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Mehr InfosMagisterarbeit, 2009, 108 Seiten
Magisterarbeit
Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Romanistik, Französische Philologie)
1,0
Einleitung
I.: Gesellschaftsanalyse
I.1.) „L´écrivain de la souffrance ordinaire“: Zur Einseitigkeit der Gesellschaftsdarstellung Houellebecqs
I.2) Sexualitäts- und Liebestheorie
I.2.1) Die „relations simulées“ im platonischen Liebesmodells
I.2.2) „Le manque d´objet“ und die Omnipräsenz sexuellen Begehrens
I.2.2.1) „La sexualité [] dans le domaine d´économie de marché“: Zur Instrumentalisierung des Körpers
I.2.2.2) „L´objet d´un dégoût unanime“: Degradierung des Alters, körperlicher Verfall und die Zerstörung der Seele
I.3) „Le déprimisme“: Melancholie und Depression im Gesellschaftsbild Houellebecqs
I.3.1) Pensée schopenhauerienne und Misanthropie als „concept fondateur de l´idéologie houellebecquienne“
I.4) Das Sündenbockritual – oder die Wiederherstellung der sozialen Ordnung
I.4.1) Der destruktive Liberalismus der 68er-Generation
I.4.1.1) Mutter und Frau als Täter und Opfer einer „befreiten“ Gesellschaft
I.4.2) Gesellschaftliches Ungleichgewicht durch Islam und Immigrantentum
I.5) Utopie und Dystopie: Zur Abschaffung des Menschen durch das „changement apocalyptique“
I.5.1) Posthumanes Menschsein
I.5.1.1) Utopische Zukunftsfiktion in Les particules élémentaires
I.5.1.2) Dystopische Relativierung in La possibilité d´une île
II.: Provokation und Tabubruch
II.1) „L´interdit est là pour être violé“: Zum Begriff des Tabubruchs und der Transgression
II.2) Zu Presserezeption und öffentlichen Reaktionen oder der Spaltung einer Gesellschaft
II.3) Die Romankonzeption Michel Houellebecqs
II.3.1) La platitude, l´écriture du degré zéro und die Ablehnung der literarischen Tradition
II.3.2) Die Aufhebung der Grenze zwischen Fiktion und Realität: L´effet de réel
II.3.3) Die Destabilisierung der Romanstruktur: Diskursmischung und Genrewechsel
II.3.3.1) Der Bruch moderner Sprachnormierung durch die Umkehrung der political correctness
II.3.4) Tatsächliche Stillosigkeit oder bewusst gewählter Mangel an Literarizität?
II.4) Thematische Provokation und die Negierung des gesellschaftlichen Konsens
II.4.1) „De[s] scène[s] à lire d´une seule main“: Zum Vorwurf der Pornographie
II.4.2) Extension du domaine de la lutte: Basis einer Provokation
II.4.3) Les particules élémentaires: Banalisierung der Gentechnologie und inzestuöses Verhalten
II.4.4) Plateforme: Glorifizierung des Sextourismus und Äusserung rassistischen Gedankenguts
II.4.5) La possibilité d´une île: Autobiographischer Zynismus als Grundvoraussetzung kommerziellen Erfolges
II.4.6) „Pornographie [und] ultraviolence“: Zur Schaffung immer größerer Extreme
II.5) Tabubruch als Bereicherung des (postmodernen) Alltags
II.5.1) L´autofiction als ironische Selbstinszenierung
II.5.1.1) Exkurs: Zum Marketingkonzept des Autors und seiner Verleger
II.5.2) Abschließender Versuch einer Erklärung
Fazit
Literaturverzeichnis
Versicherung
Michel Houellebecq, geboren 1958 auf La Réunion, kann ohne Zweifel als einer der bedeutsamsten und vor allem populärsten französischen Autoren der Gegenwart bezeichnet werden. Nachdem er seine Kindheit in Crécy-La-Chapelle verbrachte, sein Studium als Agraringenieur abschloss und als Informatiker arbeitete, wurde 1991 sein Gedichtband La poursuite du bonheur veröffentlicht. 1994 gelingt ihm mit Extension du domaine de la lutte der literarische Durchbruch. Vier Jahre später folgt der Roman Les particules élémentaires und mit ihm der erste Skandal um den Autor. Auch Plateforme (2001) löste heftige Debatten und gar eine Anklage wegen Verhetzung aus. 2005 erschien der bislang letzte Roman Houellebecqs – La possibilité d´une île. Vor kurzem erst, genau genommen im Oktober 2008, veröffentlichte Flammarion eine Briefkorrespondenz zwischen Michel Houellebecq und Bernard-Henri Lévy: Ennemis publics.[1] Schonungslos beschreibt der Autor die Probleme der postmodernen okzidentalen Lebenswelt und erzielt damit bemerkenswerte Erfolge. Seine Romane erreichen ungewöhnlich hohe Auflagen, die generell nur Preisträger des Prix Goncourt vermerken können, und sind bisher in rund 30 Sprachen übersetzt worden. So rückte Houellebecq im Laufe der Zeit rasch ins Zentrum der Medien und des öffentlichen Interesses, wo er immer wieder als „Skandalautor“ gehandelt wurde und für kontroverse Diskussionen gesorgt hat. Ursache dessen ist sein misanthropes, depressives Weltbild und sind seine provokanten, anstößigen Thesen, mit denen er sich gezielt gegen die gesellschaftlich allgemein vertretene moralische Norm stellt. In den Particules werden die Genforschung und die Abschaffung der Menschheit durch Klonung als utopische Lösung für eine bessere Welt glorifiziert. In Plateforme äußert der Protagonist den Vorschlag eines globalen Bordells und appelliert für die Vorzüge des Sextourismus. Auch zahlreiche rassistische Äußerungen haben für weitgreifende Kritik und Empörung gesorgt. Houellebecq versteht es zu provozieren, den Nerv seiner Zeit zu treffen, strittige aktuelle Themen aufzugreifen und genau das anzusprechen, worüber ein Großteil der Menschen lieber nicht spricht. Zynisch rechnet er mit der zeitgenössischen Gesellschaft ab und behandelt gnadenlos die Probleme und das Leid der postmodernen Welt. Diese ist bei Houellebecq maßgeblich geprägt von stetig wachsender Liebesunfähigkeit, Vereinsamung, von Hass und Ungerechtigkeit und verschiedenartig konstruierter Hierarchien, innerhalb deren stets der Bessere gewinnt und der Schwächere auf der Strecke bleibt. „Pour l´Occident je n´éprouve pas de haine“ heißt es in Plateforme, doch scheint das Prosawerk Houellebecqs dieser Aussage zu widersprechen und zwar nicht zwingend auf Hass, aber immerhin auf der Ablehnung seines Autors gegen die Welt und den Menschen zu basieren.
