Bernhard Schröder
Identität im historischen Wandel aus machttheoretischer Perspektive
ISBN: 978-3-8366-4159-3
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Universität Paderborn, Paderborn, Deutschland, Diplomarbeit, 2009
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2010
III
Inhaltverzeichnis
1. Einleitung
1
2. Vorgehen
6
3. Identitätsgenese
8
4. Geschichte der Identität
12
4.1 Vormoderne
13
4.2 Moderne
15
4.2.1 Die imprägnierende Kraft der rationalen Vernunft
17
4.3 Postmoderne
20
5. Die Bedeutung der Macht
23
5.1 Der Machttyp der Moderne
26
5.2 Mechanismen der Macht: Von der Fremd- zur Selbstkontrolle
29
5.3 Panoptismus
32
6. Von der ,,innen-geleiteten" Disziplinar-zur,,außen-geleiteten" Kontrollgesellschaft
36
7. Psychoanalytische Erkenntnisse über den Antrieb menschlichen Handelns
43
7.1 Sigmund Freud- Der psychische Apparat
43
7.2 Jacques Lacan - Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion
49
7.3 Objekt klein a
51
7.4 Begehrensökonomie
52
7.5 Zeichenökonomie
54
8. Massenkultur als Medium der Subjektivierung und Vergesellschaftung
55
8.1 Die Verzahnung zwischen Psyche und Konsum
58
8.2 Die Macht der Massenkultur
65
8.3 Die Sendung ,,Big Brother im Internet"
als Topos einer artifiziellen Gesellschaft
67
9. Medienidentität
73
9.1 Medienidentitäten im Internet
77
10. Fazit
81
Literaturverzeichnis
87
1
1. Einleitung
Die Frage nach der eigenen Identität
1
, verstanden als die Fragen ,,Wer bin ich?" und ,,Wohin
gehöre ich?", gehört zu den zentralen Fragen der Menschheit. Es ist die Frage nach dem Sinn,
die sich der einzelne Mensch und ganze Gemeinschaften in Bezug auf ihr vergangenes,
gegenwärtiges und zukünftiges Handeln stellen. Diese Sinnfrage entwickelt sich in der
abendländischen Kultur in zunehmendem Maße zu einer komplizierten, individuell zu
lösenden Aufgabe, die dem Einzelnen immer mehr Eigenverantwortung für die eigene
Identitätsfindung überträgt. Wurde das Individuum
2
des Mittelalters durch die Auffassung
einer von Gott gewollten Gesellschaftsordnung noch schicksalhaft in seine vorbestimmte
Rolle hineingeboren und ihm somit eine feste Identität zugewiesen, muss der Mensch
heutzutage eigenverantwortlich herausfinden, welche Eigenschaften ihn überhaupt als Teil
einer sich permanent verändernden, globalisierten Gesellschaft kennzeichnen und ihm einen
Platz in dieser zuordnen (vgl. Reckwitz 2008, S.48).
Als Auslöser für eine Verbreitung und Problematisierung der Identitätsfrage können
gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungsprozesse gelten, die sich aus Zuständen
allgemeiner gesellschaftlicher Orientierungskrisen entwickeln. Besonders der Übergang vom
Mittelalter zur Epoche der Moderne
3
führt zu einer generellen Komplexitätssteigerung der
Gesellschaft. Funktional differenzierte Teilssysteme (vgl. Luhmann 1979, S.328ff) wie
Politik, Wirtschaft, Militär und Familie, konfrontieren das Individuum nun mit
1
Zur persönlichen Identität (lat. idem: der-, die-, dasselbe) gibt es verschiedene interdisziplinäre
Identitätstheorien, die den Begriff unterschiedlich betonen und dadurch eine einheitliche Definition erschweren.
,,Einigkeit scheint jedoch bezüglich des Umstandes zu herrschen, dass I., anders als Begriffe wie >Selbst,
>Persönlichkeit oder >Charakter, als relationaler Begriff (etwas kann nur identisch mit etwas sein) bereits
impliziert, dass sich das Bezeichnete innerhalb eines Beziehungsgeflechts situiert, wobei die hierfür
konstitutiven Relationen je unterschiedliche Facetten von I. aufscheinen lassen: als überzeitliche Kontinuität, als
übersituative Konsistenz, wie auch als Abgleich von Innen- und Außenperspektive" (Nünning 2008, S.306).
2
Individuum bedeutet im Lateinischen ,,das Unteilbare". Für den Menschen ergibt sich somit die Eigenschaft
einer eindeutigen Adressierbarkeit als Ansprechpartner im Kommunikationsprozess: ,,Die Unteilbarkeit wird vor
allem dann wichtig, wenn soziale Differenzierungsprozesse dazu führen, dass ein Mensch in verschiedenen
Rollen auftritt. Dann integriert das Individuum diese Vielfalt und bleibt dadurch als Einheit erkennbar. Das
Individuum ist in diesem Sinne Garant der Zurechenbarkeit von Handlungen" (Junge 2002, S.29).
