Veröffentlichen auch Sie Ihre Arbeiten - es ist ganz einfach!
Mehr InfosBachelorarbeit, 2009, 71 Seiten
Bachelorarbeit
Technische Universität Chemnitz (Philosophische Fakultät, Europa-Studien)
1,5
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmung und Differenzierung von Migration
3. Notwendigkeit und Umfang einer Migrationspolitik der EU
3.1 Migrationstrends der EU
3.2 Migrationspotential
3.3 Bedeutungen der Migration für die EU
3.3.1 Demographischer Aspekt
3.3.2 Wirtschaftlicher Aspekt
3.3.3 Zusammenleben von Unionsbürgern und Migranten
3.3.4 Sicherheitsaspekt
3.3.5 Entwicklungspolitischer Aspekt
3.4 Schlussfolgerungen für eine Migrationspolitik der EU
4. Entwicklung und Anspruch der Migrationspolitik der EU
4.1 Implementierung in europäisches Recht
4.2 Das Programm von Tampere
4.3 Das Haager Programm
4.4 Zukünftiges Programm für die Migrationspolitik
4.5 Anspruch der Migrationspolitik der EU
5. Handlungsfelder der Migrationspolitik
5.1 Legale Zuwanderung und Arbeitsmigration
5.2 Asylpolitik
5.3 Sicherheit und illegale Migration
5.4 Integrationspolitik
5.5 Zusammenarbeit mit Drittstaaten
6. Gesamtbewertung und Ausblick
Anhangverzeichnis
Anhang
Darstellungsverzeichnis
Quellenverzeichnis
„There can be no doubt that European societies need immigrants.“
Kofi Annan, 2004
2004 wurden die Verdienste der Vereinten Nationen um die Verteidigung der Menschenrechte und Meinungsfreiheit mit dem Sacharow-Preis des Europäischen Parlamentes gewürdigt. Stellvertretend nahm der damalige Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, den Preis entgegen. Bei seiner Rede vor dem Parlament forderte er ein liberales Migrationsmanagement und mahnte das Verhalten der Europäischen Union (EU) gegenüber Einwanderer an. Die EU würde eine restriktive Politik verfolgen, die nicht nur den Flüchtlingsschutz unterlaufen würde, sondern auch die eigenen Bedürfnisse ignoriere. Die Bevölkerung der EU sei stark vom demographischen Wandel betroffen. Sie würde immer älter werden, gleichzeitig seien die Geburtenzahlen rückläufig. In wenigen Jahren würde sich daher die Einwohnerzahl spürbar verringern, Arbeitsstellen könnten nicht besetzt werden und der Wohlstand der EU sei ernsthaft in Gefahr: „A closed Europe would be a meaner, poorer, weaker, older Europe. An open Europe will be a fairer, richer, stronger, younger Europe – provided Europe manages immigration well.“[1]
Dass die EU für Migranten aus aller Welt ein attraktives Zielgebiet darstellt, kann nicht bezweifelt werden. Regelmäßige Pressemeldungen von überfüllten Flüchtlingslagern oder an der Küste des Mittelmeers gestrandeten Boatpeople zeugen von der Anziehungskraft der EU. Somit wäre es für die europäischen Nationen unproblematisch, ihren Bevölkerungsrückgang auszugleichen. Kofi Annan spricht aber bewusst von der Notwendigkeit eines Migrationsmanagements, d.h. einer zielgerichteten Steuerung der Migration. Denn mit der Zuwanderung von Menschen sind umfangreiche Herausforderungen für Wirtschaft, Gesellschaft und Staat verbunden.
