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Mehr InfosStudienarbeit, 2009, 37 Seiten
Jura - Zivilrecht / Handelsrecht, Gesellschaftsrecht, Kartellrecht, Wirtschaftsrecht
Studienarbeit
2,0
A. Einführung
B. Die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des PflegeZG
I. Grundsätze der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
II. Die kurzfristige Pflege eines akut erkrankten Angehörigen
1. Die Entgeltfortzahlung nach § 616 BGB
2. Die Entgeltfortzahlung nach § 19 BBiG
3. Das Pflegekrankengeld nach § 45 SGB V
III. Die langfristige Pflege eines pflegebedürftigen Angehörigen
1. Der Freistellungsanspruch nach § 45 IV SGB V
2. Der Teilzeitanspruch aus § 8 TzBfG
IV. Zusammenfassung zu B
C. Die Neuregelung durch das Pflegezeitgesetz
I. Die kurzfristige Arbeitsverhinderung nach § 2 PflegeZG
II. Die Pflegezeit nach §§ 3, 4 PflegeZG
III. Der Sonderkündigungsschutz nach § 5 PflegeZG
IV. Die soziale Absicherung des Arbeitnehmers während der Pflegezeit
V. Zusammenfassung zu C
D. Stellungnahmen aus der Literatur und offene Fragen der Neuregelung
I. Streitfragen im Bereich der kurzfristigen Arbeitsverhinderung nach § 2 PflegeZG
II. Streitfragen im Bereich der eigentlichen Pflegezeit nach §§ 3, 4 PflegeZG
III. Streitfragen im Bereich des Sonderkündigungsschutzes nach § 5 PflegeZG
IV. Zusammenfassung zu D
E. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Bauer, Jobst-Hubertus: Ein Gesetz von mäßiger Qualität, in: AUA 2008, 321.
Becker, Ulrich/Kingreen, Thorsten: SGB V – Gesetzliche Kranken-versicherung, München 2008 (zitiert: Becker/Kingreen/ Bearbeiter)
Däubler, Wolfgang: Die Auswirkungen der Schuldrechtsmodernisierung auf das Arbeitsrecht, in: NZA 2001, 1332ff.
Freihube, Dirk/Sasse, Stefan: Was bringt das neue Pflegezeitgesetz!? in: DB 2008, 1320ff.
Greiner, Stefan: Familienfreundliches Arbeitsrecht? – Die Erkrankung des Kindes als Gegenstand widersprüchlicher Regelungen, in: NZA 2007, 49ff.
Grobys, Marcel: Auswirkung einer nachträglichen Arbeitszeitreduzierung auf das Arbeitsentgelt und andere Vertragsbestandteile, in: DB 2001, 758ff.
Henssler, Martin/Preis, Ulrich: Diskussionsentwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes (ArbVG), Stand Nov. 2007, in: NZA, Beilage 1/2007, 6ff.
Joussen, Jacob: Streitfragen aus dem Pflegezeitgesetz, in NZA 2009, 69ff.
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Klie, Thomas/Krahmer, Utz: NomosKommentar – Sozialgesetzbuch XI – Soziale Pflegeversicherung, 3. Auflage, Baden-Baden 2008 (zitiert: Klie/Krahmer/ Bearbeiter)
Kohte, Wolfhard: Gewissenskonflikte am Arbeitsplatz – Zur Aktualität des Rechts der Leistungsstörungen, in: NZA 1989, 161ff.
Küttner, Wolfdieter/Röller, Jürgen: Personalbuch 2008, Arbeitsrecht, Lohnsteuerrecht, Sozialversicherungsrecht, 15. Auflage, München, 2008 (zitiert: Küttner/ Bearbeiter)
Kossens, Michael: Das neue Pflegezeitgesetz – Herausforderung für Arbeitgeber, in: AuA 2008, 328ff.
Langer, Heiko/Damm, Simone: „Auszeit? Ich mach auf Pflege!“ – Das Pflegezeitgesetz in der Praxis, in: AuA 2008, 536ff.
Linck, Rüdiger: Offene Fragen des Pflegezeitgesetzes, in: BB 2008, 2738ff.
Müller, Stefan: Das Pflegezeitgesetz (PflegeZG) und seine Folgen für die arbeitsrechtliche Praxis, in: BB 2008, 1058ff.