Die vorliegende Magisterarbeit will, aufbauend auf einer Analyse der Romane Extension du domaine de la lutte, Les particules élémentaires, Plateforme und La possibilité d´une île, in einem ersten Teil das Gesellschaftsbild Houellebecqs beleuchten, das als Grundlage dient für seine Provokationen und Tabubrüche, die im zweiten Teil der Arbeit näher herausgearbeitet werden sollen. Schon in seiner Analyse der Postmoderne zeigen sich extreme und polarisierende Ansichten, die er gekonnt auf die Spitze treibt. Doch zuerst soll gezeigt werden, wie die von Houellebecq beschriebene Gesellschaft sich gestaltet, durch was sie sich kennzeichnet und worin ihre Schwachpunkte und ihr Leiden begründet sind. Mithilfe der Psychoanalyse Jacques-Marie Émile Lacans, die sich ausführlich mit dem Menschen als begehrendes Subjekt und Träger eines irreduziblen Mangels auseinandersetzt, soll auf die zwischenmenschlichen Beziehungen der Romancharaktere Houellebecqs eingangen werden. Dabei wird ein Schwerpunkt auf die Fokussierung des Autors auf jedwedes Sexuelles, die Problematik des Alter(n)s und der Instrumentalisierung des Körpers gelegt werden, was zur Behandlung des melancholischen, depressiven Dasein der Individuuen der westlichen Welt führen wird, die auf der steten Suche nach Glück und Erfüllung Gefahr laufen, sich selbst zu verlieren. Ferner wird in Anlehnung an die Theorie René Girards auf die an der Misere Schuldtragenden eingegangen werden, bevor der erste Teil mit der Thematisierung von Utopie und Dystopie und der damit einhergehenden Analyse der Darstellung Houellebecqs des neuen Menschen in Les particules élémentaires und La possibilité d´une île schließen wird. Darauf aufbauend soll der zweite Teil unter Berücksichtigung der Transgressionstheorie Batailles und Foucaults den Provokations- und Skandalgehalt im Prosawerk des Autors analysieren und dabei ein Augenmerk auf provokative und tabuierte Elemente seiner Ansichten, sowie seines literarischen (non-)styles und seiner Romankonzeption im Allgemeinen werfen. Auch wird ein Auszug gesammelter Presse- und Kritikerstimmen einen Überblick über die stark kontrovers geführte Diskussion verschaffen. Bei der Abarbeitung der einzelnen Romane werden zudem seine in der Kritik immer wieder so dargestellten Tabuthemen wie Rassismus, Pornographie, Gentechnologie und Eugenik, sowie extreme Gewaltdarstellung behandelt werden. In Zusammenhang mit der Erläuterung einiger Marketingstrategien des Autors und seiner Verleger soll im Anschluss abschließend die Frage überprüft und der Versuch einer Beantwortung unternommen werden, ob Provokation und Tabubruch, deren Ursprung vor allem im Weltbild Michel Houellebecqs begründet liegt, tatsächlich als solche anzusehen sind, oder nicht vielmehr durch geschicktes Marketing hochstilisiert wurden, um dem Bedürfnis des realen, postmodernen Lesers nach Sensation und Transgression gerecht zu werden.
Vorallem durch den starken Bezug zwischen Gesellschaftsanalyse und Provokation erweist sich die zu behandelnde Thematik dabei als interessant, zumal sie aufgrund ihrer zeitlichen Nähe zu Autor und Werk eine direkte Inverbindungsetzung zwischen fiktiver und realer Welt aus einer zeitgenössischen Sichtweise und somit den Versuch einer Klärung des Erfolges Houellebecqs erlaubt.
Seit jeher ist Literatur Medium zur direkten oder indirekten Vermittlung von Philosophien und Weltanschauungen, repräsentiert sie ein gewisses Bild der Menschheit, von Gott und den Zuständen der Gesellschaft. Schon für Immanuel Kant stellte die Frage „Was ist der Mensch?“ den Kern der Philosophie dar und auch bei Houellebecq steht die Problematik der menschlichen Verfasstheit und der zwischenmenschlichen Beziehungen im Mittelpunkt. Dabei erlaubt der an die Tradition des Realismus anknüpfende Romanstil Houellebecqs dem Autor eine eindringliche Analyse von Gesellschaft, Welt und dem Menschen.
Mit Bezugnahme auf die Philosophiegeschichte setzt sich die Darstellung des Menschen nach Schlette[2] aus zwei Komponenten zusammen: einerseits die hauptsächlich philosophische Überlegung nach dem „Wesen“ des Menschen und andererseits die Frage nach seinen „konkreten Existenzweisen bzw. Lebensformen“, die vor allem historische, politische, ethische, moralische und psychologische Aspekte des menschlichen Seins behandelt.[3] All diese Bereiche beleuchtet auch Houellebecq in seinem Werk, doch geht seine Darstellung über eine rein analytische Stellungnahme hinaus. Er provoziert gezielt mit fragwürdigen Thesen, beschreibt das Negative der zeitgenössischen Gesellschaft und übt Kritik am derzeitigen Status quo der (nicht nur) westlichen Welt. Dabei sieht er es als seine schriftstellerische und moralische Pflicht, die Welt zu beschreiben, so beängstigend und verkommen sie auch sein mag. Basis der houellebecqschen Weltsicht ist seine fundamentale, radikale Ablehnung des modernen Gesellschaftssystems, das charakterisiert ist von einem „effacement progressif des relations humaines.“ (INT: 116) Dies ist auf die gesellschaftliche Gesamtsituation zurückzuführen, in der die Marktgesetzlichkeit nicht mehr nur den wirtschaftlichen Sektor dominiert, sondern sich darüber hinaus auf den der Sexualität ausgebreitet und übertragen hat. (vgl. LANZ: 144)
Nach Houellebecq sollte aufgrund der Isomorphie zwischen „menschlicher und narrativer Textur“[4] die Analyse der menschlichen Natur auch im Roman behandelt werden, was der Roman des zwanzigsten Jahrhunderts seiner Meinung nach in nur unzulänglicher Art und Weise getan hat. Anknüpfend an Realismus und existentialistische Erzähltradition der 1940er und 1950er-Jahre legt er seinen Schwerpunkt nicht mehr auf Text und „écriture“, sondern auf die Beschreibung der menschlichen Existenz mit all ihren negativ besetzten Eigenschaften, Lebensumständen und -zielen.
Die Gesellschaftsanalyse Houellebecqs ist maßgeblich von seinem persönlichen Verhältnis zu der ihn umgebenden Realität geprägt. Der 1998 erschienene Essay-Band Interventions vereint Literatur- und Filmkritiken, Gespräche und Briefe zu seinem Werk sowie theoretische Aufsätze, die ein aufschlussreiches Bild über die Weltsicht des Autors vermitteln. Im Gespräch mit Sabine Audrerie sagt er, Bezug nehmend auf seine Poetik, dass er fasziniert sei von den bis dato unbekannten Erscheinungen unserer Welt und dass er nicht verstehen könne, wie andere Dichter sich dieser Realität entziehen können. Er selbst sei „effroyablement perméable au monde qui [l]´entoure“ (INT: 111), obgleich er bereits 1995 in einem Interview mit Jean-Yves Jouannais und Christophe Duchatelet betont hat, dass er der beklemmenden Gegenwart der modernen Welt am liebsten entkommen würde, „rejoindre un univers à la Mary Poppins, où tout serait bien.“ (INT: 47) Doch wird ihm dies nicht gelingen. Denn er sieht es als seine schriftstellerische Pflicht an, „de continuer à exprimer [...] les contradictions qui [le] déchirent“ (INT: 118), da sich diese vermutlich als für seine Zeit repräsentativ herausstellen werden.
