorische Schwäche
- Taubheitsgefühle im ganzen Bein, keine dermatombezogenen Parästhesien
- Schmerzen im ganzen Bein, keine typischen Radikulopathien
- keine Schmerzfreiheit in den letzen Monaten oder Jahren, auch nachts nicht
- starke/abnorme Reaktionen auf kleine Reize (Spritzen, Krankengymnastik, Bäder, Massage usw.)
- Einweisung in die Notfallambulanzen der Krankenhäuser aufgrund sehr starker Rückenschmerzen.
Die zweithäufigste Patientengruppe ist die mit multilokulären Symptomen (30,7%). Hierzu zählen Patienten mit Schmerzen an drei oder mehreren Körperregionen. Das Gros sind Patienten mit Fibromyalgie, mit somatoformen Schmerzstörungen und mit myofascialen Schmerzen.
Die häufigste Diagnose ist die Fibromyalgie. Mit einer Epidemiologie von ca. 2% betrifft sie in der Mehrzahl Frauen (bei einem Verhältnis Frauen: Männer von ca. 8:1) In den rheumatologischen Praxen sind 20% der neuen Patienten von Fibromyalgie betroffen. Bei den Hausärzten sind es 4%. Der Erkrankungsbeginn liegt zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr. Vom Beginn der Symptomatik bis zur Diagnosestellung vergehen im Durchschnitt 8 Jahre. Auffällig sind die familiäre Häufung und die psychischen Komorbiditäten. (Offenbächler, 2001). 68% haben einen Verwandten mit der gleichen Erkrankung und ebenfalls 68% eine Depression (Epstein et al., 1999). An diesem Beispiel wird der psycho-soziale Hintergrund der Erkrankung sehr deutlich.
Zu den Leitsymptomen der Fibromyalgie gehören schmerzhafte Tender-Points am ganzen Bewegungsapparat, vor allem im Bereich der Muskulatur und an den Sehnenübergängen. Die Schmerzen führen zu Bewegungseinschränkungen und zu einem gestörten Muskelstoffwechsel. Aufgrund der Einschränkungen kommt es zu einer Verringerung der Ausdauerleistung und der Herz-Kreislauf-Leistung. Weiterhin wird das Schmerzgeschehen durch Stress, Kälte, Wetterwechsel, psychische Belastung und Überforderung negativ beeinflusst. Auch die vegetativen Erscheinungen des Reizdarms/der Reizblase, der Schlafstörungen, ein Globusgefühl im Hals sowie ein Schwellungsgefühl in den Füßen und Händen gehören zum Erscheinungsbild der Erkrankung und zeigen, dass auch das autonome Nervensystem deutlich reagiert.
Die dritte Gruppe der Therapieteilnehmer sind Kopfschmerz- und Gesichtsschmerzpatienten, die meist unter Migräne, Spannungskopfschmerz und medikamenteninduzierten Kopfschmerzen leiden (16,7%). Die Prävalenz für Migräne liegt in den Industrieländern bei etwa 5 - 8% bei den Männern und 12- 18% bei den Frauen (Göbel, 1997). Es gibt mehrere Migräneformen: Migräne ohne Aura (80%), Migräne mit Aura (15%) sowie seltene Migräneformen (5%). Die Diagnose wird häufig auf eine Beschwerdenschilderung des Patienten gestützt. Die IHS (International Headache Society) hat folgende Kriterien für eine Migräne ohne Aura festgelegt:
- mindestens 5 Attacken
- Attackendauer 4 bis 72 Stunden
- mindestens 2 Charakteristika:
- einseitige Lokalisation
- pulsierender/stechender Charakter
- mittlere bis starke Intensität
- Zunahme bei körperlicher Aktivität
- mindestens ein Symptom:
- Übelkeit und/oder Erbrechen
- Phono- und Photophobie
- Ausschluss einer symptomatischen Ursache.
Der Spannungskopfschmerz ist der häufigste Kopfschmerz. Er tritt bei 80 - 95% der Bevölkerung ein- oder mehrmalig auf. Bei etwa 3% kommt es zu einer Chronifizierung. Es besteht eine familiäre Häufung, der Frauenanteil überwiegt leicht. Die Pathophysiologie ist unklar und mögliche Ursachen sind nicht genau bekannt. Es werden eine vermehrte Anspannung der Schulter-Hals-Nackenmuskulatur und eine Schwellwertverschiebung des nozizeptiven Systems in Betracht gezogen (Straube & Förderreuther, 2001).