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Palandt, Otto: Bürgerliches Gesetzbuch, 68. Auflage, München 2009 (zitiert: Palandt/ Bearbeiter)
Pflegestatistik 2007: Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung – Deutschlandergebnisse, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden, 2008
Preis, Ulrich/Weber, Astrid: Der Regierungsentwurf eines Pflegezeitgesetzes, in: NZA 2008, 82ff
Preis, Ulrich/Nehring, Linda: Das Pflegezeitgesetz, in: NZA 2008, 729ff.
Rose, Franz-Josef/Dörstling, Tanja: Flucht in die Pflege – Kündigungsschutz allein durch Ankündigung sinnvoll? in: DB 2008, 2137ff.
Säcker, Franz Jürgen/Rixecker, Roland: Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Auflage, München, 1995; 4. Auflage, München, 2004 sowie 5. Auflage, München, 2008 (soweit nicht anders angegeben bezieht sich die Note auf die neuste Auflage des jeweiligen Bandes – zitiert: MüKo/ Bearbeiter)
Schaub, Günter/Koch, Ulrich/Linck, Rüdiger/Vogelsang, Hinrich: Arbeitsrechtshandbuch, Systematische Darstellung und Nachschlagewerk für die Praxis, 12. Auflage, München, 2007 (zitiert: Schaub-AR)
Schlegel, Rainer/Engelmann, Klaus: Juris PraxisKommentar, Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung, Saarbrücken, 2008 (zitiert: Bearbeiter in: JurisPK-SGB V)
Schulz, Manuela: Entgeltfortzahlung bei Erkrankung von Kindern von Arbeitnehmern – Zugleich Erwiderung auf Kießling/Jünemann (DB 2005 S. 1684), in: DB 2006, 838ff.
Schwerdle, Jutta: Arbeitsbefreiung bei Pflege von nahen Angehörigen – Kündigungsschutz selbst in der Probezeit? Eine kritische Betrachtung des Entwurfs eines Pflegezeitgesetzes, in: ZTR 2007, 655ff.
Staudinger, Julius v.: Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Bearbeitung, Berlin, 1993 bis 2005 (zitiert: Staudinger/ Bearbeiter)
Stuhlmann, Wolfgang: Pflegezeitgesetz – Sozialversicherungsrechtliche Auswirkungen, in: AuA 2008, 332f.
Die Auseinandersetzung mit dem Gedanken, als Pflegefall langfristig oder gar dauernd auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, scheuen viele Menschen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pflegebedürftigkeit und Pflege ein Stück Realität in einer alternden Gesellschaft darstellen. So gab es (Stand Dezember 2007) in Deutschland 2,25 Mio. Menschen, die pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) waren.[1] Damit hat die Zahl der Pflegebedürftigen im Vergleich zu Dezember 1999 um 231.000 Personen oder 11,4 % zugenommen. Der weit überwiegende Teil der Pflegebedürftigen wird zu Hause, d.h. durch Angehörige oder ambulante Pflegedienste versorgt.[2] Lediglich der prozentual geringere Teil wird stationär in Pflegeheimen betreut.[3] Hierbei ist jedoch auffällig, dass in den letzten beiden Jahren die Zahl der in Heimen Versorgten weniger stark zugenommen hat als die Zahl der Menschen, die durch ambulante Pflegedienste oder durch Angehörige zu Hause versorgt werden. Der Trend zur professionellen Pflege in Heimen erscheint damit gebrochen.[4]
1.033.000 Menschen erhielten im Dezember 2007 Pflegegeld und wurden zu Hause allein durch Angehörige gepflegt. Der weit überwiegende Teil hiervon[5] ist der Pflegestufe I zugeordnet; auf Pflegestufe II entfällt knapp ein Drittel.[6] Wohl nicht zuletzt aufgrund der hohen zeitlichen, physischen und psychischen Belastung ist bei der Gruppe der zu Hause von Angehörigen versorgten Patienten der Anteil der Pflegebedürftigen nach Pflegestufe III mit 8,3 % am geringsten.[7]
Wenn Pflegebedürftigkeit auch durch pränatale Schädigung, Krankheit oder Unfall zum Schicksal von Kindern und jungen Menschen werden kann, steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit, zum Pflegefall zu werden, mit zunehmendem Alter. So waren – ebenfalls Stand Dezember 2007 – lediglich 5 % der Bundesbürger zwischen 70 und 75 Jahren einer Pflegestufe zugeordnet. Bei den über 90-jährigen lag diese Quote bereits bei 62 %.