So möchte er all die von der Oberfläche verdeckten Probleme seiner Zeit beschreiben und analysieren, sieht es als seine Aufgabe über die Wahrheit – „la séparation, la souffrance et le mal“ (INT: 39) – nachzudenken und „de mettre le doigt sur la plaie“ (INT: 26). Es kann also vermutet werden, dass Houellebecq eine moralische schriftstellerische Verpflichtung verspürt, die Welt wie er sie wahrnimmt, literarisch festzuhalten und zu dokumentieren. Doch ist zu betonen, dass seine Romane keineswegs eine umfassende soziologische Abhandlung der Gesellschaftszustände liefern, sondern sich vor allem durch Subjektivität und Unilateralität auszeichnen. Die Analyse Houellebecqs weist eine offensichtliche Einseitigkeit auf und distanziert sich damit von totalen, in Romanzyklen konzipierten Gesellschaftsdarstellungen eines Balzac oder Zola. Seine Ausführungen sind oft sehr subjektiv auf eine spezielle soziokulturelle Sichtweise positioniert und bieten keine spezifische Differenzierung der konstatierten Mentalitäten, Lebens- und Denkweisen. Diese Einseitigkeit hat die Kritik ihm nicht selten zum Vorwurf gemacht. Schließlich geht er nur auf ausgewählte Schichten der Gesellschaft ein, begrenzt sich auf die Präsentation der „classes moyennes“:
„Mes personnages ne sont ni riches ni célèbres; ce ne sont pas non plus des marginaux, des délinquants ni des exclus. On peut trouver des secrétaires, des techniciens, des employés de bureau, des cadres. [...] Donc des gens tout à fait moyens, a priori peu attirants d'un point de vue romanesque“ (INT: 67)
Houellebecqs Charaktere sind also weder reich noch berühmt. Sie zählen zur modernen Mittelklasse, zum „cadre moyen“ (EDL: 15) und zeichnen sich durch absolute Durchschnittlichkeit aus: Der namenlose Ich-Erzähler in Extension du domaine de la lutte ist Informatiker, Bruno und Michel aus Les particules élémentaires sind Lehrer bzw. Molekularbiologe und Michel aus Plateforme Beamter im Kultusministerium. Nur Daniel1 aus La possibilité d´une île kann als erfolgreicher Komiker nicht zu den anderen, der Mittelklasse entstammenden Protagonisten gezählt werden. Doch sie alle sind von Depression und Langeweile geplagte Männer um die vierzig, denen nur wenig Freude im Leben zuteil wird und die alle in einer sinnentleerten, von Konsumverhalten und Markwirtschaft dominierten Warenwelt ihre Existenz zu ertragen versuchen. Sie mögen weder das Leben als solches, noch ihre Arbeit, ihr Umfeld und die Gesellschaft, die sie umgibt. „Je n´aime pas ce monde. […] La société dans laquelle je vis me dégoûte; la publicité m´écœure; l´informatique me fait vomir“ sagt der Protagonist in Extension du domaine de la lutte. (EDL: 82f)
Houellebecq konzentriert sich also auf den absoluten Durchschnittsmenschen mittleren Alters, weil er selbst sich ihm vertraut fühlt, ihn aus eigener Erfahrung kennt, ein besonderes Interesse für ihn empfindet und den er folglich am besten beschreiben kann:
„Les gens que j´ai fréquentés depuis que je suis devenu connu m´ont moins intéressé que les gens moyens. […] De même, je ne me suis jamais passionné pour les marginaux.“[5]
Doch ist sich der Autor seiner Einseitigkeit durchaus bewusst, wenn er sagt: „C´est une insuffisance de ma part: un écrivain idéal, comme Balzac, va partout.“[6] Und trotz aller kritischen Stimmen – seine eigene mit eingeschlossen – schließt er die Darstellung der oberen Schichten als Aufgabe für sein eigenes literarisches Schaffen weitgehend aus. So äußert er im Interview mit Dominique Guiou ausdrücklich seine Bevorzugung für die Menschen des Mittelstandes, die seiner Einschätzung nach gleichermaßen das Ziel und die Aufgabe seiner Literatur bilden sollen, denn seiner eigenen Aussage nach gelingt es ihm „[…] à dire la souffrance de la classe moyenne, [à être] l'écrivain de la souffrance ordinaire.“[7]
Der Mensch im Prosawerk Houellebecqs erscheint als vereinsamtes Wesen, auf der steten Suche nach Liebe, Bestätigung und Zuneigung. Obgleich die Charaktere allesamt Teil eines sozialen Netzwerkes zu sein scheinen und mehr oder weniger häufig auch sexuelle Kontakte zu etablieren vermögen, entpuppen sich soziale Bindungen bei Houellebecq häufig als Farce. Eben diese Absenz des Sozialen, der tiefgründigen, elementaren zwischenmenschlichen Beziehungen stürzt die houellebecqschen Protagonisten immer wieder in tiefe depressive Krisen.
Das platonische Liebesmodell bei Houellebecq zielt immer schon auf eine verlorene Einheit, die der Psychoanalytiker Jacques Lacan 1956 in La rélation d´objet untersuchte. Nach seiner Theorie ist der Mensch, „das begehrende Subjekt“, von Geburt an[8] Träger eines „manque irréductible“, unvollständig und stets danach begehrend, seine Vollständigkeit wiederzuerlangen, seinen Mangel im Subjekt durch Objekte zu kompensieren. Doch letztlich bleibt der Mangel unaufhebbar, das Begehren unstillbar und das „immer schon verloren gegangene“ Objekt unerreichbar, was sich bei Houellebecq darin widerspiegelt, dass Bestrebungen nach zwischenmenschlichen Kontakten entweder von vorneherein unerfüllt bleiben, oder nach ihrer scheinbaren Erfüllung am Ende doch zum Scheitern verurteilt sind.
In allen Romanen des Autors tauchen freundschaftliche Beziehungen nur sehr nebensächlich auf. Keiner seiner Charaktere hat einen besten Freund oder eine beste Freundin, auf die er sich verlassen könnte und dessen Rat er in Krisenzeiten konsultieren würde: „Vous ne vous déplacez jamais sans carte d´identité […]. Pourtant, vous n´avez pas d´amis.“ (EDL: 12) Zwar wird an verschiedenen Stellen der unterschiedlichen Romane vereinzelt auf die Einbindung der Protagonisten in ein soziales Netz außerhalb ihres beruflichen Lebens verwiesen, doch handelt es sich dabei in den meisten Fällen um eine pervertierte, inszenierte und simulierte Geselligkeit. Die Gemeinschaft der „Élohimites“ in La possibilité d´une île beispielsweise basiert keineswegs auf gegenseitiger Sympathie und Fürsorge, sondern ausschließlich auf ideologischen, religiösen und wissenschaftlichen Gedanken und Zielen. So wird der Komiker Daniel1 zwar, insbesondere aufgrund seines prominenten Bekanntheitsgrades in der Gesellschaft, zweifelsohne bereitwillig in die Sekte aufgenommen, doch wird ihm keinerlei wahre freundschaftliche Nähe zuteil. In Plateforme und Les particules élémentaires basieren sämtliche geschilderte Beziehungen entweder auf sexuellem oder rein beruflichem Interesse, wie zwischen den Kollegen Michel, Valérie und Jean-Yves oder Michel Djerzinski und seinem Chef Desplechin. Selbst nachdem in Plateforme die Kollegin Valéries und Jean-Yves, Marylise, vergewaltigt wird, beschränkt sich deren Beihilfe und Unterstützung lediglich auf die Versetzung Marylises in eine andere Abteilung:
„[..] elle est comme paralysée. […] elle est capable d´attendre des heures sans lever le petit doigt. Pour une responsable de la communication, ça ne peut pas aller. […] - Tu ne vas pas la virer? […] non, ça serait trop dégueulasse; mais il va falloir lui trouver un autre poste. […] c´est vraiment une obligation professionelle.“ (PF: 193f)
Freundschaftliche Verpflichtungen jedoch scheint niemand zu sehen und so bleibt ein psychischer Beistand der Kollegen für das Vergewaltigungsopfer aus.
Einziger Roman Houellebecqs, der zumindest in Ansätzen das Vorhandensein einer Männerfreundschaft beschreibt, ist Extension du domaine de la lutte. Die zu Beginn des Romans beschriebene Feier gibt Anlass zur Vermutung, dass der Protagonist Teil eines sozialen Netzes ist, doch lässt die Wortwahl bereits die Oberflächlich- und Bedeutungslosigkeit der simulierten Präsenz des Sozialen erkennen. Der Erzähler spricht von einer „conasse qui a commencé à se déshabiller“ (EDL: 5), die jedoch von keinem der unbeeindruckten Gäste die gewünschte Aufmerksamkeit erhält. Proguidis erkennt 2001 in De l' autre côté du Brouillard: essai sur le roman français contemporain in dieser Szene den Beweis für das Verschwinden und die Absenz sozialer Netzwerke in der beschriebenen Gesellschaft.