3
Der Begriff >Moderne hat eine lange Tradition und einen dynamischen Charakter. Seit dem Ende des 5.Jh.s ist
das Wort >modernus im Gegensatz zu >antiquus belegt und wird immer dann verwandt, wenn das
Selbstverständnis einer Epoche oder Gesellschaftsgruppe sich deutlich von Vorgängern unterscheidet und
absetzt" (Nünning, S.508). In Bezug der begrifflichen Verwendung in der vorliegenden Arbeit setzt sich das
Moderne gegenüber dem Antiken im Europa des 17.Jh.s unter Einfluss der Aufklärung durch, deren zentrale
Idee der Mensch als selbstbewusst, vernünftig und rational denkendes und handelndes Wesen ist, das nun befreit
von einer gottgewollten Ordnung und Regierung, für sich selbst verantwortlich ist. Wesentliche Bestandteile der
modernen Epoche sind die nominelle Gleichheit aller Menschen, dass Streben nach Demokratie seit der
Französischen Revolution, sowie eine Industrialisierung und Technologisierung (vgl. ebd.). Zur Vertiefung s.
Kapitel 4.2.
2
unterschiedlichen Sinnvorstellungen und Anforderungen, die es selbst zu einem kohärenten
Zusammenhang vereinen muss. Einerseits ergeben sich daraus neue Chancen und Freiheiten
bezüglich der eigenen Lebensgestaltung, andererseits werden jedoch alte Handlungsroutinen,
Strukturen und damit verbundene Identitätsentwürfe verunsichert und abgewertet, die den
Alltag und den Sinn des Lebens des Einzelnen bis dato strukturierten und bestimmten.
In diesem Kontext ist Identität nicht als ein eigenständiges Resultat von Selbstbildern und
Selbstäußerungen des Individuums zu verstehen, sondern als ein Produkt sozialer
Interaktionen, die den persönlichen Identitätsentwurf a priori in einen prädeterminierten
sozialen
Rahmen
einbetten,
der
geprägt
ist
von
spezifischen
Werte-
und
Normenvorstellungen,
Weltdeutungen,
Abhängigkeits-
und
Machtverhältnissen,
Wissensgebäuden
und
Zielvorstellungen
einer
Gesellschaft.
Unter
diesen
Rahmenbedingungen entstehende Identitäten spiegeln schlussfolgernd die beeinflussende
Wirkung ihrer Umwelt wider und stabilisieren dadurch, metaphorisch als neuer Faden, das
soziale Netz, in dem sie sich konstituieren. In dieser wechselseitigen, symbiotischen
Beziehung zwischen dem Einzelnen und einem Kollektiv werden gesellschaftliche
Veränderungen und ihre Folgen durch die persönliche Identität, der Heiner Keupp in diesem
Zusammenhang die Metapher des ,,Brennglases" (Keupp et al. 2002, S.8ff) zuschreibt, in
prismatischer Form gebündelt.
Die vorliegende Arbeit ,,Identität im historischen Wandel aus machttheoretischer Perspektive"
stellt die Absicht dar, Identität fokussiert als ein Produkt historisch spezifischer
Machtstrukturen zu analysieren. Diese Sichtweise lässt die persönliche Identität als ein
historisches
Konstrukt
erscheinen,
das
sich
aus
gesellschaftlich
vermittelten
Bedeutungsressourcen konstituiert und mich veranlasst, im weiteren Verlauf von
Identitätskonstruktionen zu sprechen. Eine klare Definition des Identitätsbegriffes erscheint
vor diesem Hintergrund als problematisches Unterfangen und kann nur mit Blick auf
spezifische gesellschaftliche Verhältnisse und Bedingungen geschehen, in denen die
Individuen leben.
Der Begriff der Macht, welcher ausführlich von Michel Foucault analysiert wurde und auf
dessen Erkenntnisse sich ein Teil der vorliegenden Arbeit stützt, spielt im Prozess der
Formung, Produktion und Stabilisierung von Gesellschaft und persönlicher Identität eine
zentrale Rolle. Die Individuen der modernen Gesellschaft lernen sich durch den Einfluss von
Machtmechanismen so zu verhalten, wie sie es nach allgemein gültigen, normativen
Vorstellungen sollen. Durch diese Transformationsmechanismen, welche ich im Laufe dieser
Arbeit aufdecken möchte, inkorporiert das Individuum in seinem Sozialisationsprozess den
3
übergeordneten Sinn einer Gesellschaft, der diese als gemeinsamer Nenner erst als Kollektiv
generiert und verbindet. Dadurch tritt dieses übergeordnete Leitmotiv als subjektiv
empfundener und das eigene Handeln motivierender Sinn in das Bewusstsein des einzelnen
Gesellschaftsmitgliedes. Durch diesen Prozess bildet der einzelne ein gewisses Maß an
Verhaltenskonformität als notwendige Bedingung für das Funktionieren einer Gesellschaft
aus (vgl. Riesman 1968, S.22).
Die zentrale These meiner Arbeit lautet, dass die abendländische Gesellschaft und
individuelle Identitätskonstruktionen, insbesondere seit der Epoche der Moderne, durch einen
gesellschaftlichen Metasinn der unaufhörlichen Steigerung gelenkt und stabilisiert werden,
dessen einendes Prinzip auf der ,,[...] Idee der Steigerung: ,immer mehr, immer schneller,
immer besser'[...]" (Schulze 2003, S. 15) beruht und sich auf alle Gesellschaftsbereiche
erstreckt. Eine Aufrechterhaltung dieser Steigerungslogik
1
führt im historischen Verlauf zu
sich verändernden Machtverhältnissen und daraus folgend zu einem veränderten ,,sozialen
Charakter"
2
(Riesman 1968, S.20) der Gesellschaft. Die ,,Produktion" von Individuen, die
nach diesem Prinzip funktionieren und handeln, übernimmt in der modernen Gesellschaft
maßgeblich die von Michel Foucault bezeichnete Disziplinarmacht, die durch ihre
Instrumente das Individuum ganzheitlich erfasst und diese durch eine nützliche Formung ihrer
Körper zwanghaft in den gesellschaftlichen Produktionsapparat
3
integriert, dessen Effizienz
es zu steigern gilt.