Der Gesetzgeber hat mit dem am 01. Juli 2008 in Kraft getretenen Pflegezeitgesetz[8] (PflegeZG) Regelungen getroffen, um die Pflege durch Angehörige in häuslicher Umgebung zu stärken. So konstatiert der Gesetzgeber einerseits den „Wunsch vieler pflegebedürftiger Menschen, durch vertraute Angehörige in gewohnter Umgebung gepflegt zu werden.“ Dies lässt sich durch die Zahlen der Pflegestatistik untermauern: Zumindest in den Pflegestufen I und II geht der Trend dahin, das pflegebedürftige Familienmitglied zu Hause zu pflegen. Die oftmals als „Abschiebung“ empfundene Weggabe in ein Pflegeheim wird so vermieden. Andererseits ist die ambulante Pflege, insbesondere jedoch die häusliche Pflege durch Angehörige, für die Pflegeversicherung günstiger als die vollstationäre Versorgung des pflegebedürftigen Patienten in einem Heim.[9] Um es berufstätigen Angehörigen leichter zu ermöglichen, sich eine gewisse „Auszeit“ zur Pflege naher Familienangehöriger zu nehmen, sind durch das PflegeZG die hierfür erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen worden. Die Vereinbarkeit von Beruf und familiärer Pflege soll ausweislich der Gesetzesbegründung gestärkt werden.
Die praktische Umsetzung dieses lobenswerten Ansinnens stößt in der arbeitsrechtlichen Literatur jedoch nur auf verhaltene Gegenliebe. Zu offensichtlich sind die Schwächen der gefundenen Regelung, zu einladend ist die Möglichkeit zum Missbrauch in Zeiten drohender Entlassungen. So spricht der Stuttgarter Arbeitsrechtler Jobst-Hubertus Bauer von einem „Gesetz von mäßiger Qualität“, das unter massiven handwerklichen Fehlern leide.[10] Deutlicher formuliert es der Kölner Arbeitsrechtler Ulrich Preis: das PflegeZG schicke sich an, „abermals eine Illustration unausgereifter Gesetzgebung im Arbeitsrecht zu geben“.[11]
Beachtlich ist jedenfalls die hohe Zahl an Aufsätzen und Kurzkommentaren zum Thema PflegeZG, die in der zweiten Jahreshälfte 2008 erschienen sind. Ob nun inhaltliche Zustimmung oder harsche handwerkliche Kritik – für entsprechende Aufmerksamkeit hat das PflegeZG in seinem ersten Lebensjahr jedenfalls gesorgt. In welchen Punkten aber hat sich seit dem Inkrafttreten des PflegeZG die Rechtslage geändert, wo bleibt die bisherige Rechtslage bestehen? Was hat es mit den oftmals kritisierten handwerklichen Mängeln der Regelung auf sich? Die vorliegende Arbeit will diesen Fragen nachgehen und – wo erforderlich – Wege der Eingliederung in die Systematik des Arbeitsrechts aufzeigen.