Denn wenn der Mensch
„rompt avec l´ordinaire, s´il transgresse les habitudes, s´il se lance dans des manifestations de soi extravagantes […], il le fait toujours à l´adresse d´un autre homme.“[9]
So handelt auch die als „conasse“ bezeichnete junge Frau in der beschriebenen Szene um die Aufmerksamkeit der anderen Party-Gäste auf sich zu lenken, um ein wenig Beachtung zu erhalten. Doch diese zeigen keinerlei Reaktion, weder positiver, noch negativer Natur. Und genau darin liegt für Proguidis das Indiz für den Verlust der Soziabilität: Denn da wo der Mensch dem Ungewöhnlichen und Transgressiven, in diesem Falle dem Striptease, nur noch mit Apathie und Gleichgültigkeit begegnet, ist das Individuum „privé de son environnement vital […], et rien ne garantit plus que son acte 'insolite' puisse retenir l´attention du troupeau“[10], hat die Gesellschaft aufgehört zu existieren. Die Charaktere Houellebecqs sind sich der nur simulierten Befriedigung ihres Mangels, des „Simulakrum des Sozialen“, vollkommen bewusst, lehnen es ab und stehen somit der restlichen Gesellschaft in ihrer affektierten Geselligkeit zynisch und ironisch gegenüber, was durch eine gewisse Unvereinbarkeit zwischen den Protagonisten und der sie umgebenden Welt evoziert wird.[11] So heißt es treffend in Extension du domaine de la lutte:
„Si Maupassant est devenu fou c´est qu´il avait une conscience aiguë de la matière, du néant et de la mort – et qu´il n´avait conscience de rien d´autre. Semblable en cela à nos contemporains, il établissait une séparation absolue entre son existence individuelle et le reste du monde. C´est la seule manière dont nous puissions penser le monde aujourd´hui.“ (EDL: 147)
Doch behandelt der Roman nicht nur oberflächliche Partys, sondern schildert auch, als einziger im Prosawerk Houellebecqs, ein tiefgründigeres freundschaftliches Verhältnis, nämlich das zwischen dem Ich-Erzähler und dem Priester Jean-Pierre Buvet. Die beiden Männer verabreden sich nach langer Zeit zum gemeinsamen Essen in einem Restaurant. Die Auswahl des Ortes erscheint bereits signifikant. Denn es ist kein wahllos selektierter Ort, sondern ein Ort des Genusses, des längeren Verweilens und der gegenseitigen Aufmerksamkeit. Die Besonderheit des Treffens äußert der Erzähler direkt zu Beginn des Kapitels: „Ce samedi, entre vingt et vingt-trois heures, un moment social a lieu.“ (EDL: 31) Das Zitat verdeutlicht, dass das Folgende eine absolute Ausnahme im Leben des Protagonisten darstellen wird, der generell eher keine bedeutsamen „moments sociaux“ in seinem Alltag zu verzeichnen hat und der zudem mit seiner Aussage auch seine analytische Sichtweise auf die Gesellschaft unterstreicht, die selbst vor seinem eigenen Leben nicht halt macht und dieses quasi soziologisch durchleuchtet. Am Ende des Romans kommt es zu einem erneuten Treffen der beiden Freunde, was als ausgesprochene Einzigartigkeit bei Houellebecq gesehen werden kann. Denn die zu Anfang des Kapitels angesprochene Absenz bester Freundschaft, die auch in Notzeiten aufgesucht wird und Kraft, Rat und Hilfe bieten kann, wird durch diese Männerfreundschaft aufgehoben. Zwischen den beiden Romanfiguren besteht ein für Houellebecqs Texte ungewöhnliches wechselseitiges Vertrauensverhältnis, obwohl die beiden so unterschiedliche Lebensentwürfe verfolgen. Beide suchen in einer Notsituation den anderen auf, erhoffen sich tröstende, erhellende Worte. Und dennoch bleibt zu sagen, dass auch diese Freundschaft letztlich scheitert und die beiden einander aus den Augen verlieren, da der eine dem anderen nicht zu helfen vermag:[12] „Au moment où je franchis le seuil, il me dit: 'Au revoir…' Je n´y crois pas du tout; j´ai nettement l´impression qu´on ne se reverra jamais.“ (EDL: 140) Daran wird die Unerfüllbarkeit des menschlichen Strebens nach platonischer Liebe im Sinne Lacans deutlich, da das durch die Trennung der Mutter von Geburt an immer schon verlustig gegangene Objekt niemals erreicht werden kann. Selbst wenn das Begehren danach zwischenzeitlich gestillt zu sein scheint, muss der Mensch irgendwann stets in seinen Urzustand des permanenten Mangelempfindens zurückfallen.
Gleiches gilt für die durch sexuelles Begehren dominierten Beziehungen der houellebecqschen Charaktere, die alle seit jeher gespalten sind zwischen ersehnter und irreduktibel verlorener Ganzheit, deren Leben dominiert ist vom Mangel und von körperlicher Insuffizienz, wie die Psychoanalyse Lacans sie beschreibt. Diese verbindet den Terminus Mangel immer mit dem des Begehrens, da gerade die Erfahrung des Mangels die unersättliche Kraft des Begehrens – der Antriebsenergie – kontinuierlich das Handeln, Denken und Wünschen des Subjektes vorantreibt. Lacan spricht dabei stets von einem unbewussten und ausschließlich sexuellen Begehren. Im Gegensatz zu anderen psychoanalytischen Theorien seiner Zeit differenziert Lacan vehement zwischen Begehren, Anspruch und Bedürfnis. Das Bedürfnis ist rein biologischer Natur, ein Instinkt und ein Verlangen, das, sobald es einmal befriedigt wurde, wieder abflaut. Der Anspruch übernimmt eine doppelte Funktion, da er sowohl Artikulation des Bedürfnisses als auch Anspruch auf Liebe ist. Während der Andere die zur Bedürfnisbefriedigung notwendigen Objekte bereitstellen kann, kann er die Sehnsucht nach absoluter Liebe nicht erfüllen, an der es dem Subjekt mangelt und nach der es unaufhaltsam strebt und sucht. Genau dieser verbleibende Rest, die Differenz, die bleibt, ist das, was Lacan als Begehren definiert.[13] So kann dieses, anders als das Bedürfnis, niemals befriedigt werden. Es umkreist das ersehnte Objekt, lässt ihm Bedeutung zuteil werden und den Mangel genau dort neu entfachen, wo er soeben überwunden zu sein schien. Das Begehren kann also von Natur aus niemals gestillt werden, sondern entsteht ganz im Gegenteil stets aufs Neue und intensiviert sich. (vgl. Lacan [1956-1957]: 11-77) Ursache des Begehrens in der Lehre Lacans ist das so genannte objet petit a, welches Grund und Ursprung jeden Begehrens und die Beziehung zu einem entstandenen Mangel ist. Im Gegensatz dazu steht das Objekt des Begehrens, das einzig das begehrte Objekt an sich repräsentiert.[14] Insbesondere in La signification du phallus behandelt Lacan, anknüpfend an die Triebtheorie Sigmund Freuds, die Frage nach dem Verhältnis zwischen unstillbarem Begehren und Subjekt in Bezug auf jedwedes Sexuelle, wie Verführung, Penisneid, Inzest oder Vatermord.