IHS Kriterien für episodischen Kopfschmerz sind:
- mindestens 10 beobachtbare Attacken und weniger als 180 Kopfschmerztage pro Jahr
- Fehlen von Übelkeit und Photo- bzw. Phonophobie
- Kopfschmerzdauer: 30 min bis 7 Tage
- mindestens zwei folgende Charakteristika:
- bilateral, drückend, ziehend
- keine Zunahme bei Aktivität.
IHS Kriterien für den chronischen Spannungskopfschmerz sind:
Kopfschmerzen an mindestens 15 Tagen pro Jahr, sonst wie episodischer Kopfschmerz.
Die vierte Gruppe sind Patienten mit einem CRPS 1 - einem sympathisch unterhaltenen Schmerzsyndrom (früher Morbus Sudeck). In den Screeninguntersuchungen der schmerztherapeutischen Tagesklinik waren 3,9% von diesem Krankheitsbild betroffen. In Deutschland treten jedes Jahr 15.000 neue Fälle auf. (Dertwinkel et al., 1999). Neben den körperlichen Ursachen (Trauma, Bagatellverletzungen, Herpes Zoster oder Entzündungen) sind häufig auch psychische Merkmale zu beobachten. Zu den häufigsten Symptomen gehören Affektlabilität, Erschöpfungsneigung, Bagatellisierung, Katastrophisierung, Schlafstörungen, Selbstwertproblematiken, Körperwahrnehmungsstörungen und autoaggressives Verhalten. Weitere psychiatrische Untersuchungen ergaben bei über 90% Zeichen einer depressiven Verstimmung oder einer Depression (Rauis, 1999). Es ist aber nicht klar, ob diese Symptome Mitursache oder Folge der Erkrankung sind.
Auslöser für ein CRPS 1 ist ein schädigendes Ereignis an einer distalen Extremität, es ist aber auch ein verzögerter Beginn möglich (durch Gips, Schiene, Massage oder Physiotherapie).
Die klinischen Zeichen sind sehr vielfältig. Meist besteht eine neurologische Trias aus sensorischen, motorischen und vor allem sympathischen Symptomen. Die führenden Angaben der Patienten sind dumpfe oder bohrende anhaltende Spontanschmerzen mit Schmerzzunahme bei Bewegungen und Druckschmerzhaftigkeit der Gelenke. Der Schmerz ist im Verhältnis zur Schädigung überproportional groß und kann im Verlauf der Erkrankung die ganze Extremität betreffen. Neben den Schmerzen tritt mit Fortschreiten der Erkrankung eine pergamentartige schuppige Haut auf, und es kommt zu einem gestörten Haar- und Nagelwachstum. Weiterhin sind Muskatatrophien und Kontrakturen sowie Gelenk- und Knochenveränderungen (aufgetriebenen Gelenke, fleckenförmige Osteoporose) mit Fortschreiten der Erkrankung zu beobachten.
Die fünfte Gruppe sind Patienten mit rheumatischen Schmerzen. Die Prävalenz für diese Erkrankung liegt in Deutschland bei 1%, in der schmerztherapeutischen Tagesklinik sind es 2,0%. 25% dieser Patienten sind nach 6 Jahren, 50% nach 20 Jahren arbeitsunfähig (Schäfer, 2001).
Die chronische Polyarthritis ist eine autoimmune Entzündung des Synovialgewebes der Gelenke und Sehnen. Von der American Rheumatism Association wurden 1986 folgende Kriterien zur Klassifikation festgelegt:
- Morgensteifigkeit von mehr als 60 Minuten
- entzündliche Schwellung von 3 oder mehr Gelenken
- entzündliche Schwellung der proximalen Interphalangial-, Metakarpophalangial- oder der Handgelenke
- symmetrischer Befall der Gelenke
- Rheumaknoten
- Nachweis des Rheumafaktors
- radiologischer Nachweis von Knochenerosion der betroffenen Gelenke.
Die multimodale Therapie besteht aus mehreren Bausteinen: der medizinischen Untersuchung, der psychologischen Untersuchung und der physiotherapeutischen Untersuchung, die zum Ziel haben, die zu Beginn der Therapie bestehenden Probleme in allen Bereichen zu erfassen und zu dokumentieren, um daraus eine optimale Behandlungsstrategie entwickeln zu können.