Erkrankt der Arbeitnehmer selbst und wird hierdurch arbeitsunfähig,
befreit ihn § 275 I BGB von der Pflicht zur Arbeitsleistung, denn die geschuldete Leistung ist für ihn als Schuldner unmöglich geworden.[12] Die primäre, vergütungsrechtliche Folge ergibt sich sodann aus § 326 I BGB: Da der Arbeitnehmer als Schuldner nach § 275 I BGB nicht zu leisten braucht und keine Ausnahme im Sinne von § 326 II S. 1 BGB eingreift, entfällt der Anspruch auf die Gegenleistung.[13] Diese – durch die Schuldrechtsreform im Jahre 2002 neu gestaltete – Regelung des allgemeinen Schuldrechts wird jedoch zu Gunsten des Arbeitnehmers durch eine Sondernorm aus dem Dienstvertragsrecht durchbrochen. § 616 BGB sieht in Abweichung zu den allgemeinen Regelungen des Schuldrechts vor, dass die zur Dienstleistung verpflichtete Partei – sprich der Arbeitnehmer – „des Anspruchs auf die Vergütung nicht dadurch verlustig [wird], dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird.“ Diese Norm, die nach der ursprünglichen Konzeption des BGB dem Arbeitnehmer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall garantieren sollte, wird in ihrem eigentlichen Anwendungsbereich heute wiederum von den spezielleren Regelungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) verdrängt.[14]
Der Anwendungsbereich des § 616 BGB ist damit stark geschrumpft. § 616 BGB ist anwendbar, wenn das nicht schuldhafte, kurzfristige Arbeitsversäumnis des Arbeitnehmers auf einen in seiner Person liegenden Grund zurückgeht und das EFZG nicht vorrangig eingreift. Hierunter fällt beispielsweise die ärztliche Vorsorgeuntersuchung während der Arbeitszeit,[15] außergewöhnliche Familienereignisse,[16] ein unaufschiebbarer Behördentermin[17] oder eine gerichtliche Ladung.[18]
Erkrankt ein naher Angehöriger des Arbeitnehmers schwer und bedarf der Pflege, gilt im Grundsatz die gleiche Systematik. Hier schließt die Einrede des § 275 III BGB die Leistungspflicht des Arbeitnehmers aus,[19] ohne dass das Gesetz hierfür eine ausdrückliche, zeitliche Begrenzung vorsieht.[20] § 326 I BGB verneint im Grundsatz die Vergütungspflicht des Arbeitgebers für die versäumte Arbeitszeit.[21] §§ 616 BGB, 19 I Nr. 2 lit b BBiG und 45 I SGB V regeln Ausnahmen von dem Grundsatz „ohne Leistung keine Gegenleistung“. Ebenso wie § 616 BGB konnten die beiden letztgenannten Normen bereits nach bisheriger Rechtslage den Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung bei der kurzzeitigen Pflege erkrankter Angehöriger aufrechterhalten.
Erkrankt unvorhersehbar ein naher Angehöriger und ist die Pflege durch den Arbeitnehmer erforderlich, gilt dies als persönliches Leistungshindernis im Sinne des § 616 BGB.[22] Der Vergütungsanspruch bleibt daher bestehen, sofern die Verhinderung des Arbeitnehmers einen verhältnismäßig nicht erheblichen Zeitraum betrifft. Die Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs ist freilich umstritten: Die Rechtsprechung tendiert dazu, eine Obergrenze von fünf Arbeitstagen pro Angehörigem und Kalenderjahr anzunehmen,[23] in der Literatur werden mitunter andere Grenzwerte genannt.[24] Die beiden entscheidenden Schwachpunkte der Regelung offenbaren sich jedoch erst auf den zweiten Blick: Zum einen ist die „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“ Tatbestandsmerkmal des vergütungserhaltenden Anspruchs. Das bedeutet, dass dort, wo die Fehlzeit den genannten Zeitraum übersteigt, ein Tatbestandsmerkmal von § 616 BGB nicht vorliegt und daher der Anspruch insgesamt nicht eingreift.[25] Damit bleibt es in diesen Fällen bei der allgemeinen schuldrechtlichen Regelung des § 326 I BGB, mit der Folge, dass der Arbeitnehmer die Zeit des Arbeitsausfalls nicht vergütet bekommt. Zum anderen handelt es sich bei § 616 BGB um eine dispositive Norm, die im individuellen Arbeitsvertrag, durch Betriebsvereinbarung oder durch Tarifvertrag abbedungen werden kann.[26] Von dieser Möglichkeit haben beispielsweise die Tarifparteien des öffentlichen Dienstes in § 29 I S. 1 lit e (aa) TVöD Gebrauch gemacht. Hiernach steht einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes zur Betreuung eines schwer erkrankten, erwachsenen Angehörigen lediglich ein Anspruch auf bezahlte Arbeitsbefreiung in Höhe von einem Arbeitstag pro Kalenderjahr zu.