[15] Die Lacansche Darstellung des symbolisch gedachten Phallus ist dabei jedoch in keinster Weise mit dem Freudschen Penis gleichzusetzen[16], denn seine Eigentümlichkeit besteht genau darin, dass man ihn, gegenläufig der Theorie Freuds, eben nicht hat, ihn auf gewisse Art und Weise jedoch verliehen bekommen kann. So besteht für das weibliche Geschlecht die Möglichkeit, ihn sich im Geschlechtsakt durch das männliche Organ direkt einverleiben zu lassen oder ihn auf dem indirekten Wege durch die Geburt eines Kindes zu erlangen, das sich durch den Kanal der Vagina in entgegen gesetzter Richtung bewegt. Daraus wird ersichtlich, dass sich bei Lacan beide Geschlechter auf das Primat des Phallus beziehen und beide dem Kastrationskomplex[17] unterliegen. Sowohl die Frau, als auch der Mann können zum Phallus werden oder ihn verliehen bekommen. Keiner von beiden kann ihn jedoch je ganz für sich zu besitzen, da er sich nach Abschluss jedes geglaubten Innehabens (wie beim Geschlechtsakt oder bei der Geburt) wieder entzieht. So oszilliert er zwischen ständiger Prä- und Absenz, steht als Signifikant für Begehren und Genießen und simultan für dessen Unerfüllbarkeit. Er manifestiert einen steten Zwiespalt zwischen Mangel und Erfüllung im Menschen, der dessen Leben maßgeblich leitet und dominiert. (vgl. Lacan [1958]: 685–695)
Im Werk Houellebecqs kann dieses Denken besonders in Hinblick auf das sexuelle Streben seiner Charaktere übertragen werden, die auf der ständigen Jagd nach Erfüllung und Lust kein Glück im Leben mehr zu finden vermögen. Die einzige Glücksverheißung der in seinen Romanen behandelten spätkapitalistischen Welt ist die Sexualität. Diese wird, wie alles andere, den Gesetzen des Marktes unterworfen, steht im Zentrum und dient dem Bestehen in der „guerre des ego.“[18] Houellebecq geht in Lovecraft gar soweit zu sagen, dass „La valeur d´un être humain se mesure aujourd´hui par son efficacité économique et son potentiel érotique.“ (Lovecraft: 144) Die Schönen, Reichen und Jungen leben in einer Welt vieler sich darbietenden Möglichkeiten zur Verwirklichung ihrer erotischen Fantasien, während die Alten und Hässlichen zu einem Leben in Einsamkeit und Masturbation mit schier unmöglichen Sex-Chancen verdammt sind: „En système sexuel parfaitement libéral, certains ont une vie érotique variée et excitante; d´autres sont réduits à la masturbation et la solitude.“ (EDL: 100) Letzteres ist bei einem Großteil der Protagonisten Houellebecqs der Fall, die sich in einem Zustand des permanenten Mangels befinden. Der verzweifelte Tisserand in Extension du domaine de la lutte beispielsweise, oder zeitweise Jean-Yves in Plateforme führen ein frustriertes Leben ohne sexuelle Kontakte, während andere, wie Bruno in Les particules élémentaires, oder Daniel1 aus La possibilité d´une île ihre Sexualität bei jeder sich ihnen eröffnenden Möglichkeit in allen Zügen auszuleben versuchen. Letzten Endes jedoch bleibt das Glück ihnen allen verwehrt, sind sie alle von dem von Lacan beschriebenen „manque de l´objet“ besessen, auf der dauernden Suche nach libidinöser Erfüllung, die oft unbefriedigt bleiben muss. Dabei ist der Verlust des „objet petit a“ Grund des Begehrens und fungiert als Antrieb und Auslöser der Handlungen des Subjekts. Denn nach Lacan handelt es sich dabei stets um ein unwiederbringlich verlustig gegangenes Objekt, das nicht nur das Begehren ködert, sondern es vor allem wach und lebendig hält. So zieht Lacans These eines dauerhaften Unbefriedigtseins, einer niemals zu schließenden Kluft sich wie ein roter Faden durch das Prosawerk Houellebecqs. Er unterscheidet zwischen Begehren und Trieb, die für ihn keineswegs identisch sind. Während dem permanenten, unbefriedigten Begehren stets etwas zu seiner Erfüllung fehlt, wird der Trieb als partielle Realisierung des Begehrens definiert. Ein Phänomen, das in allen Romanen Houellebecqs wieder zu finden ist, da die Charaktere des Autors die Aufhebung ihres permanenten Mangelzustandes und den Phallus durch gelegentliche sexuelle Erfolge zwar kurzzeitig zu erreichen scheinen, dies langfristig jedoch niemals erzielen. In Extension du domaine de la lutte hat keiner der Protagonisten jemals Sex, in Houellebecqs anderen Romanen zwar schon, doch nimmt auch ihre Sexualität kein positives Ende. Hinzu kommt, dass hinter der oft obsessiven Jagd nach sexueller Befriedigung – Auslöser und Antrieb ist wieder l´objet petit a – häufig eine viel tiefgründigere Suche nach menschlicher Wärme, Vertrautheit und Liebe im „idealen Sinne des Wortes“ steckt, die noch viel seltener auf Dauer erfüllt werden kann.[19] Der Mangel also bleibt nicht aufhebbar und das Objekt unerreichbar. In Les particules élémentaires scheinen Bruno und Michel das Glück zeitweise gefunden zu haben, ebenso wie Daniel1 in La possibilité d´une île oder auch Michel in Plateforme, doch werden sie alle die geliebte Person früher oder später wieder verlieren und damit in den Ursprungszustand des Mangels und des unstillbaren Begehrens zurückfallen: „Valérie me manque. […] l´absence d´[elle] ne m´a jamais autant fait souffrir. […] je réussis à bander, et même à éjaculer; mais je n´ai plus jamais connu le plaisir.“ (PF: 347) Der Trieb des Protagonisten kann demnach zwar noch teilweise befriedigt, sein eigentliches Begehren jedoch nie wieder erfüllt werden. In der seit Beginn der 60er-Jahre vehement durch den steten Anstieg der „consommation érotique“ (PE: 48) geprägten affektlosen Konsumgesellschaft, intensiviert sich der immer schon vorhandene Zustand des Mangels des Subjekt ins Grenzenlose, wodurch der obsessionelle Sexualtrieb und das grenzenlose Begehren der Figuren erklärt werden kann, die darin die einzige Chance einer authentischen Glückserfahrung sehen.[20] So gehen Sexualität und Glückseligkeit miteinander konform, was mit der Argumentation Jourdes zu verknüpfen ist, die besagt, dass Sex weniger als Lust und Leidenschaft sondern vielmehr als Mittel zu Anerkennung und Respekt sowohl des Anderen, als auch von sich selbst betrachtet wird. Außerdem hat die Sexualität großen Anteil an Selbstwertgefühl, -vertrauen und damit einhergehend dem eigenen Glücks- und Zufriedenheitsempfinden des Einzelnen.[21] Dabei orientiert sich die Vorstellung von Sexualität insbesondere an den aus Pornographie- und Werbebranche bekannten Vorgaben und Modellen, denen ein jeder permanent und unaufhörlich gerecht zu werden versucht.