Im Verlauf des 20.ten Jahrhunderts kommt es jedoch zu einem anderen menschlichen
Typenbedarf, um eine weitere gesellschaftliche Vorwärtsbewegung auf den geschaffenen
,,Steigerungspfaden" (Schulze 2003, S.47) zu gewährleisten. Durch technischen und
wissenschaftlichen Fortschritt (Maschinenbau, Arbeitsorganisation, usw.) entwickelt sich eine
Massenproduktion, die zu einem drastischen Anstieg der Produktionskapazität führt, wodurch
es zu ernsthaften Absatzproblemen kommt, die nur über einen veränderten ,,sozialen
Charakter" gelöst werden können. Für die Menschen dieses Charakters wandelt sich der
Stellenwert des Konsums, der noch in der bürgerlichen Gesellschaft des 18.ten und 19.ten
1
In der vorliegenden Arbeit wird häufiger der Begriff der Steigerungslogik fallen, dabei beziehe ich mich immer
wieder auf folgende Definition der Steigerung Gerhard Schulzes: ,,So groß die Unklarheiten auch immer sein
mögen: Quer durch die Gesellschaft ist die Idee der Steigerung der kleinste gemeinsame Nenner, eine
unerschöpflich scheinende Quelle von Anschlussfähigkeit, Organisierbarkeit, Kalkulierbarkeit und
Regulierbarkeit trotz ständiger Bewegung"Das Prinzip der Steigerung ,, [...]erlaubt relativ eindeutige
Definitionen von Erfolg und Misserfolg und leuchtet jedermann intuitiv ein" (Schulze 2003, S.18).
2
s. Kapitel 6
3
Dieser gesellschaftliche Produktionsapparat produziert nicht nur industrielle Waren, sondern in Bereichen wie
Schule, Militär, Gefängnis vor allen Dingen Wissen, Ordnung und Disziplin, als Grundlage für weiteren
Fortschritt.
4
Jahrhunderts in seiner verschwenderischen Form
1
als unvernünftig und unmoralisch gegen
das moderne Grundsatzprinzip des rationalen, vernünftigen Handelns verstieß. Durch eine
geschickte Verschränkung zwischen sozialen, psychischen und ökonomischen Interessen, die
sich auf einem massenkulturell erzeugten Spielfeld vollzieht, wird der Konsum in der so
genannten Postmoderne
2
zur tragenden Stütze für Lebens- und Identitätsentwürfe.
Durch die Massenkultur und ihre Medien wird ein Gesellschaftstypus der ,,Außen-Lenkung"
(Riesman 1968, S.35) geformt, in dem die Menschen ihre Identität als etwas begreifen, das sie
zunehmend öffentlich sichtbar mit Hilfe von Konsumgütern konstruieren. Diese Waren und
Güter fungieren auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung als Stilmetaphern der
eigenen Individualität und als Objekte libidinösen Begehrens
3
. Als Orientierung für das
eigene Verhalten dienen nun nicht mehr alte Werte- und Normenvorstellungen und damit
verbundene zwanghafte, normative Vorgaben, sondern vielmehr das Verhalten der Anderen,
der Mitmenschen. In dieser neuen Gesellschaftsstruktur finden Identitätsentwürfe nicht mehr
auf der Basis eines Vertrauens auf sich selbst oder auf übermittelte Identitätsblaupausen statt,
die einen klaren Lebensentwurf nach tradierten Mustern vorgeben, sondern im Modus der
ständigen Kontrolle des sozialen Umfeldes. Dieser Kontrolle liegen die Fragen zu Grunde:
Wie sehen mich die anderen? Was erwarten sie von mir? Wie muss ich mich verhalten, um
begehrenswert zu sein?
In diesem Zusammenhang agiert die Massenkultur als neues ,,Medium der Subjektivierung"
(Bublitz 2005, S.120), indem sie eine künstliche symbolische Ordnung
4
produziert, mit deren
Hilfe die Menschen interagieren und sich dadurch orientieren und sozialisieren.
Konsumwaren dienen in diesem Kontext als Repräsentanten dieser symbolischen Ordnung,
die einen Rückschluss auf die Werte-, Normen- und Idealvorstellung der Gesellschaft
1
Als verschwenderisch wurde in der Moderne Konsum angesehen, der über die Deckung des Grundbedarfes, der
nützlichen Konsum definierte, hinausging. Damit grenzte sich die bürgerliche Gesellschaft bewusst vom
genussvollen, luxuriösen Konsum des Adels ab.
2
Der Begriff >Postmoderne ,,ist die Bezeichnung für die kulturgeschichtliche Periode nach der Moderne bzw.
für ästhetisch-philosophische Ansätze und kulturelle Konfigurationen dieser Zeit. Meist gelten die
künstlerischen, politischen und medialen Umbrüche der 1960er Jahre in den USA als Ausgangspunkt für die
Postmoderne[...]" (Nünning, S.590). In dieser Epoche vollzieht sich ein Bruch mit dem aufklärerischen ,,Projekt
der Moderne", dessen Ziel die vollständige Erfassung und Erklärung der Welt mit Hilfe auf Eindeutigkeit
abzielender wissenschaftlicher Prinzipien war. In der Postmoderne kommt es zu einer Vermischung elitärer
Hochkultur und der Populärkultur, die insbesondere gesellschaftlichen Randgruppen eine Ausdrucksplattform
bietet und dadurch Identitätsentwürfen einen neuen Möglichkeitsraum eröffnet. Die modernen Wertmaßstäbe,
die sich auf ein starres Kunst- und Wissensverständnis begründeten, werden in der Populärkultur durch
verschiedene Subkulturen in Frage gestellt (vgl. ebd.). Zur Vertiefung s. Kapitel 4.3.