Die Pressemeldungen über Migranten, die sich Zugang zur EU verschaffen wollen, deuten daraufhin, dass die Union bislang in der Steuerung der Migrationsströme nicht erfolgreich ist. Für die EU ist die Migrationspolitik ein junges Tätigkeitsfeld. Erst zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts begann die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten in diesem Bereich. Die Zusammenarbeit ist dabei keine Selbstverständlichkeit, denn die Migrationssteuerung gehört zu den grundlegenden nationalen Souveränitätsrechten eines Staates. Außerdem ist die Migrationspolitik kein geschlossenes Feld, sondern hat Relevanz für die Innen-, Außen-, Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und Entwicklungspolitik eines Landes. Hinzu kommt, dass sich viele europäische Nationen, darunter Deutschland, lange Zeit als Nicht-Einwanderungsland verstanden haben und sich vehement dagegen wehrten, dass für sie die Zuwanderung von Migranten Bedeutung hat. Um so überraschender ist es daher, dass in dieser kurzen Zeitspanne die Mitgliedsstaaten bereit waren, umfangreiche Kompetenzen an die EU zu übertragen und mit welcher Dynamik sich das Verständnis über eine europäische Migrationspolitik seitdem entwickelt hat.
Man muss aber unterscheiden zwischen dem Anspruch, den die EU an die Migrationspolitik stellt und dem, was tatsächlich an Recht gesetzt wurde. Die EU hat sich ehrgeizige politische Ziele gesetzt, die umfangreich sind und den Chancen sowie Risiken der Migration vollends Beachtung schenken. Allerdings ist die Umsetzung mangelhaft. Das gesetzte Recht im Bereich Migration ist einseitig und legt großen Wert auf die Zuwanderungskontrolle. Es überbetont Sicherheitsbedenken und ignoriert dabei den Bedarf an Migranten, den die EU-Staaten haben. Es ist daher nicht dazu geeignet, dass die EU Nutzen aus der Zuwanderung ziehen kann, die sie dringend notwendig hat. Dabei würde gerade eine aktive Zuwanderungspolitik, die legale Zuwanderungsmöglichkeiten für Migranten bietet, eine bessere Zuwanderungssteuerung ermöglichen. Außerdem hat die restriktive Ausrichtung der Migrationspolitik zur Folge, dass die EU ihrer Verantwortung für Flüchtlinge nicht gerecht wird.
Ziel der Arbeit ist es, eine Bewertung der Migrationspolitik der EU vorzunehmen. Dazu ist sie in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es darum, festzustellen, in welchem Maße die EU von den verschiedenen Formen der Migration betroffen ist und ob dies für alle 27 Mitgliedsländer gleichermaßen gilt. Außerdem wird eine Trendanalyse angestellt, um einzuschätzen, ob der Zuwanderungsdruck auf die EU zukünftig eher zu- oder abnimmt. Das ist wichtig, um den Handlungsbedarf der EU einschätzen zu können. Anschließend werden die Chancen und Risiken, die mit der Migration für die EU-Staaten verbunden sind, skizziert, um den Umfang einer europäischen Migrationspolitik zu bestimmen. Die Folgen der Migration für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu bestimmen, ist auch deshalb notwendig, um die bisherigen Regulierungen der EU nachvollziehen und bewerten zu können. Denn bevor der Gesetzgeber Recht setzt, gehört es zu seinen Sorgfaltspflichten sich mit dem zu regulierenden Bereich auseinanderzusetzen, da sonst sein Gesetz unbrauchbar oder gar kontraproduktiv sein kann.
Im zweiten Teil wird die Entwicklung der Migrationspolitik der EU aufgezeigt und welche Kompetenzen die EU-Staaten an sie übertragen haben. Anhand des Kompetenzumfangs und der Zielsetzungen, die sie in verschiedenen Grundsatzprogrammen formuliert hat, wird der Anspruch der EU festgestellt, den sie mit ihrer Migrationspolitik verfolgt.
An dem, was man sich vorgenommen hat, kann man die Migrationspolitik der EU nicht einschätzen. Daher geht es im dritten Teil um das geschaffene Recht. Die erlassenen Richtlinien und Verordnungen in den einzelnen Handlungsfelder werden vorgestellt und nach ihrem Inhalt und ihrer Wirkung bewertet.
Abschließend wird eine Gesamtbewertung der Migrationspolitik anhand der Ergebnisse der drei Teile dieser Arbeit vorgenommen Die Notwendigkeit der Zuwanderung, der Anspruch der Migrationspolitik und die tatsächlich getroffenen Maßnahmen werden dazu gegenübergestellt. Davon abgeleitet wird der Handlungsbedarf, der für die EU besteht und es werden Handlungsmöglichkeiten vorgeschlagen.