Nach der Untersuchung werden die Patienten nach Alter und Krankheitsbild einer bestimmten Therapiegruppe zugeordnet. Folgende Gruppen werden angeboten:
- eine Basisgruppe zur Orientierung der Patienten mit 6 Therapietagen
- eine Hauptgruppe mit 20 Therapietagen (4 Wochen mit 5 Tagen pro Woche)
- eine Seniorengruppe mit ebenfalls 20 Therapietagen verteilt auf 10 Wochen (2 Tage pro Woche).
Das Alter der zur Screeninguntersuchung angemeldeten Patienten, das zwischen 17 und 89 Jahren liegt, ist ein Kriterium für die Zusammenstellung der Gruppe. Das Durchschnittsalter liegt bei 54,3 Jahren, und die Altersstruktur verteilt sich wie folgt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Alter der Patienten (Angaben in Prozent in Bezug auf die Gesamt-patientenzahl)
Aus Abbildung 2 wird deutlich, dass überwiegend Personen im Alter zwischen 40 und 59 Jahren (62%) als potentielle Patienten in der Tagesklinik vorgestellt werden. Das Verhältnis von Frauen zu Männern beträgt etwa 2:1.
In der medizinischen Untersuchung wird zunächst eine umfangreiche Anamnese erhoben. In der Krankenvorgeschichte werden nicht nur Krankheitsverlauf, Medikamenteneinnahme und die vorangegangenen medizinischen Interventionen erfragt, sondern es wird auch ein umfangreiche Sozial- und Familienanamnese erstellt. Zum Allgemeinbefund wird dann eine internistische, eine neurologische und eine orthopädische Untersuchung durchgeführt. Ziel der Voruntersuchung ist die Sicherung der Schmerzdiagnose. Neben der Optimierung der Schmerzmedikation soll gegebenenfalls die Indikation invasiver Maßnahmen zur Prävention der Chronifizierung geklärt werden.
Nach dem Mainzer Stadienmodell wird weiterhin eine Stadieneinteilung der Schmerzchronifizierung vorgenommen. In diesem Modell werden folgende Aspekte ermittelt:
1. zeitliche Aspekte des Schmerzgeschehens (Auftretenshäufigkeit, Dauer, Intensitätswechsel)
2. räumliche Aspekte (monolokulär, bilokulär, multilokulär)
3. Medikamenteneinnameverhalten
4. Patientenkarriere (Wechsel des Arztes, schmerzbedingte Krankenhausaufenthalte, schmerzbedingte Operationen, schmerzbedingte Rehabilitationsmaßnahmen).
Im Anschluss werden die Patienten folgenden Stadien zuordnet:
Stadium 1: für leicht chronifizierte Patienten
Stadium 2: für mittelgradig chronifizierte Patienten
Stadium 3: für schwer chronifizierte Patienten.
In die schmerztherapeutische Tagesklinik werden überwiegend Patienten der Stadien zwei und drei aufgenommen.
Bei der Chronifizierung von Schmerzen spielen neben bestimmten Verhaltensmerkmalen und der emotionalen Stimmung auch schmerzbezogene Kognitionen (z.B. Katastrophisieren, verstärktes Durchhaltebemühen, Hilf- und Hoffnungslosigkeit) eine wichtige Rolle. Aber auch dysfunktionale Schmerzbewältigungsstrategien (z .B. Vermeidungsstrategien, Durchhaltestrategien, non-verbales Ausdrucksverhalten), falsche Krankheitsverarbeitung und dysfunktionale Krankheits- und Behandlungsmodelle können ein weiteres Fortschreiten der Erkrankung begünstigen.
In der psychologischen Screeninguntersuchung wird ein strukturiertes Interview zum chronischen Schmerz nach Körner-Herwig durchgeführt. Darin werden folgende Aspekte vom Patienten erfragt:
- die Motivation (Fremdmotivation/ Eigenmotivation) des Patienten zur Therapie
- Schmerzsymptome (Lokalisation des Schmerzes) und die Auswirkungen auf den psycho-sozialen Bereich
- schmerzbegleitende psychische Symptome (Übelkeit/Erbrechen/Erschöpfung/ Depression)
- Vorboten des Schmerzes (Aura) und biographische sowie psychosoziale Umstände des ersten Auftretens der Schmerzen
- psychische schmerzauslösende Situationen (Ärger/Stress/Wut)
- schmerzreduzierende Bedingungen
- Selbsteffizienzüberzeugung (Besteht Einfluss und Kontrolle auf das Schmerzgeschehen?)