In Berufsausbildungsverhältnissen garantiert § 19 I Nr. 2 lit b BBiG eine Fortzahlung der Vergütung für eine Dauer von bis zu sechs Wochen, sofern der Auszubildende aus einem in seiner „Person liegenden Grund unverschuldet verhindert [ist, seine] Pflichten aus dem Berufsausbildungsverhältnis zu erfüllen.“ Ebenso wie § 616 BGB ist diese Vorschrift im Falle der eigenen Erkrankung des Auszubildenden von den spezielleren Normen des EFZG verdrängt: § 1 II EFZG regelt ausdrücklich, dass auch die zur Berufsausbildung Beschäftigten dem Arbeitnehmerbegriff des EFZG unterfallen. Der Anwendungsbereich dieses vergütungserhaltenden Anspruchs entspricht damit dem von § 616 I BGB. Im Berufsausbildungsverhältnis verdrängt jedoch § 19 I Nr. 2 lit b BBiG als lex specialis den allgemeineren § 616 BGB.[27] Die in Literatur und Rechtsprechung anerkannten, subjektiven Verhinderungsgründe sind freilich die selben: Auch hier unterfällt die schwerwiegende Erkrankung eines nahen Angehörigen dem sonstigen in der Person liegenden Grund.[28] Im Unterschied zu § 616 BGB fehlt in § 19 I Nr. 2 lit b BBiG jedoch das Tatbestandsmerkmal des „nicht erheblichen Zeitraums“; an dessen Stelle tritt eine Beschränkung auf eine Dauer von bis zu sechs Wochen. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass der Auszubildende, der einen erkrankten Angehörigen pflegt, in jedem Fall für die Dauer von sechs Wochen seine Ausbildungsvergütung fortbeziehen kann. Die Literatur weist darauf hin, dass die in der Person des Auszubildenden liegende Verhinderung nur so lange andauert, bis eine anderweitige Betreuung des pflegebedürftigen Angehörigen zumutbar organisiert werden kann.[29] Wenn auch die zeitlichen Grenzen von § 616 BGB aufgrund des bewusst abweichenden Wortlautes keine direkte Übertragung auf § 19 I Nr. 2 b BBiG finden können, wird der zu vergütende Zeitraum in etwa im Rahmen der fünf Arbeitstage von § 616 BGB veranschlagt.[30] Anders als § 616 BGB ist jedoch der vergütungserhaltende Anspruch nach § 19 I Nr. 2 b BBiG weder durch Individualvereinbarung noch durch kollektivrechtliche Regelung abdingbar.[31]
Erkrankt das gesetzlich krankenversicherte Kind[32] des Arbeitnehmers und kann keine andere, im gleichen Haushalt lebende Person dessen Betreuung übernehmen, hat der Versicherte den Anspruch nach § 45 SGB V, sofern es medizinisch erforderlich ist, dass er zur Beaufsichtigung, Betreuung und Pflege des Kindes der Arbeit fernbleibt. Die Norm regelt zweierlei: Zum einen gewährt Absatz 3 einen unmittelbar gegen den Arbeitgeber gerichteten, speziellen arbeitsrechtlichen Freistellungsanspruch,[33] der an die Stelle von § 275 III BGB tritt. Im Vergleich zu dem Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 III BGB hat der Anspruch nach § 45 SGB V jedoch geringere Voraussetzungen. Hierfür genügt es, dass ein approbierter Arzt die Krankheit des Kindes und die Erforderlichkeit seiner Betreuung bescheinigt,[34] eine umfassende Abwägung zwischen Schuldner- und Gläubigerinteresse, wie sie § 275 III BGB vorsieht, ist nicht erforderlich.[35] Der Anspruch nach § 45 SGB V wird ebenfalls nicht dadurch beeinträchtigt, dass auch der andere Elternteil von seinem Freistellungsanspruch nach § 45 SGB V Gebrauch machen und zur Pflege des Kindes zu Hause bleiben könnte.[36] Zeitlich ist der Anspruch auf Freistellung nach § 45 SGB V auf zehn Arbeitstage je Kind und Kalenderjahr, maximal jedoch auf 25 Tage, begrenzt.[37]
Zugleich gewährt § 45 I SGB V einen Entgeltersatzanspruch gegen die Krankenkasse und sichert somit die wirtschaftliche Existenz der Familie während der Zeit der Krankenpflege. Dieser Anspruch ist gegenüber den Entgeltfortzahlungsansprüchen nach § 616 BGB und § 19 I Nr. 2 lit b BBiG subsidiär,[38] denn der Anspruch auf Krankengeld ruht ausweislich § 49 I Nr. 1 SGB V, „soweit und solange Versicherte beitragspflichtiges Arbeitseinkommen erhalten.“ Ebenso wie bei § 19 I Nr. 2 lit b BBiG handelt es sich bei § 45 SGB V um zwingendes Recht, ein Ausschluss der Norm durch Individualarbeits- oder Tarifvertrag kommt daher nicht in Betracht.[39]
[...]