Zunächst ist aber zum besseren Verständnis eine Begriffsdefinition von Migration nötig und es gilt, die verschiedenen Einwanderungsformen vorzustellen.
Für den Begriff Migration gibt es keine einheitliche Definition. Die Wanderungsbewegungen, die er bezeichnet, sind zu komplex, als dass sie sich in eine allgemein gültige Formel zwängen ließen. Grundsätzlich wird von Migration bzw. Wanderung gesprochen, wenn eine Person kurz- oder langfristig seinen Aufenthaltsort über eine staatliche Grenze hinweg in ein anderes Land verlegt. Dabei unterscheidet man je nach Blickrichtung zwischen Immigranten, d.h. Personen, die in ein Land einwandern und Emigranten, die ein Land verlassen. Sprachlich wird Migration dabei als Oberbegriff genutzt. Die sprachliche Verwendung ist aber nicht einheitlich. Während in Deutschland etwa mit Immigration ein langer Aufenthalt des Einwandernden verbunden wird, wird der Begriff in den USA für jede Form von Einwanderung verwendet, somit auch der Kurzaufenthalt eines Touristen.
Auf juristischer Ebene werden Migranten nach verschiedenen Kriterien differenziert. Die Vereinten Nationen (UN) unterscheiden nach der Dauer des Aufenthalts des Migranten. Als „long-term migrants“ werden Personen bezeichnet, die für mindestens zwölf Monate ihren Hauptwohnsitz im Ausland haben. „Short-term migrants“ sind dementsprechend Personen, die für einen kürzeren Zeitraum auswandern.[2] Differenziert wird zudem nach dem Grund für den Aufenthalt in einem anderen Land. Personen, die für die Berufsausübung ihren Wohnsitz über eine Grenze hinweg verlegen, werden als Arbeitsmigranten bezeichnet. Abgegrenzt werden sie dabei von Pendlern und Saisonarbeitnehmern, die ihren (Haupt-)Wohnsitz in ihrem eigenem Staat haben, aber periodisch eine Staatengrenze zum Arbeiten überschreiten.
Eine weitere Gruppe an Migranten sind Flüchtlinge, die durch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 definiert sind. Dazu zählen alle Menschen, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befinden“[3]. Sie haben Anspruch auf Asyl, mit dem sie internationalen Schutz erhalten.
Eine bedeutende Gruppe sind auch die einem Migranten nachreisenden Angehörigen. Bei dieser Wanderungsform spricht man von Familienmigration. Wer zur Familie eines Migranten zählt, ist allerdings in den nationalen Gesetzen unterschiedlich geregelt.[4]
Da für viele Staaten ausländische Arbeitskräfte interessant sind, werden Migranten auch nach ihrer Qualifikation klassifiziert. Hochqualifizierte Personen zeichnen sich dabei durch besondere Fachkenntnisse und eine gute Ausbildung aus. Geringqualifizierte haben hingegen keine oder nur eine kurze Ausbildung vorzuweisen.
Eine eigene Bezeichnung findet sich für Personen, die nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt in ihr Heimatland zurückkehren, um nach längerer Zeit wieder auszuwandern. Diese Migrationsform wird als „zirkuläre Migration“ bezeichnet.
Eine weitere Kategorie sind illegale Migranten. Dazu zählen Personen, deren Aufenthalt illegal ist, weil ihre Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist oder sie ohne Erlaubnis in ein Land eingereist sind.
Eine weitere Einteilung nimmt die Europäische Union (EU) vor. Sie unterscheidet bei Migranten zwischen Unionsbürgern, d.h. Angehörigen einer der 27 Mitgliedsstaaten, die innerhalb der EU-Staaten ihren Wohnsitz ändern und Drittstaatsangehörigen, also Migranten, die aus einem Nicht-EU-Staat sind.