Da der Darstellung und dem Stellenwert der Sexualität im Werk Houellebecqs eine enorme Bedeutung zuteil wird und sie zu den zentralen Themen seiner Romane gezählt werden kann und muss, wird der Leser sehr häufig mit jeglicher Art von Sexualität, den abstrusen Praktiken, mit Homo- und Heterosexualität, mit Swinger-Clubs und Prostitution, Selbstbefriedigung, SM und Massage-Salons, also mit allen erdenklichen Bereichen des erotischen Lebens konfrontiert. Kippur spricht dabei von einem
„voyeurisme total, où l´œil du lecteur est encouragé à errer partout sans risque de transgression – à être témoin des scènes d´orgies sexuelles dans tous ses détails, de fantaisies érotiques inassouvies […] et de films […] dans lesquels des corps sont démembrés pendant qu´un spectateur se masturbe en extase“.[22]
Denn nichts bleibt dem Leser verborgen, bis ins kleinste Detail werden die Szenen präzise und genau erläutert, wodurch eine Omnipräsenz erotischer und oft schon pornographischen[23] Bilder in Houellebecqs Texten hervorgerufen wird. Dieses Phänomen der Fokussierung auf Sexualität und Pornographie geht einher mit der konsequent nihilistischen, die Gesellschaft und die moderne Welt ablehnende Ideologie des Autors. Denn „une société est fondée sur les relations sociales qu´entretiennent ses membres“[24], wie Clément in Houellebecq, Sperme et sang schreibt. In der von Houellebecq geschilderten stillstehenden, deprimierten und asozialisierten Individual-Gesellschaft hat sich niemand mehr etwas zu sagen und soziale Kontakte sind nahezu verschwunden. So liegt es nahe, eigentlich nicht Sexuelles zu Sexuellem zu erheben und ihm eine erhöhte Beachtung zu schenken, da dem Menschen außer seiner Sexualität kaum etwas geblieben ist, wie auch Daniel1 konstatiert:
„Le plaisir sexuel n´était pas seulement supérieur, […], à tous les autres plaisirs que pouvait comporter la vie; il n´était pas seulement l´unique plaisir qui ne s´accompagne d´aucun dommage pour l´organisme, mais qui contribue au contraire à le maintenir à son plus haut niveau de vitalité et de force; il était l´unique plaisir, l´unique objectif en vérité de l´existence humaine […].“ (PI: 383)
Im Widerspruch dazu tauchen immer wieder emotionale, gefühlsbetonte Äußerungen wie „en l´absence de l´amour, rien ne peut être sanctifié“ (PF: 115) auf, die auf die Sehnsucht nach wahrer Emotionalität verweisen. So stehen den pornographischen Darstellungen sexueller, auf reine Körperlichkeit reduzierter Kontakte vereinzelte emotionale Bezeugungen gegenüber, die auf das Bedürfnis nach wahrhaftiger Liebe hindeuten. Deren Verwirklichung findet in den Romanen Houellebecqs allerdings nur selten Einkehr.
Lust am Sex und Triebbefriedigung einerseits, ebenso wie Sexfrust und verhinderte Triebbefriedigung andererseits dominieren also wie nichts anderes die menschliche Existenz, die komplett auf ihre sexuelle Aktivität reduziert wird. Diese „provocation anthropologique“ erinnert Sandrine Rabosseau an den Romancier Zola, der ebenso wie Houellebecq auf brisante Themen des Sozialverhaltens seiner Zeit – wie Arbeit, Geld, Sex und Familie – eingegangen ist und die maßlose Triebhaftigkeit seiner Zeitgenossen, insbesondere in seinem Kokottenroman Nana, zur Sprache gebracht hat.[25] Beide Autoren degradieren den Wert der Frau auf ihre körperliche Attraktivität und ihr erotisches Potential, erachten ihren Körper allein als Lust- und Liebesobjekt zur Erfüllung der sexuellen Fantasien des männlichen Geschlechts: „Commes toutes les très jolies jeunes filles elle n´était au fond bonne qu´à baiser, et il aurait été stupide de l´employer à autre chose.“ (PI: 215) So kann die Frau nur geliebt und begehrt werden, wenn sie jung, schön und voller Laszivität ist: „Sans beauté, la jeune fille est malheureuse, car elle perd toute chance d´être aimée.“ (PE: 57) Innere Werte, Charakterstärke und Persönlichkeit hingegen spielen eine schier verschwindende Rolle. Pröll weist diesbezüglich auf die Bedeutung der Werbung hin[26], die, wie Houellebecq in Interventions einräumt, „vise à susciter, à provoquer, à être [kursiv im Text] le désir“ und die den Menschen tagtäglich belehrt: „Tu dois désirer. Tu dois être désirable. Tu dois participer à la compétition, à la lutte, à la vie du monde. Si tu t´arrêtes, tu n´existes plus.“ (INT: 76) So wird auch die Sexualität den Gesetzen des kapitalistischen Marktes, der „société érotico-publicitaire“[27], unterworfen, wie in Extension du domaine de la lutte unmissverständlich erläutert wird, und der Körper als Kapital, das es bestmöglich zu investieren gilt, präsentiert. Andernfalls scheint das vor allem weibliche Individuum keine Daseinsberechtigung und keinen Lebenssinn auf Erden zu haben. Auch hier kann angeknüpft werden an die Psychoanalyse Lacans. Indem insbesondere die Frau sich zurecht macht, um ihre Schönheit bestmöglich zutage zu bringen, um erotisch und begehrenswert zu wirken, macht sie sich selbst zum Signifikanten des Begehrens, um so der Phallus zu werden, an dem es ihr mangelt. Ihr Begehren ist wesentlich das Begehren danach, Objekt des Begehrens des Anderen zu sein. Das lässt die erste Phase des Ödipuskomplexes erkennen, in der sich das kindliche Subjekt danach sehnt der Phallus für die Mutter sein zu können. Doch zeigen die Romane Houellebecqs häufig die Kehrseite der Medaille auf, denn zahlreiche Figuren des Autors leiden unter genau diesem körperlichen Kapitalismus, da weder sie selbst den von pornographischer Film- und Werbeindustrie vorgegebenen Idealen im realen Leben entsprechen, noch die ersehnte Befriedigung von ihren Sexualpartnern erfahren können. Diese Erkenntnis äußert auch Michel in Plateforme gegenüber seiner Freundin Valérie:
„Ils ont beau s´acharner, ils ne parviennent plus à ressentir le sexe comme naturel. [kursiv im Text] Non seulement ils ont honte de leur propre corps, qui n´est pas à la hauteur des standards du porno, mais, pour les mêmes raisons, ils n´éprouvent plus aucune attirance pour le corps de l´autre.“ (PF: 236)
In genau diesem Punkt sieht er den Verlust der Sexualität und die erotische Misere der westlichen Welt verankert, die gekennzeichnet ist durch den sexuell frustrierten, masturbierenden Mann, der seine Befriedigung nur in Peep-Shows und Sex-Kinos finden zu können scheint. Ob in Extension du domaine de la lutte, Les particules élémentaires, Plateforme oder La possibilité d´une île, alle Romane Houellebecqs behandeln mehr oder weniger häufig und intensiv das Thema der Masturbation. Diese wird jedoch keineswegs mit einer positiv erregenden Funktion besetzt, noch erscheint sie als Quelle wirklicher Befriedigung. Vielmehr resultiert daraus „une exacerbation [de la] souffrance“ (PE:154) wie im Falle Brunos in Les particules élémentaires, der sich letztlich in psychiatrische Behandlung begeben muss, oder Tisserands in Extension du domaine de la lutte, der nach einem seiner zahlreichen Misserfolge in Liebesdingen der Frau seines Begehrens beim Sexualakt mit einem anderen zusehend masturbiert und wenige Stunden später bei einem Verkehrsunfall tödlich verletzt wird. Der Ich-Erzähler jedoch vermutet Selbstmord. Den Ausweg aus dieser Misere und somit die Zuspitzung bzw. die Ausreifung und der Höhepunkt der These des verdinglichten und vermarkteten Körpers liefert ohne Frage der in Plateforme artikulierte Vorschlag eines weltweiten Sexualmarktes und eines geförderten Sextourismus. Die Prostitution thailändischer Frauen wird hier als „situation d´échange idéale“ (PF: 234) für die sexuell erschöpfte westliche Welt angesehen und der Wert der Thailänderin anhand ihrer sexuellen Anziehungskraft bemessen. Die Beschreibung kultureller Eigenschaften des Landes und seiner Einwohner findet, abgesehen von der Erwähnung einiger typischer Touristenziele ebenso wenig Raum wie die der thailändischen Flora und Fauna oder sonstiger landestypischer Gegebenheiten. So lässt sich die thailändische Realität einzig in dem Sujet des Sextourismus, der verführerischen Thai-Frau und den diversen Ausflügen in die verschiedenartigsten Bordelle wieder finden. Folglich kann auch in diesem Fall erneut eine starke Verdinglichung und Vermarktung des weiblichen Körpers festgestellt werden, was das folgende Zitat des Protagonisten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen vermag:
„Moi-même, je ne voyais aucune objection à ce que la sexualité rentre dans le domaine de l´économie de marché. […] On pouvait obtenir de l´argent par son intelligence, son talent, par sa force ou son courage ou même sa beauté.“ (PF: 286)
Prostitution wird legitimiert, der Verkauf des eigenen Körpers der Menschen „qui n´ont plus rien à vendre que leur corps, et leur sexualité intacte“ (PF: 234) als rechtens und moralisch bedenkenlos präsentiert und ihre Ausbeutung durch den Westen mit ihrer intakten Sexualität gerechtfertigt.[28]
So beschreibt Houellebecq auf dem Gebiet der Sexualität wesentliche Parameter der Markt- und Konsumgesellschaft, wie das Wettbewerbs- und Konkurrenzprinzip oder das Tauschprinzip Sex gegen Geld. Ferner beleuchtet er die Konsequenzen: vielfältige Remodellierung der Wettbewerber, Pauperisierung der körperlich Schwächeren, den Verlust romantischer Gefühlsregungen, Verfall moralischer Werte wie Treue und Fürsorge, Narzissmus, Individualismus und Egoismus, Warencharakter der Sexualität sowie die totale Sexualisierung des Daseins.[29]
Die Verdinglichung des Körpers, die starke Fokussierung auf Äußerlichkeiten und die Reduzierung eines Menschen auf seine optischen Reize führt zu der Problematik des Alters im Gesellschaftsbild Houellebecqs. Der Autor versteht es, dem Leser den durch den Alterungsprozess bedingten Verfall des menschlichen Körpers auf radikale, schonungslose Weise ins Bewusstsein zu rufen und altersbedingten Makel als abstoßend und unästhetisch darzustellen. So beschreibt Daniel1 beispielsweise seine 40-jährige Frau Isabelle schon kurz nach ihrer Hochzeit wie folgt:
„[…] son corps […] commençait à subir les premières atteintes de l´âge – atteintes qui, elle ne le savait que trop bien, allaient rapidement s´amplifier jusqu´à la dégradation totale.“ (PI: 52)
Auch Bruno bezeichnet den Körper seiner Frau als „tout un chantier.“ (PE: 181) Physische Deformation sowie das stark pejorativ besetzte Adjektiv „vieux“ werden zum Synonym für psychische Leiden, Phobien und Depression, für Hass und Todessehnsucht, sprich für die Zerstörung der Seele. In all seinen Romanen impliziert das Alter den Verfall der Attraktivität einer Person, ihrer Laszivität und ihres erotischen und somit individuellen Wertes. Durchweg wird der Alterungsprozess als negativ und das Alter selbst als despektierlich und unannehmlich standardisiert. Positive Aspekte fortgeschrittener Lebensabschnitte werden ausgeblendet. Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Mensch bei Houellebecq sich überwiegend durch seine Libido, seine Potenz und physische Schönheit auszuzeichnen vermag. „Des critères de séduction intellectuels et moraux“ (PE: 244) müssen in einer rein auf Sex fixierten Welt den physischen Kriterien also weichen. Der älter werdende Mensch, wie zum Beispiel Bruno, wird zunehmend aus der Gesellschaft des Konsums ausgeschlossen, bevor er durch seinen Tod endgültig aus eben dieser verbannt wird:
„Bruno se regarde dans le miroir gris de notre époque, et n´y voit qu´un corps peu adapté, vieillissant de surcroît, tare absolue car le jeunisme […] relègue dans le néant de l´inconsommable les chauves et les ventripotents, les seins flétris, les sexes mous […]. Par conséquent: Les vieux.“[30]
Während Houellebecq in Bezug auf die Vermarktung des Körpers das Augenmerk fast ausschließlich auf das weibliche Geschlecht richtet, bezieht er den Körper des Mannes in seinen Diskurs über das Altern stark mit ein, legt gar den Schwerpunkt darauf, ohne dass der physische Verfall der Frau jedoch vernachlässigt würde.[31] Eine vielfach behandelte Thematik ist hierbei die schwindende Potenzkraft des Mannes, von der ein Großteil der houellebeqschen Charaktere radikal heimgesucht wird. Der Phallus im Sinne Lacans verliert seine Signifikanz und wird mehr und mehr zum neutralen, nur zufällig mit dem Körper des Mannes verbundenen Etwas. Vielmehr wird er zu einer rein theoretischen Erfindung zur Geschlechterdifferenzierung ohne jedwedes Zeichen von Potenz und Männlichkeit. Diese These geht einher mit der Kastrationsangst und ferner mit der Theorie des „corps morcelé“[32] nach Lacan. Denn der alternde und sexuell verzweifelte Mann hat Angst vor seiner eigenen Libido, da diese allzu oft unbefriedigt bleiben muss, er keine „Verwendung“ für sie hat und all seine Geschlechtlichkeit damit hinfällig wird. So findet ein regelrechter Wandel von sexueller Erregung zu enormen Angstzuständen statt. Die Ursache der psychischen Leiden der houellebecqschen Protagonisten ist somit sexueller Natur. Diese Angst spiegelt sich in zahlreichen imaginierten Kastrationsszenarien der Romane wider. Der in Abstinenz lebende Michel aus Les particules élémentaires hat sich durch seinen extremen sexuellen Misserfolg nahezu selbst kastriert, denn „sa bite ne lui servait plus qu´à pisser“ (PE: 21) und sein Halbbruder Bruno verzweifelt an dem einer Kastration gleichenden Verfall seines Penis: „Il avait l´impression d´avoir entre les jambes un bout de viande suintant et putréfié, dévoré par les vers“ (PE: 154), während der Erzähler aus Extension du domaine de la lutte gar das Verlangen verspürt, sein Geschlecht gänzlich von seinem Körper abzutrennen: „[…] je suis en érection. Il y a des ciseaux sur la table près de mon lit. L´idée s´impose: trancher mon sexe.“ (EDL: 143) Kastration und Emaskulation[33] figurieren demnach die aus sexueller Unbefriedigtheit hervorgehende Frustration, ebenso wie deren Erlösung, von der vor allem die alternden und libidinös ermüdenden, männlichen Charaktere Houellebecqs betroffen sind.[34] Deutlich wird die These des Alterns als abstoßender, durchweg negativer Prozess also bereits in den ersten Romanen des Schriftstellers, doch bekommt die Thematik vor allem in La possibilité d´une île einen besonders großen Stellenwert. Denn das Alter muss hier als Ursache der menschlichen Misere herhalten, die letztlich zu einem aus Angst vor dem Alter(n) hervorgerufenen, nahezu kollektiven Freitodverhalten der alten Spezies führt. Die Sekte der „Élohimites“ nutzt diese Ängste zu Propagandazwecken und ermöglicht ihren Mitgliedern eine Art Unsterblichkeit, indem sie ihre DNA speichert und nach dem Tod zur Schaffung eines identischen, aber jungen erwachsenen Klonmenschen wieder verwendet:[35]