- Kognitionen, Emotionen und Verhalten beim Auftreten des Schmerzes
- Bedeutung des Schmerzes
- Belastungen (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit)
- Klärung des Krankheitsmodells des Patienten
- Gibt es Hinweise auf Veränderungen der Person (zunehmende Ängstlichkeit, Interessenverluste)?
In der Screeninguntersuchung wurden folgende Verhaltensmerkmale bei chronischem Schmerzverhalten ermittelt (Sturm & Zielke, 1988):
- zunehmende Passivität und Hilflosigkeit
- Verlust an Selbsthilfemöglichkeiten
- zunehmende Inanspruchnahme medizinisch- diagnostischer Möglichkeiten
- Verlust an Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers
- Verlust an Vertrauen in die psychische Funktionstüchtigkeit der eigenen Person
- psychisches und soziales Schonverhalten, sozialer Trainingsmangel
- Einschränkungen passiver Entspannungsmöglichkeiten
- Stabilisierung sozialer Beziehungen durch die Krankenrolle
- erhöhter Verfügbarkeitsdruck nach medizinischen Interventionen
- Missbrauch von Medikamenten bzw. Abhängigkeitsgefährdung
- zunehmende Abhängigkeit vom medizinischen Versorgungssystem.
Daraus geht hervor, dass es im Verlauf der Schmerzerkrankung zu tiefgreifenden psychischen und sozialen Veränderungen gekommen ist.
Vor dem Beginn des Gruppenprogramms wird auch in der Physiotherapie eine umfangreiche Screenringuntersuchung durchgeführt. Dabei wird der Patient auf die Beweglichkeit der Gelenke und der Wirbelsäule (Schober, Ott, FBA), seine Ausdauerfähigkeit (Gehstrecke), auf die Körperwahrnehmung, auf Schonhaltungen, auf mögliche Schmerzauslöser/Verstärker, auf Einschränkungen der Neuromobilität und auf einen Umgang mit der Schmerzerkrankung (Schmerzmanagement) befragt und untersucht. Nach Abschluss der Untersuchungen wird der Patient aus physiotherapeutischer Sicht einer geeigneten Gruppe zugeordnet.
Nach Auswertung der Befunde ergaben sich folgende körperliche Defizite:
Körperwahrnehmung meint das Erspüren des Körpers mit allen Sinnen. Aus dem Erleben und Erfühlen des Körpers entwickelt sich Körperbewusstsein und damit Selbstbewusstsein. Das Kennen der Stärken des Körpers vermittelt Sicherheit und Vertrauen. Die Körperwahrnehmung ist bei vielen unserer Patienten eingeschränkt. Sie haben das Gefühl für Anspannung und vor allem für Entspannung der Muskulatur, aber auch für die Grenzen und Möglichkeiten ihres Körpers teilweise verloren. Auch der Koordinations- und der Gleichgewichtssinn sind eingeschränkt. So sind die meisten Patienten nicht oder kaum in der Lage, auf einem Bein zu stehen. Auch das Balancieren als Test für die Koordination und das Gleichgewichtsverhalten ist nur mit großer Unterstützung möglich. Beim Schließen der Augen geht das Gleichgewicht meist ganz verloren.
Die Bewegungseinschränkungen der Patienten sind in der Wirbelsäule am größten. Durch die Messung des Finger-Boden-Abstandes (FBA), des Schober-Zeichens für die Lendenwirbelsäule (LWS) und des Ott-Zeichens für die Brustwirbelsäule (BWS) können diese Einschränkungen verdeutlicht werden:
Bei einem normal beweglichen, gesunden Menschen verlängert sich die Wirbelsäule bei maximaler Beugung in der BWS von C7 bis Th12 von 30 cm auf 34 cm (Ott-Messung) und in der LWS von L1 bis L5 von 10 cm auf 15 cm (Schober-Messung). Der Finger- Boden-Abstand beträgt dann 0 cm.
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