Zur Vereinfachung der Begriffsvielfalt werden in dieser Arbeit die Begriffe Migrant, Ausländer, Einwanderer und Zuwanderer synonym verwendet. Dabei werden durch sie grundsätzlich Personen umschrieben, die sich für mehr als einem Jahr in der EU-27 niedergelassen haben bzw. niederlassen wollen und nicht Staatsangehöriger eines der Mitgliedsstaaten der EU sind. Bei den verschiedenen Formen der Migration, d.h. der Familienmigration, illegale Migration, Arbeitsmigration und Flüchtlingsmigration werden die oben aufgeführten Definitionen angewendet.
Um festzustellen, ob eine Migrationspolitik der EU nötig ist und welchen Umfang sie haben sollte, ist die Analyse des Phänomens Migration nötig. Dabei gilt es zunächst festzustellen, in welchem Maße die EU von Einwanderung betroffen ist und ob ihr in allen EU-Staaten ähnliche Bedeutung zukommt. Diese Feststellung ist auch wichtig, um die Beschlussfähigkeit im Bereich Migration einzuschätzen, denn sind die Unterschiede zu groß, wird die auf Konsens ausgelegte EU-Politik erschwert. Anschließend werden die Auswirkungen der Zuwanderung für die EU dargestellt, d.h. welche Chancen und Risiken sich ergeben. So lässt sich ableiten, welche grundsätzlichen Ziele eine EU-Migrationspolitik verfolgen sollte.
Die im ersten Abschnitt analysierten Statistiken wurden mehrheitlich vom Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaft, Eurostat, bezogen. Eurostat verwendet für Migranten den „long-term migrant“ - Begriff der UN, der Personen mit einem Aufenthalt von mindestens zwölf Monaten in einem anderen Land bezeichnet. Problematisch ist dabei, dass die nationalen Statistiken von den Mitgliedsstaaten der EU zusammengetragen werden, von denen nicht alle diese Definition nutzen. Manche Staaten verwenden die beabsichtigte Dauer eines Aufenthalts als Grundlage, andere die tatsächliche Dauer. Einige Länder erfassen alle einreisenden Drittstaatsangehörigen als Migranten, somit auch Touristen, andere verwenden einen anderen Zeitraum als Eurostat.[5] Durch eine Verordnung der EU vom 11. Juni 2007 werden zukünftig einheitliche Definitionen und Erfassungskriterien von den Mitgliedsstaaten genutzt.[6] Für alle vorliegenden Daten galt diese Vereinheitlichung noch nicht. Ein Vergleich der Statistiken ist daher nur eingeschränkt möglich, Trends lassen sich aber unproblematisch ableiten. Zu beachten ist auch, dass die Statistiken der Mitgliedsstaaten ebenso Drittstaatsangehörige erfassen, die bereits in der EU waren und innerhalb der EU-Staaten gewandert sind.
Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts war Europa ein Auswanderungsgebiet. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, insbesondere in den westlichen Ländern Europas, wurde der Kontinent zum Zielgebiet für Migranten aus aller Welt. Heute ist Europa die zweitwichtigste Einwanderungsregion der Welt nach Nordamerika.[7] Innerhalb von nur vier Jahrzehnten haben allein die EU-Staaten 20 Millionen Menschen aufgenommen.
Grafik 1 zeigt den Anstieg der Einwanderungszahlen in der EU. War das Wanderungssaldo (net migration) zunächst schwankend, ist es seit Mitte der 80er Jahre durchweg positiv, d.h. seit dieser Zeit wandern mehr Personen in die EU ein, als sie verlassen. Nach dem Jahrtausendwechsel ist die Zuwanderungsrate sprunghaft angestiegen und hat die Marge von zwei Millionen Migranten überstiegen. 2007 betrug der Zuwachs 2,4 Millionen Personen.[8]
Grafik 1: Natürliches Bevölkerungswachstum und Wanderungssaldo, 1960 - 2006
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eurostat
In der Grafik wird auch deutlich, dass seit dem Jahr 1992 das Wanderungssaldo größer ist als das natürliche Bevölkerungswachstum (natural change), das sich aus der Differenz von Geburtszahl und Todeszahl berechnet. Mittlerweile sind ca. 80% des Bevölkerungswachstums der EU auf Einwanderungen zurückzuführen.[9]
Trotz der steigenden Zuwanderungszahlen kann kein Mitgliedsstaat der EU zu den klassischen Einwanderungsländern der Erde gezählt werden. Bei einer Gesamtbevölkerung von 497 Millionen Menschen beträgt die Zahl der Migranten etwa 20 Millionen, was einem Anteil von vier Prozent entspricht. In den USA liegt dieser vergleichsweise bei über zwölf Prozent.[10] Zudem gibt es große Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten der EU. Aus Bulgarien, Lettland und den Niederlanden wurde für 2007 sogar ein negatives Wanderungssaldo gemeldet, d.h. es sind mehr Menschen aus- als eingewandert.