3
s. Kapitel 8.1
4
Unter dem Begriff der ,,symbolischen Ordnung" wird ein geordnetes kollektives Wissen verstanden, dass
während seiner Geltungsdauer in einer Gesellschaft überindividuell verbindlich ist und dadurch zu einer
Konstruktion einer bestimmten sozialen Wirklichkeit führt. In sozialen Interaktionsprozessen setzen die Akteure
aufgrund ihrer kommunikativen, kognitiven Erfahrung voraus, dass eine solche Ordnung als Bezugspunkt der
sozialen Handlung unbestritten bzw. hinreichend bekannt ist (vgl. Drechsel 2000, S. 91f).
5
zulassen. Durch das Konsumverhalten der Masse etabliert sich eine Sphäre der Normalität,
die als Richtschnur für den eigenen Identitätsentwurf Verhaltenskonformität und damit
Anschlussfähigkeit an die Gesellschaft vermittelt. In dieser Funktion löst die Massenkultur
die Disziplinen der Moderne als sozialisierendes und integrierendes Machtinstrument ab.
Ich möchte schlussfolgernd
für die gegenwärtige gesellschaftliche Situation die
zusammenfassende These formulieren, dass sich persönliche Identität maßgeblich im
Rückgriff auf eine massenmedial und kulturell produzierte symbolische Ordnung und
Infrastruktur bildet. Diese Ordnung ist nicht als ein starres Gebilde zu verstehen, sondern ist
einer permanenten Modulation unterworfen, die sich aus einer generalisierten Kontrolle
zwischen Produzenten und Konsumenten von Waren und Bedeutungen und der
Gesellschaftsmitglieder untereinander ergibt. Aus dem Kontrollprozess ergibt sich ein ständig
neues Begehren nach neuen Werten und warenförmigen Symbolen, mit denen man sich selbst
ausdrückt und die als Bausteine für die eigene Identität anzusehen sind.
Aufgrund der sozialisierenden Macht der allgegenwärtigen Massenkultur und Massenmedien,
kann darüber hinaus heutzutage nicht mehr von Identitäten die Rede sein, sondern es muss
vielmehr von hybriden Medienidentitäten gesprochen werden. Diese konstruieren sich mit
Hilfe einer technischen medialen Infrastruktur, aus einem bunten Mix global zirkulierender
Waren, Informationen und kulturellen Bedeutungsressourcen. Diese Zirkulation führt zu einer
Dekonstruktion klassischer Raum-Zeitverhältnisse, die bis ins frühe 20.te Jahrhundert den
sozialen Raum des Einzelnen durch fehlende Transport- und Kommunikationsmittel auf einen
Ort der direkten gesellschaftlichen Begegnungen beschränkten. Durch neue Transportmittel
(Auto, Flugzeug, Bahn, usw.) und ein sich ausdehnendes Verkehrsnetz auf der einen Seite und
durch neue Kommunikationsmittel (Fernsehen, Radio, Telefon/Mobiltelefon, Internet, usw.)
auf der anderen Seite, kommt es zu einer Mobilisierung der Gesellschaft und zu einer
Ausdehnung des sozialen Raumes, in dem lokale Kulturen von einer expandierenden
Massenkultur überlagert werden. In diesem Raum bündelt und steigert sich das individuell
Erfahr-, Erleb- und Konsumierbare, gleichzeitig aber auch das Potenzial an verpassten
Gelegenheiten und Chancen, scheinbar ins Unermessliche. Die Schaffung eines kohärenten
Sinns, den man seinem Leben und seinem Identitätsentwurf zuschreibt, wird in dieser
Gesellschaft zu einem unaufhörlichen Projekt, das im Interesse einer ökonomischen
Verwertungslogik, die durch gegenwärtige Machtverhältnisse gefördert wird, immer wieder
von vorne zu beginnen scheint und damit an den Mythos von Sisyphos
1
erinnert.
1
Sisyphos war ein Held der griechischen Mythologie, der als Bestrafung einen Felsbrocken einen Berg
heraufrollen sollte. Kurz vor dem Gipfel entglitt dieser Sisyphos ständig, der daraufhin immer wieder von Vorne
6
2.Vorgehen
Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Abschnitt gehe ich vorwiegend deskriptiv
vor, indem ich zunächst im
Kapitel 3.,,Identitätsgenese" den grundsätzlichen
Entstehungsprozess persönlicher Identität darstelle, der, unabhängig vom historischen
Kontext, Identität immer als ein Produkt sozialer Interaktion beschreibt.
In Kapitel 4 ,,Geschichte der Identität" bette ich diesen Prozess in den historischen Kontext
ein, um einen Eindruck über den sich verändernden Stellenwert von persönlicher Identität und
damit verbundener Idealbilder in den Epochen der Vormoderne(4.1), Moderne(4.2, 4.2.1) und
Postmoderne (4.3) zu vermitteln.
Als maßgeblich verantwortlich für diese Veränderung können spezifische gesellschaftliche
Machtverhältnisse betrachtet werden, die den konstitutiven Rahmen für die Identitätsbildung
abstecken und dadurch bestimmte Typen von Identitäten formen und produzieren. Daher
werde ich mich im zweiten Teil der Arbeit (ab Kapitel 5) den Fragen widmen:
1.) Wie ist Macht im jeweiligen historischen Kontext zu charakterisieren?