[1] Alle genannten Zahlen entstammen der Pflegestatistik 2007, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden, S. 4 bis 12.
[2] Pflegestatistik 2007, S. 4: 1,54 Mio. Personen – das entspricht 68 % der Pflege-bedürftigen.
[3] Pflegestatistik 2007, S. 4: 709.000 Personen – das entspricht 32 % der Pflege-bedürftigen.
[4] Pflegestatistik 2007, S. 4.
[5] Pflegestatistik 2007, Schaubild, S. 12: 61,8 %.
[6] Pflegestatistik 2007, Schaubild, S. 12: 29,9 %.
[7] Pflegestatistik 2007, Schaubild, S. 12.
[8] Als Art. 3 des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes, Bundesgesetzblatt vom 30. Mai 2008, S. 874ff.
[9] So erstattet die Pflegeversicherung für die häusliche Pflege eines erheblich pflegebedürftigen Menschen (Pflegestufe I) gegenwärtig € 420,- im Monat, für die vollstationäre Pflege wären € 1.023,- zu leisten. Quelle: BMG Ratgeber Pflege, Leistungsübersicht, S. 34ff.
[10] Bauer, AuA 2008, 321.
[11] Preis/Weber, NZA 2008, 82.
[12] Palandt/ Heinrichs, § 275, Rn. 30; Däubler, NZA 2001, 1332; a. A. jedoch Kießling/Jünemann, DB 2005, 1684, die krankheitsbedingte Leistungsunfähigkeit des Schuldners in der „ganz überwiegenden“ Anzahl der Fälle anhand der Abwägung des § 275 III BGB entscheiden wollen.
[13] Küttner/ Schlegel, Leistungsverweigerungsrecht, Rn. 18; Kohte, NZA 1989, 161.
[14] Palandt/ Weidenkaff, § 616 BGB, Rn. 17. Der zu Grunde liegende, sozialpolitische Gedanke der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist jedoch in beiden Normen identisch, vgl. EK/ Dörner, § 616 BGB, Rn. 7.
[15] BAG vom 27. Juni 1990, AP BGB § 616, Nr. 89.
[16] BAG vom 14. Februar 1962, DB 1962, 575; BAG vom 27. April 1983, DB 1983, 2201; Küttner/ Griese, Arbeitsverhinderung, Rn. 3.
[17] BAG vom 13. Dezember 2001, NZA 2002, 1105; EK/ Dörner, § 616 BGB, Rn. 7.
[18] EK/ Dörner, § 616 BGB, Rn. 7; a.A. jedoch Küttner/ Griese, Arbeitsverhinderung, Rn. 6 und 7 unter Hinweis auf die gesetzlichen Regelungen zur Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen.
[19] MüKo/ Ernst, § 275 BGB, Rn. 118; Palandt/ Heinrichs, § 275, Rn. 30; ausdrücklich bereits die Gesetzesbegründung des Schuldrechtsreformgesetzes, BT-Ds. 14/6040, S. 130: „Schulbeispiel ist der Fall der Sängerin, die sich weigert aufzutreten, weil ihr Kind lebensgefährlich erkrankt ist.“
[20] Preis/Nehring, NZA 2008, 729 (731); Greiner, NZA 2007, 490 (491); Kießling/Jünemann, DB 2005, 1684 (1686).
[21] Palandt/ Heinrichs, § 275, Rn. 30.
[22] EK/ Dörner, § 616 BGB, Rn. 8; Preis/Nehring, NZA 2008, 729 (732); Kießling/Jünemann, DB 2005, 1684 (1687).