Die meisten der Drittstaatsangehörigen finden sich in den bevölkerungsreichen Ländern der EU. In Deutschland sind mit 4,2 Millionen Personen[11] die meisten Ausländer wohnhaft, gefolgt von Spanien mit 3,2 Millionen. In Italien, Großbritannien und Frankreich beträgt die Ausländerzahl jeweils mehr als 2 Millionen. Diese Zahlen addiert zeigen, dass in fünf der 27 Staaten mehr als die Hälfte aller Migranten leben. Die niedrigsten Ausländerzahlen finden sich in den neuen Mitgliedsstaaten[12], von denen Malta mit 4.000 Migranten die geringste Zahl vorweist, gefolgt von der Slowakei mit 11.500. Auch in den relativ bevölkerungsreichen Ländern Bulgarien und Rumänien sind es nur 25.600 bzw. 30.700 Ausländer. Ausschließlich Tschechien und Slowenien können mit 171.000 bzw. 46.000 Migranten eine relativ hohe Ausländerzahl vorweisen. Von den alten EU-Staaten beherbergt Luxemburg mit ca. 27.000 die wenigsten Drittstaatsangehörigen.
Setzt man die Zahl der Ausländer ins Verhältnis zur Einwohnerzahl, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Von den fünf EU-Staaten, die das Gros der Drittstaatsangehörigen aufgenommen haben, liegt der Migrantenanteil nur in Spanien (7,2%) und Deutschland (5,6%) über dem EU-Durchschnitt von vier Prozent. Einen überdurchschnittlich hohen Ausländeranteil haben zudem die kleinen Staaten Griechenland und Österreich mit jeweils ca. 7% vorzuweisen. Am niedrigsten ist der Ausländeranteil in den osteuropäischen Staaten. In Rumänien, der Slowakei und Bulgarien ist nicht einmal jeder Dritte von 1.000 Einwohnern Drittstaatsangehöriger. In Polen, Tschechien und Slowenien liegt der Anteil bei jeweils ca. 2%. Allein Zypern kann unter den neuen EU-Ländern mit 5,7% einen Wert über dem EU-Durchschnitt aufweisen. Unter den westeuropäischen Staaten hat Finnland mit 1,4% den geringsten Ausländeranteil. Statistisch betrachtet haben die beiden baltischen Staaten Estland und Lettland mit 17,6% bzw. 19,7% den mit Abstand höchsten Ausländeranteil. Die hohen Werte sind allerdings nicht auf hohe Migrationszahlen zurückzuführen, sondern haben historische Gründe. Nach dem Zerfall der Sowjetunion, deren Bestandteil beide Länder waren, haben viele Einwohner die jeweilige neue Staatsbürgerschaft nicht angenommen. Sie werden daher statistisch als Russen oder Staatenlose und damit als Drittstaatsangehörige geführt.[13]
Ursächlich für die unterschiedlichen Wanderungsbewegungen der EU-Staaten sind unter anderem die verschiedenen Historien. Belgien, Großbritannien und Frankreich können als ehemalige Kolonialstaaten auf eine lange Einwanderungsgeschichte zurückblicken. Aus ihren außereuropäischen Kolonien immigrierten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ausländer. Die nordischen und mitteleuropäischen Nationen, darunter Deutschland und Österreich, entwickelten sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu Einwanderungsländern. Für Deutschland seien dabei die Gastarbeiter erwähnt, die einen bedeutsamen Beitrag zum deutschen „Wirtschaftswunder“ geleistet haben. Die Mittelmeeranrainer Spanien, Portugal, Griechenland und Italien haben hingegen erst seit wenigen Jahrzehnten positive Wanderungssalden vorzuweisen. Irlands Geschichte als Einwanderungsland begann sogar erst in den 90er Jahren. Eine ähnlich junge Migrationshistorie mit Drittstaatsangehörigen haben die osteuropäischen Länder. Sie waren bis zum Zerfall der Sowjetunion 1992 von Migrationsbewegungen relativ isoliert.