„Pourquoi ne pas fabriquer directement un être humain adulte à partir […] du schéma fourni par l´ADN? […] Les hommes du futur naîtront directement dans un corps […] de dix-huit ans.“ (PI: 236)
Insbesondere die aus dieser Entwicklung hervorgehenden Klone Daniel24 und Daniel25 ziehen immer wieder Rückschlüsse auf die Degradation des Alters durch die ihnen vorangegangene Spezies, welche die mit dem Altern einhergehenden körperlichen Veränderungen nicht länger ertragen konnte. Depression, Vereinsamung und eine stetig steigende Anzahl an Suiziden der 50 bis 60-Jährigen waren die Folge. Ihren Ursprung fand diese Entwicklung Daniel24 zufolge in der Zeit unserer heutigen Gesellschaft, als der Suizid älterer Menschen zwar noch wenig verbreitet, der durch das Alter gebrandmarkte Körper jedoch bereits „l´objet d´un dégoût unanime“ war und „les vieillards comme de purs déchets“ behandelt wurden. (PI: 90) Auch der Protagonist Daniel1 sieht sich dieser Problematik immer wieder gegenübergestellt und verdeutlicht an mehreren Stellen sein persönliches Unvermögen, sein Alter zu akzeptieren und im Vergleich mit der jüngeren Generation die Achtung vor seiner selbst nicht zu verlieren. Dies zeigt das folgende Beispiel, in dem Daniel sich inmitten des Freundeskreises seiner Freundin Esther befindet, der sich über Präferenzen bezüglich verschiedenster Clubs und Musikrichtungen austauscht:
„Je connaissais maintenant la plupart d´entre eux; […] tous était, évidemment, jeunes […]. Depuis dix minutes j´avais horriblement envie de leur dire que je voulais, moi aussi, entrer dans ce monde, m´amuser avec eux, aller jusqu´au bout de la nuit, j´était prêt à les implorer de m´emmener. Puis, […], j´aperçus mon visage se reflétant dans une glace[36], et je compris. J´avais la quarantaine bien sonnée; mon visage était […] marqué par l´expérience de la vie, les responsabilités, les chagrins; je n´avais pas le moins du monde le tête de quelqu´un avec qui on aurait pu envisager de s´amuser; j´étais condamné. (alle kursiv im Text)“ (PI: 309f)
So steht das Alter im starken Gegensatz zur Jugend, die als Idealzustand des menschlichen Seins gesehen wird, den der Mensch im Alter niemals erlangen kann und somit verdammt ist. – Verdammt zu Unattraktivität, schwindender libidinöser Aktivität, Einsamkeit und Ausschluss aus der Gesellschaft: „Dans le monde moderne on pouvait être échangiste, bi, trans, zoophile, SM, mais il était interdit d´être vieux [kursiv im Text].“ (PI: 209) Es gibt, wie Annabelle in Les particules élémentaires betont, „une époque de la vie où l´on sort et où l´on s´amuse; ensuite apparaît l´image de la mort“ (PE: 234). Es gibt also Jugend und Tod, doch nichts dazwischen. Dieser Verfall des Einzelnen, seine Selbstauslöschung, sein Sterben und seine Abschaffung gehen ferner streng genommen einher mit dem Verfall und dem Sterben der kompletten Weltgesellschaft. Denn der Niedergang des Einzelnen führt in La possibilité d´une île, gleichermaßen wie in Les particules élémentaires, nach und nach zum Verschwinden und Ablösen der gesamten Menschheit durch eine neohumane Rasse, unter anderem verursacht durch das Unvermögen, positive Aspekte des Alters zu erkennen. So bringt das folgende Zitat die nach Houellebecq zwingenden Konsequenzen des Älterwerdens, des Verlustes körperlicher Liebe und des Verfallens in Depression und Einsamkeit auf den Punkt: „Quand l´amour physique disparaît, tout disparaît.“ (PI: 72) Der (alte) Mensch, im doppelten Sinne des Wortes, verschwindet.
[...]
[1] Bei dieser Aufzählung handelt es sich nur um einen Teil seines Werkes, das noch weitere Gedichte, Essays u.ä. umfasst.
[2] vgl. Schlette: 14.
[3] vgl. Pröll: 14f.
[4] ebd.: 16.
[5] Sénécal 2001.
[6] ebd.
[7] Guiou: 27.
[8] Lacan sieht den Ursprung dieses Mangels im Austritt des Kindes aus der Bedürfnisbefriedigung in der Mutter-Kind-Beziehung, der einerseits durch die Beendigung des embryonalen Daseins im Mutterleib und andererseits zu späterem Zeitpunkt durch die Trennung des Kindes von der Mutter(brust) hervorgerufen wird. So ist die erste Person, die den Platz des „Anderen“ einnimmt, die Mutter. Ihrem Begehren sieht das Kind sich ausgeliefert und erst wenn der Vater ins Spiel kommt, das Begehren mit dem Gesetz verbindet und die Mutter kastriert, wird das Subjekt vom Begehren der Mutter getrennt.
[9] Proguidis: 68.
[10] ebd.: 70.
[11] vgl. Erman: 166.
[12] vgl. Pröll: 301ff.
[13] vgl. Evans: 53ff.
[14] vgl. Žižek: 93.
[15] Dies sind allesamt Thematiken, die in der Psychoanalyse gemeinhin unter dem Begriff des Ödipuskomplexes zusammengefasst werden.
[16] Aus diesem Grunde zieht Lacan der Terminus „Phallus“ dem Terminus „Penis“ vor, um unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass eben nicht das männliche Genital in seiner biologischen Wirklichkeit gemeint ist, sondern vielmehr seine imaginären und symbolischen Funktionen. (vgl. Evans: 223f).
[17] Freud beschreibt den Kastrationskomplex erstmals 1908 und vertritt die These, dass ein Kind, das den Geschlechterunterschied zu erkennen beginnt, die Absenz des Penis bei Mädchen und Frau als abgeschnittenen, kastrierten Penis interpretiert. Als Konsequenz daraus fürchtet der Junge die Kastration durch den Vater, während das Mädchen sich als bereits durch die Mutter kastriert erachtet und durch den Wunsch nach einem Kind diesen Mangel zu kompensieren versucht. (vgl.Evans: „Kastrationskomplex“)
[18] Jourde (2002): 225.
[19] vgl. Wellershoff/Traub: 96.
[20] vgl. Leopold: 2.
[21] vgl. Jourde: 225.
[22] Kippur: 253.
[23] An späterer Stelle der Arbeit werden die Begriffe Erotik und Pornographie noch näher behandelt und die Frage zu klären sein, ob Houellebecqs Texte eher der erotischen oder pornographischen Literatur beizupflichten sind. (s. Kapitel II. 4.1)
[24] Clément (2003): 77.
[25] vgl. Rabosseau: 44.
[26] vgl. Pröll: 324.
[27] ebd: 324.
[28] vgl. Clément (2003): 168.
[29] vgl. Mihm: 259.
[30] Tillinac: 41.
[31] vgl. Mihm: 89.
[32] Die Begrifflichkeit entwickelt Lacan ursprünglich für den Zustand eines Kleinkindes im Spiegelstadium.
[33] Ebenso kann die Tatsache, dass die von Houellebecq illustrierte utopische Realität insbesondere in den Particules als eine rein weibliche Welt ausgemalt wird („DEMAIN SERA FEMININ.“) mithilfe der Psychoanalyse gelesen werden Die bessere, neue Welt soll asexuell, ohne sexuelle Leiden konstruiert sein und könnte somit als die Erlösung der menschlichen Nöte durch eine globale Kastration aller Individuen interpretiert werden.
[34] vgl. van Wesemael (2004): 177.
[35] Die Struktur des Romans basiert auf den abwechselnden Erzählungen des Ursprungsmenschen Daniel1 und denen seiner Nachfolger Daniel24 und Daniel25. Diese Technik erlaubt es Houellebecq, von zweierlei Standpunkten aus unsere heutige Gesellschaft zu beleuchten: einerseits aus der Sicht des modernen, zeitgenössischen Menschen und andererseits aus der Sicht der néo-humains, die retrospektiv auf die Zeit ihrer Vorgänger zurückblicken.
[36] Auch an dieser Stelle kann Lacans Begrifflichkeit des „corps morcelé“ angewendet werden. Wie ursprünglich das Kleinkind, das sich im Spiegel betrachtet, tut es nun Daniel und muss sich über die Deformation, die „Verstümmelung“ seines alternden Körpers bewusst werden, der von denen der jungen Menschen um ihn herum so sehr divergiert.
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