2.) Wie fungiert Macht als Instrument bei der Entstehung von Gesellschaftstypen und
Identitätsentwürfen?
Ich werde mich auf zwei Machttypen konzentrieren, die seit dem Mittelalter bis in unsere
Gegenwart die Gesellschaft und die Identitätsbildung des Einzelnen im Wesentlichen
bestimmten bzw. aktuell im Sinne der Steigerungslogik bestimmen:
1.) die von Foucault bezeichnete ,,Disziplinarmacht", als prägender Machttyp der
Moderne
2.) die ,,Macht der Massenkultur" als Machttyp der Postmoderne.
Die ,,Disziplinarmacht" (Kapitel 5.1) und ihre Mechanismen formen einen Menschentypus,
dessen Identitätsbildung von der Maxime bestimmt ist, einen ,,gelehrigen" (Foucault 1976,
S.173), produktiven Arbeitskörper auszubilden. Die Wirkung und Effizienz dieser Macht, die
direkt auf den Körper der Individuen abzielt, zeigt sich in einer Transformation individueller
,,Fremd- zur Selbstkontrolle" (Kapitel 5.2). Dieser Überführungsprozess wird besonders durch
das Schema des ,,Panoptismus" (Kapitel 5.2.1) veranschaulicht.
Die Dominanz dieser Macht währt bis ins frühe 20. Jahrhundert, bis es, wie schon erwähnt,
abermals zu einem elementaren gesellschaftlichen Umbruch kommt, der den amerikanischen
Soziologen David Riesman dazu veranlasst, von einer ,,zweiten Revolution" (Riesman, S.22)
zu sprechen, die mit einer Wandlung von der Gesellschaft der ,,Innen-Lenkung" (ebd., S.30)
anfing. Das Synonym der Sisyphosarbeit steht heute für Arbeiten und Aufgaben, die trotz großer Mühe nie zu
enden scheinen.
7
zu einer Gesellschaft der ,,Außen-Lenkung" (ebd., S.35) einhergeht. Aus einem anderen
Blickwinkel betrachtet Gilles Deleuze diese Umbruchphase, die er als die ,,Krise aller
Einschlussmilieus"
(Deleuze
1993,
S.255)
bezeichnet
und
eine
Ablösung
der
Disziplinargesellschaft durch die ,,Kontrollgesellschaft"(ebd.) konstatiert. Beide Deutungen
dieses gesellschaftlichen Umbruches fasse ich im Kapitel 6. ,,Von der innen-geleiteten
Disziplinar- zur außen-geleiteten Kontrollgesellschaft" zusammen.
Das Kapitel 7. ,,Psychoanalytische Erkenntnisse über den Antrieb menschlichen Handelns"
soll als Grundlage für ein tieferes Verständnis für die Machtwirkung der Massenkultur dienen,
die als Motor des in Kapitel 6. beschriebenen gesellschaftlichen Wandels angesehen werden
kann. Unter besonderer Berücksichtigung psychoanalytischer Erkenntnisse Sigmund Freuds
und Jaques Lacans soll die Frage erhellt werden, wie man sich das ,,Innere" des Individuums
als ,,psychische Apparatur" (Kapitel 7.1) vorzustellen hat, um nachvollziehen zu können, wie
sich in der Massenkultur ökonomische Verwertungslogiken, die auf eine Steigerung des
Warenkonsums abzielen, mit dem innerpsychischen Selbstaufbau zusammenschließen.
Kapitel 7.2 ,,Jacques Lacan Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion" liefert ein
theoretisches Konzept über die Entstehung eines unaufhörlichen Selbstbeobachtungsprozesses
des Individuums, dem ein Begehren zu Grunde liegt, seinem eigenen Idealbild zu
entsprechen. Diese Idealvorstellung von sich selbst entsteht, Lacan folgend, in einem
Spiegelungsprozess in der Kindheit, wenn sich der Mensch zum ersten Mal im Spiegel als
einheitlicher Körper erfährt. Dieses ganzheitliche Spiegelbild erzeugt das so genannte ,,Ideal-
Ich" (Lacan 1986, S.64), dem sich das Individuum zeitlebens anzunähren versucht. Dieser
Annährungsprozess fungiert als Antrieb für die persönliche Identitätsbildung. Das von Lacan
genannte ,,objekt klein a" (Kapitel 7.3) kann jedes beliebige Objekt sein, das jedoch vom
Individuum mit Bedeutung aufgeladen wird. Auf dem Wege ständiger Annährungsversuche
an sein eigenes ,,Ideal-Ich" verspricht dieses Objekt durch seine Nutzung ein Gefühl der
Übereinstimmung und Erfüllung. Im Kreislauf einer ,,Begehrensökonomie"(7.4) wird dieses
,,objekt klein a", als Repräsentant seines Idealbildes, durch seine Gebrauch sofort verbraucht
und bedarf einer permanenten Verschiebung auf ein neues Objekt. Im Zuge einer Suche nach
Objekten, die als ,,objekt klein a" fungieren können, spielt eine unaufhörliche
,,Zeichenökonomie" (7.5) eine entscheidende Rolle, da sie Produkte der Warenökonomie mit
begehrenswerten Attributen und Werten auflädt, die gleichzeitig als Persönlichkeitsmerkmale
ihrer Konsumenten dienen sollen, und somit eine identitätsstiftende Funktion auf dem Wege
zum seinem eigenen ,,Ideal-Ich" haben.