Die Migranten kommen heute fast paritätisch aus allen Teilen der Welt in die EU. 24% sind aus den europäischen Ländern, die nicht der EU angehören. 27% kommen aus Asien, 26% aus Amerika und 22% aus Afrika. Der Rest verteilt sich auf Personen aus Australien und Ozeanien.[14] 2006 stellten die mit Abstand größte Einwanderungsgruppe mit fast 150.000 Migranten Marokkaner dar. Aus Europa waren es vor allem Ukrainer, Albaner und Russen, die in die EU immigrierten. Aus Asien kamen mehrheitlich Türken, Chinesen und Inder. Außerdem wanderten jeweils mehr als 50.000 Bolivier, Brasilianer und US-Amerikaner zu.[15] Die Mehrheit der Migranten sind Bürger von Schwellen- und Entwicklungsländern.
Fast die Hälfte aller Einwanderungen ist auf den Nachzug von Verwandten, d.h. auf Familienmigration, zurückzuführen. In Einwanderungsländern mit langer Tradition, wie Frankreich, beträgt der Anteil sogar 60%. Etwa jeder zehnte Migrant ist ein Arbeitsmigrant. In Italien, Großbritannien und Portugal liegt der Anteil sogar bei 20%. Den geringsten Anteil an den Migranten machen Flüchtlinge aus.[16]
Die Faktoren für Migranten, sich für ein Land zu entscheiden, sind vielfältig. Zu ihnen zählt die geographische Nähe zweier Länder, die beispielsweise die vielen Albaner in Italien erklären. Auch die Sprache ist ein wichtiges Kriterium. Die Portugiesisch und Spanisch sprechenden Südamerikaner bevorzugen etwa die iberische Halbinsel. Wanderungstraditionen, die sich vor Jahrzehnten herausgebildet haben, halten an. Die ehemaligen Kolonialstaaten Europas verzeichnen bis heute einen regen Zustrom aus den ehemals besetzten Ländern. Die Präsenz gleicher Staatsangehörige ziehen die Migranten ebenfalls an. Nach Frankreich wandern vor allem Personen aus den Maghrebstaaten ein, nach Portugal Angolaner und nach Belgien Kongolesen. Inder entscheiden sich häufig für Großbritannien. Andere Netzwerke haben sich erst später entwickelt, wie die Verbindung zwischen Deutschland und der Türkei, die auf die Gastarbeiterschaft vieler Türken in den 60er Jahren zurückzuführen ist. Aber es entstehen auch gänzlich neue Netzwerke. So verzeichnet Spanien seit einigen Jahren einen starken Zustrom an Personen aus der Ukraine. In die osteuropäischen Staaten wandern vor allem Russen, Georgier, Armenier und Ukrainer aus, was ebenfalls auf Sprachverwandtschaft und ihre historische Verbindung zurückzuführen ist.[17] Ein bedeutsamer Faktor ist auch die Wirtschaftslage und Beschäftigungspolitik eines Landes. Dies ist ein wichtiger Grund, um zu erklären, warum sich die Migration so stark auf die westeuropäischen Staaten konzentriert.