[23] BAG vom 20. Juli 1977, AP BGB § 616, Nr. 47: „Im Allgemeinen wird der Arbeitgeber nur verpflichtet sein, seinem Arbeitnehmer nur für wenige Tage den Lohn fortzuzahlen, wenn eine plötzlich auftretende Erkrankung eines nahen Angehörigen ihm keine andere Wahl lässt, als der Arbeit fernzubleiben“, zustimmend Staudinger/ Oetker, § 616, Rn. 99; Freihube/Sasse, DB 2008, 1320 (1321); Küttner/ Griese, Arbeitsverhinderung, Rn. 13; Schulz, DB 2006, 838 (839).
[24] Schaub stellt die Faustregel auf, dass bei einer Betriebszugehörigkeit von weniger als sechs Monaten drei Tage, bei einer Betriebszugehörigkeit von sechs Monaten bis zu einem Jahr fünf Tage und ab einer Betriebszugehörigkeit von einem Jahr maximal zwei Wochen Arbeitsausfall von der Regelung des § 616 BGB umfasst seien; vgl. Schaub -AR, § 97 II 3. EK/ Dörner, § 616 BGB, Rn. 10a hält gerade im Hinblick auf die neu geschaffene Regelung zur Pflegezeit nun einen Vergütungsanspruch von bis zu zehn Tagen für angebracht.
[25] BAG vom 18. Dezember 1959, AP BGB § 616, Nr. 22; EK/ Dörner, § 616 BGB, Rn. 10; Freihube/Sasse, DB 2008, 1320 (1321); Küttner/ Griese, Arbeitsverhinderung, Rn. 10; kritisch zu diesem Verständnis von § 616 BGB Greiner, NZA 2007, 490 (492).
[26] Arg. ex § 619 BGB, der den entgelterhaltenden Anspruch des § 616 BGB nicht nennt; vgl. BAG vom 25. August 1982, DB 1982, 2574; EK/ Dörner, § 616 BGB, Rn. 13 m.w.N.
[27] EK/ Schachter, § 19 BBiG, Rn. 1.
[28] EK/ Schachter, § 19 BBiG, Rn. 5.
[29] EK/ Schachter, § 19 BBiG, Rn. 5 m.w.N.
[30] Staudinger/ Oetker, § 616, Rn. 93.
[31] EK/ Schachter, § 19 BBiG, Rn. 5; Greiner, NZA 2007, 490; Müller, BB 2008, 1058 (1063).
[32] Der Begriff des Kindes wird durch den Verweis auf § 10 IV SGB V klargestellt und umfasst auch Enkelkinder, Kinder des Lebenspartners, Stiefkinder und Pflegekinder. Das Kind darf dabei das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder es muss – ohne dass sein Alter Berücksichtigung findet – behindert und auf Hilfe angewiesen sein.
[33] Es genügt die Information an den Arbeitgeber, dass die Tatbestandsvoraussetzungen von § 45 SGB V vorliegen und der Arbeitnehmer von seinem Recht auf unbezahlte Freistellung Gebrauch macht. Einer Genehmigung seitens des Arbeitgebers bedarf es dem gegenüber nicht, vgl. LAG Hamm vom 08. Oktober 2001, LAG-Report 2002, 196.
[34] Becker/Kingreen/ Joussen, SGB V, § 45 Rn. 4; EK/ Rolfs, § 45 SGB V, Rn. 4 und 5.
[35] Greiner, NZA 2007, 490 (493); Schulz, DB 2006, 838.
[36] EK/ Rolfs, § 45 SGB V, Rn. 5; Kießling/Jünemann, DB 2005, 1684 (1686).
[37] Im Falle alleinerziehender Versicherter verdoppelt sich der Anspruch auf 20 Tage je Kind und Kalenderjahr, maximal jedoch auf 50 Arbeitstage, § 45 II, S. 2 SGB V.
[38] Becker/Kingreen/ Joussen, SGB V, § 45 Rn. 8; Greiner, NZA 2007, 490 (493); Schulz, DB 2006, 838 (839). Das LAG Köln (Urteil vom 11. August 1994, BB 1995, 625) spricht anschaulich von einem „Nachrang des Sozialversicherungsrechts“.
[39] Vgl. § 45 III S. 3 SGB V.
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