Eine Verschränkung dieser drei Ökonomien (Waren/Zeichen/Begehren) vollzieht sich auf
8
einem massenkulturellen Spielfeld und lässt Massenkultur als ,,Medium der Subjektivierung"
und Vergesellschaftung in Erscheinung treten. Dieses Phänomen wird in Kapitel 8 erörtert.
Durch das tiefe Eindringen der Waren- und Zeichenökonomie in das Subjektinnere und eine
gleichzeitige Verbindung mit einer innerpsychischen Begehrensökonomie, kommt es in der
Massenkultur zu einer Verzahnung zwischen materiellem und psychischem Selbstaufbau
(Kapitel 8.1). In diesem Prozess zeigt sich die Macht der Massenkultur (Kapitel 8.2), die
einen Menschentypus formt, der primär nicht mehr als Arbeitskörper der Produktion, sondern
vielmehr als Verbraucher der Aufrechterhaltung sich steigernder Produktions- und
Konsumzyklen dient. Als Instrument dieser Macht fungiert unter anderem die gegenseitige
Kontrolle der Gesellschaftsmitglieder, als Modus der Sozialisation und Identitätskonstruktion.
Das Kapitel 8.3 ,,Big Brother im Internet als Topos einer artifiziellen Gesellschaft" illustriert
einen Vergesellschaftungsprozess, der durch die Wirkung massenkultureller Macht geprägt
ist. Ferner zeigt das Beispiel, dass sich Identität heutzutage in einem durch und durch
mediatisierten Alltag bildet, was dazu führt, dass man nicht mehr von Identitäten, sondern
eher von Medienidentitäten sprechen muss.
In Kapitel 9.,,Medienidentitäten" wird die prägende Kraft massenkultureller Macht in Bezug
auf Sozialisations- und Identitätsbildungsprozesse beschrieben. Durch diese Macht kommt es
zu einer Hybridisierung persönlicher Identität, die sich sowohl aus organischen, als auch aus
zunehmend technisch vermittelten globalen Bedeutungsressourcen konstituiert. Solche
Identitätsentwürfe benötigen jedoch auch eine massenmedial vermittelte, translokale
Bestätigung und Anerkennung. Das Kapitel 9.1 ,,Medienidentitäten im Internet" soll einen
Eindruck vermitteln, wie gegenwärtige Identitätsbildungsprozesse in dem massenmedialen
,,Anschlussnetzwerken" des Internets auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung
noch exakter und unbewusster unter dem Deckmantel einer unabhängig und freiheitlich
empfundene Selbstthematisierung, mit ökonomischen Interessen verknüpft werden.
3. Identitätsgenese
Wie in der Einleitung angesprochen wurde, möchte ich in diesem Kapitel zeigen, dass die
persönliche Identität als Vorstellung des Selbst, immer als ein soziales Produkt zu verstehen
ist. Entscheidende Grundlage für den Entstehungsprozess von persönlicher Identität ist ein
reflexiver Prozess, in dem sich das Individuum als Objekt aus der Sicht eines Gegenübers
wahrnimmt. So heißt es bei Thomas Luckmann: ,,Die persönliche Identität des Menschen
9
entwickelt sich nicht von ,Innen nach Außen', sondern von ,Außen nach Innen'. Der Mensch
erlebt sich selbst nicht unvermittelt. [...]Die Fähigkeit zur wechselseitigen ,Spiegelung' ist
die Grundvoraussetzung dafür, daß der einzelne Mensch eine persönliche Identität ausbildet"
(Luckmann 1979, S.299). Wie auch Luckmann, beschreibt Joachim Renn Identität als soziales
Produkt: ,,Individuelle Identität ist abhängig von sozialen Kontexten und keine vorsoziale,
substantielle Entität" (Renn 2002, S.238). Beide Zitate verdeutlichen, dass die Entstehung von
Identität nicht a priori gegeben ist, sondern vielmehr in einem reflexiven Erkennungs- und
Erfahrungsprozess zwischen Individuum und Gesellschaft ausgehandelt wird. In diesem
Prozess lernt das Individuum sein Verhalten den sozialen Strukturen und Erwartungen der
Gesellschaft maßgeblich durch Affekt- und Triebkontrolle
1
anzupassen und zu entsprechen.
Diesen Prozess beschreibt Luckmann wie folgt: ,,Handlungskontrolle und Selbstdisziplin
erscheinen nicht einfach von selbst zu einem gewissen Zeitpunkt in der Kindheit; sie werden
durch die Erwartungen signifikanter Anderer eingeschärft[...]. Die Erwartungen werden durch
eine gegebene Weltsicht bestimmt - oder, um es mit der Begrifflichkeit Meads auszudrücken,
durch den Generalisierten Anderen" (Luckmann 2007, S.237).