Asylanträge sind ein brauchbarer Indikator, um die Attraktivität von Staaten für Migranten zu vergleichen, denn Flüchtlinge wählen bewusst ein Land aus, in dem sie den Antrag stellen. Durch Maßnahmen der EU ist es den Asylsuchenden seit einigen Jahren nicht mehr möglich, mehrere Asylanträge in den EU-Staaten zu stellen. Nur der Staat, in dem der Flüchtling den ersten Antrag gestellt hat, ist für ihn zuständig. Diese Maßnahmen hatten deutliche Auswirkungen auf die Zahl der Asylanträge. Wurden 1992 in der damaligen EU-12 noch 670.000 Anträge gestellt, waren es 2007 in der erweiterten EU-27 nur 192.000.[18] Der Unterschied in der Anziehungskraft zwischen den alten und neuen EU-Staaten wird hier ebenfalls deutlich. Die meisten Anträge wurden in Frankreich gestellt, ca. 39.000.[19] Auch in Schweden, Großbritannien und Deutschland lag die Zahl mit jeweils über 20.000 vergleichsweise hoch. In Lettland und Estland hingegen belief sich die Anzahl der Asylanträge auf 10, in Litauen auf 160 und Slowenien auf 518. Den niedrigsten Wert in der ehemaligen EU-15 hatte Luxemburg mit 160 Anträgen. Die meisten Anträge auf Asyl 2007 stellten Bürger des Irak, Russlands, Serbien und Montenegros, Afghanistans und der Türkei.[20]
Keine genauen Daten liegen über die Zahl der illegalen Einwanderer vor. Fest steht, dass jedes Jahr etwa 340.000 Personen an den Grenzposten der EU zurückgewiesen werden. Dabei ist das Grenzaufkommen wegen der geographischen Nähe zu Afrika besonders in den südlichen Ländern der EU sehr hoch. Davon zeugen überfüllte Auffanglager, etwa auf der italienischen Insel Lampedusa.[21] Außerdem werden jährlich 500.000 Illegale innerhalb der EU aufgegriffen und ca. 300.000 von Ihnen abgeschoben.[22] Die Europäische Kommission schätzt die Gesamtzahl der illegal Aufhältigen auf sieben bis acht Millionen, von denen die Mehrheit Afrikaner sind.[23] Die jährliche Zuwachsrate wird mit 350.000 bis 500.000 Personen angegeben. Eine Million sollen sich allein in Deutschland illegal aufhalten.[24] Die Mehrheit der Illegalen hat auf legalem Wege, etwa mit einem Visa, die EU betreten, diese aber nach Ablauf der Aufenthaltsgenehmigung nicht verlassen.
Es lässt sich festhalten, dass Migration in der EU keine Randerscheinung ist, sondern spürbaren Umfang hat. Alle Formen der Migration nehmen zu, wobei die Familienmigration unter den legalen Zuwanderungsmöglichkeiten die größte Rolle spielt. Ausgenommen von dieser Entwicklung ist die Zahl der Asylbewerber, die rückläufig ist. Im Wanderungsgeschehen der Mitgliedsstaaten gibt es ein deutliches West-Ost-Gefälle, denn die Migration konzentriert sich in hohem Maße auf die alten EU-Staaten. Auch die Erfahrungen mit Einwanderung sind in diesen Ländern wesentlich höher als in den neuen EU-Staaten. Außerdem gibt es – auch aus geographischen Gründen – ein Nord-Süd-Gefälle im Grenzaufkommen. Die Grenzen der südlichen Staaten der EU sind weitaus stärker belastet, als die der anderen EU-Staaten.
Dass ein hohes Migrationspotential vorherrscht, beweisen die steigenden Migrationszahlen. Um die Notwendigkeit einer europäischen Einwanderungspolitik einzuschätzen, ist aber nicht nur das aktuelle Migrationsaufkommen von Interesse, sondern auch das zukünftige. Dabei gilt es nicht genaue Abschätzungen über die Zahl der zukünftigen Einwanderer zu treffen, sondern das Potential für Wanderungsbewegungen zu bestimmen. Grundlage dafür ist die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in den Heimatstaaten der Migranten. Das Push/Pull-Modell, das in der Sozialwissenschaft verwendet wird, um die Ursachen für Wanderungsbewegungen zu erklären, verleitet zu der Annahme, dass diese berechenbar sind. Würde ein abstoßender (push) Faktor, der die Migranten aus ihre Heimat vertreibt bzw. anziehender (pull) Faktor, der sie in ein anderes Land treibt, zunehmen, müsste die Migrationsintensität zunehmen. Das deckt sich aber nicht mit den gemachten Erfahrungen über Wanderungsbewegungen.[25] Bei der Diskussion um die Osterweiterung der EU wurde von Kritikern das Argument geäußert, dass es zu einer Völkerwanderung der Osteuropäer kommen könnte. Diese ist - trotz der vermeintlichen Verlockungen Westeuropas - ausgeblieben. Es bleibt daher festzuhalten, dass Migration eine individuelle Entscheidung der jeweiligen Person ist. Hinzukommt, dass temporäre, nichtregelmäßige Wanderungen, die beispielsweise durch Krieg, Hungers- oder einer Naturkatastrophe ausgelöst werden, nicht vorhersehbar sind. Nichtsdestotrotz ist die Einschätzung des Migrationspotentials wichtig, da es einen Anhaltspunkt gibt, wie sich das Migrationsaufkommen in der EU entwickelt.