Für Georg Herbert Mead ist der (das) verallgemeinerte Andere, dessen Haltung repräsentativ
für die Haltung der ganzen Gesellschaft steht, der konstitutive Bezugspunkt für die eigene
Identität und das ,,Selbstbewußtsein" des Menschen. Der Mensch betrachtet sich reflexiv aus
der Sicht dieses Anderen, das sowohl unbelebte Gegenstände, als auch andere menschliche
Organismen sein können (vgl. Mead 1968, S.196): ,,[...]indem er dessen Haltungen ihm
gegenüber übernimmt, wird er sich seiner selbst als Objekt oder Individuum bewusst und
entwickelt somit eine Identität und Persönlichkeit" (ebd., S.196). Diese reflexive Betrachtung,
Mead nennt sie an anderer Stelle auch ,,Erfahrung" (vgl. ebd., S.239), ohne die Identität nicht
auftreten würde, ist als Grundlage individueller Gesellschaftsfähigkeit zu verstehen, da durch
sie überhaupt erst die Werkzeuge ausgebildet werden, um mit seiner sozialen Umwelt in
sinnvollen Kontakt zu treten. Diese Erfahrungen sammelt das Individuum durch explorative
Sprach- und Handlungsprozesse: ,,Was wir sagen und was wir tun werden, finden wir heraus,
indem wir etwas sagen und etwas tun, und in diesem Prozeß kontrollieren wir ständig diesen
Prozeß selbst" (ebd, S.183). Wir sammeln durch diesen Prozess also Erfahrung, die Identität
erst durch Reiz und Reaktion des Anderen zum Vorschein bringt:
,,Wenn sich in der Erfahrung eine Identität entwickelt, dann stets im Kontrast zum anderen; wir
nannten schon die Vorraussetzungen, unter denen dieser andere in die Erfahrung des Menschen eintritt,
nämlich die Anwesenheit jener Reize in einer kooperativen Tätigkeit, die im Einzelnen selbst die
gleiche Reaktion wie im anderen auslösen. Wenn die Reaktion des anderen ein entscheidender Aspekt
1
s. Kapitel 7
10
in der Erfahrung oder im Verhalten des Einzelnen wird, wenn die Übernahme der Haltung des anderen
ein entscheidender Aspekt seines Verhaltens wird dann erscheint der Einzelne in seiner eigenen
Erfahrung als Identität. Vorher ist das nicht der Fall" (Mead 1968, S.239).
Wir halten also fest, dass dieser Prozess durch Reiz und Reaktion bestimmt wird, durch ihn
sammelt der Einzelne individuelle Erfahrungen. Mit zunehmender Erfahrungsschatz werden
die Reaktionen des Gegenübers erwartbarer und kalkulierbarer, wie es Mead am Beispiel des
,,Spiels", ,,Wettkampfes" und des ,,verallgemeinerten Anderen" veranschaulicht (vgl. ebd.,
S.194ff). Die Erfahrung besteht aus der Aneignung signifikanter Symbole, die einen
allgemeinen Charakter aufweisen, in der Hinsicht, dass sie höchstwahrscheinlich im
,,Anderen" die gleiche Reaktion auslösen, wie im Selbst, so heißt es bei Mead:
,,Unsere Symbole sind stets Allgemeinbegriffe. Man kann nichts sagen, was absolut
partikulär wäre; alles, was sinnvoll gesagt wird ist allgemein. Man sagt etwas, das bei
allen anderen eine ganz bestimmte Reaktion auslöst, vorausgesetzt, dass das Symbol
in der Erfahrung aller anderen ebenso wie für uns existiert" (ebd., S.188f).
Diese Austauschkommunikation kann durch Worte, Gesten oder Mienenspiele stattfinden, die
mit diesen allgemeinen Symbolen arbeitet. Sie dient als verbindendes Element, sozusagen als
eine Art Sinnsynchronisation zwischen Individuum und Gesellschaft, indem sie Sinn von A
nach B transportiert. Herbert Blumer, der als Schüler und Nachfolger Meads gilt, beschreibt
diese Kommunikation in seinem Werk ,,Symbolic Interactionism: Perspective and Method"
(Blumer 1969) genauer, in dem er darauf hinweist, dass sich die Menschen die objektive
Realität selber schaffen. Er beschreibt das menschliche Zusammenleben als einen
,,[...]Prozess, in dem Objekte geschaffen, bestätigt, umgeformt und verworfen werden. Das
Leben und das Handeln von Menschen wandeln sich notwendigerweise in Übereinstimmung
mit den Wandlungen, die in ihrer Objektwelt vor sich gehen" (Blumer 1969, S.91 zit.n. Abels
2006, S.336). Durch das Handeln über gemeinsame Symbole versuchen sich die Menschen
gegenseitig anzuzeigen, wie sie eine Situation verstehen und wie sie der Andere verstehen
soll: ,,Sie produzieren in der Interaktion fortlaufend gemeinsame Symbole, an denen sie sich
orientieren, die sie durch ihr Handeln bestätigen, revidieren und wieder neu definieren. Der
Sinn der Interaktion wird fortlaufend ausgehandelt[...], und es kommt zu einer gemeinsamen
Definition der Situation" (Abels 2006, S.336). Nach Mead übernimmt der Mensch im
Denkprozess die Rolle des Anderen: ,,Es ist der gesellschaftliche Prozeß der Einflußnahme
auf andere in einer gesellschaftlichen Handlung und der darauf folgenden Übernahme dieser
durch den Reiz ausgelöster Haltung der anderen und der Reaktion darauf, was die Identität
konstituiert" (Mead 1968, S.214). Man kann an dieser Stelle von einem ständigen Abgleich
zwischen Selbst- und Fremdbild sprechen, dem folgende Fragen vorausgehen könnten:
11
Wie sehe ich mich? Wie sehen mich die anderen? Wie muss ich mich verhalten, um auf eine
erwünschte Art und Weise wahrgenommen zu werden?
Bestätigt wird die Vorstellung dieses ständigen Abgleichs durch Lothar Mikos, für den
Identitätsbildung ,,[...]nur als dynamischer Prozess der permanenten Fortschreibung der
Integration von Selbst- und Fremdbild und als flexibel einsetzbares Selbstkonzept denkbar[ist,
B.S.]" (Mikos 2003, S.310). Vorgreifend kann man an dieser Stelle bemerken, dass genau
dieser Mechanismus das Problem aktueller Identitätsarbeit ist, da es in unserer mediatisierten
Welt durch eine enorme quantitative Flut an Fremdbildern zu einer Überforderung des
Einzelnen hinsichtlich des Abgleichprozesses kommt. In diesem Prozess bildet der Mensch
zwei Haltungen sich selbst gegenüber aus, die Identität erst ermöglichen. Mead nennt sie die
Haltung des ,,ICH"(,,Me") und des ,,Ich"(,,I") (vgl. Mead 1968, S.237ff.). Das ,,ICH"
beschreibt jene inkorporierten Werte der Gemeinschaft, welche das Individuum
gesellschaftlich anschlussfähig machen:
,,Um Bewusstsein zu erlangen, muß man die Haltungen des anderen im eigenen Organismus haben, als
Kontrollorgan für seine eigene Handlung. [...] Das ist jene Identität, die sich in der Gemeinschaft halten
kann, die in der Gemeinschaft insoweit anerkannt wird, als sie die anderen anerkennt. Diese Phase der
Identität bezeichnete ich als ´ICH`" (ebd., S.240).
Dieser Anteil der Identität kann eher als soziale Komponente bezeichnet werden, die nach
gesellschaftlicher Akzeptanz und Anschlussfähigkeit des Individuums durch eine
entsprechende ,,Verhaltenskonformität" (Riesman 1968, S.9) strebt. während sich im ,,Ich"
eher der persönliche Teil widerspiegelt. Das ,,Ich" ist als Reaktion auf die Handlungen des
konventionell handelnden, gesellschaftlich angepassten ,,ICH" zu verstehen, indem es
neuartige Situationen erkennt und darauf als kreatives Element beeinflussend reagiert. Das
,,Ich" charakterisiert die Persönlichkeit des Individuums, indem es dieses in der Gesellschaft
als ein Individuelles behauptet. Mead unterscheidet beide Haltungen wie folgt:
Wir bezeichnen eine Person als konventionelles Wesen; ihre Ideen entsprechen genau denjenigen ihrer
Nachbarn; sie ist unter diesen Umständen kaum mehr als ein »ICH«; ihre Anpassungen sind
unbedeutend, sie finden unbewusst statt. Im Gegenteil dazu steht die Person, die eine ausgeprägte
Persönlichkeit besitzt und auf die organisierte Haltung so reagiert, dass ein bedeutender Unterschied zu
verzeichnen ist. Bei einer solchen Person ist das »Ich« die wichtigere Phase der Erfahrung" (Mead
1968, S.244).
Im ,,Ich" verkörpert sich somit die Kritik- und Widerstandsfähigkeit des Individuums. Man
kann an dieser Stelle schlussfolgern, dass Individuen immer in einen gesellschaftlich
vorsozialisierten Rahmen hineingeboren werden, wodurch sich ihre Identität nach bestimmten
Regeln und Abläufen konstituiert. Dieser vorsozialisierte Rahmen manifestiert sich in
gesellschaftlichen Institutionen und Machtverhältnissen. ,,Die normativen Vorstellungen, die
12
idées directrices
(Hauriou 1995), welche die Ziele und Prozeduren von Institutionen
definieren, konstituieren die kognitive Landkarte sowie den signifikanten Wissenskern
innerhalb einer Gesellschaft" (Luckmann 2007, S.238). Vor dem Hintergrund dieser
kognitiven Landkarte, bildet sich Identität als Selbstverständnis einer Person heraus. Dieses
Selbstverständnis wird in einer neuen Handlungssituation durch reflexive Einbringung der
eigenen biographischen Vergangenheit, aber auch zukünftiger Lebensentwürfen, aktualisiert
und eventuell angepasst. Identität ist in diesem Zusammenhang weder
,,[...]als dinghafte oder statische Größe (wie es die Vorstellung eines Persönlichkeitskern nahe legt),
noch als einfach gegeben zu verstehen[...], sondern als der von der oder dem Einzelnen immer wieder
zu bewerkstelligende, am Schnittpunkt von gesellschaftlicher Interaktion und individueller Biographie
stattfindende Prozess der Konstruktion und Revision von Selbstbildern" (Nünning 2008, S.307).
Betrachtet man nun die Variabilität dieses Identitätsbegriffes, ,,[...]ergibt sich die Frage nach
den Bedingungsfaktoren von Stabilität bzw. Instabilität von I. [...], nach der Wirksamkeit der
neben endogenen zu berücksichtigenden sozialen und kulturellen Einflüsse" (ebd., S.307).
Aufgrund dieser Abhängigkeit von Identitätsbildung und gesellschaftlichen Strukturen,
möchte ich in den folgenden Kapiteln untersuchen, welche Identitätskonstruktionen und -
ideale die einzelnen historischen Epochen und ihre prägenden ,,ideés directries"
hervorgerufen haben.
4. Geschichte der Identität
Bemerkenswerter Weise ist die Vorstellung vom Individuum und seiner Identität nach David
Riesman
nur
durch
zwei
wesentliche
Revolutionen
geprägt,
,,[...]die
die
Ende der Leseprobe aus 94 Seiten
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Details
- Arbeit zitieren
- , 2009, Identität im historischen Wandel aus machttheoretischer Perspektive, Hamburg, Bedey Media GmbH, https://www.diplom.de/document/227553
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