Da die Migranten mehrheitlich aus Schwellen- und Entwicklungsländern kommen, ist das Migrationspotential insbesondere von deren Entwicklung abhängig. Ein Faktor, der für eine steigendes Migrationspotential spricht, ist das rasante Bevölkerungswachstum der Weltbevölkerung. Derzeit leben etwa sechs Milliarden Menschen auf der Erde. 2012 werden es bereits sieben Milliarden sein.[26] Jedes Jahr steigt die Weltbevölkerung um 80 Millionen Menschen, von denen 99% in den Schwellen- und Entwicklungsländern aufwachsen.[27] Eine Folge davon wird sein, dass es mehr hungernde Menschen geben wird, da die Nahrungsproduktion den steigenden Bedarf nicht decken kann. Auch der Trinkwassermangel wird sich verschärfen, insbesondere in den Ländern südlich der Sahara.[28]
Einhergehend mit der Bevölkerungszunahme ist eine steigende Konkurrenz um Arbeitsplätze in den Entwicklungsländern. In den nordafrikanischen Ländern spricht man schon heute von einer Perspektivlosigkeit der Jugend, die sich in einer hohen Arbeitslosigkeit widerspiegelt.[29] Dieses Problem wird sich zunehmend verschärfen, da eine rasante wirtschaftliche Entwicklung, auch durch die politisch instabile Lage in vielen Entwicklungsländern, ausgeschlossen scheint.
Ein weiterer intensivierender Faktor ist die zunehmende Urbanisierung der Entwicklungsländer. Der typische Migrant kommt nicht vom Lande, wo die Menschen oftmals durch Sippschaften an ihre Heimat gebunden sind, sondern aus einer Stadt.[30] 2008 lebten erstmals mehr als die Hälfte aller Menschen in Städten.[31] Die Konzentration von Menschen auf einem Platz wird den Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze zusätzlich verschärfen.
Die zunehmende Globalisierung spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle. Durch den Ausbau der Informationstechnologien, etwa dem Zugang zum Internet, erhalten potentielle Migranten problemlos Informationen, z.B. über die EU-Staaten oder Reiserouten. Verbesserte Transportmöglichkeiten erleichtern zudem die Wanderungsbemühungen.
Auch die Attraktivität der EU wird als Pull-Faktor Bestand haben. Es ist nicht damit zu rechnen, dass mittelfristig das Wohlstandsgefälle zwischen den EU-Ländern und den Schwellen- sowie Entwicklungsländern abnehmen wird.
Anhand dieser Faktoren, die alle für ein steigendes Wanderungspotential sprechen, lässt sich auch einschätzen, aus welcher Richtung die Migranten vornehmlich kommen werden. In Asien, Südamerika und Afrika wird das Bevölkerungswachstum besonders groß sein. Allein die Bevölkerung von Nordafrika, aus dem zwei Drittel aller afrikanischen Migranten stammen, wird von derzeit 197 Millionen Menschen auf 251 Millionen im Jahr 2025 steigen.[32] Gegensätzlich verhält es sich mit den europäischen Staaten, die nicht in der EU sind. Sie sind dramatisch vom demographischen Wandel betroffen, der sich durch eine schrumpfende Bevölkerung und der Veralterung der Gesellschaft auszeichnet. Die russische Bevölkerung wird bis 2025 um 12 Millionen Menschen auf 129 Millionen geschrumpft sein, die ukrainische um 5 Millionen auf 41,7 Millionen Menschen.[33] Es ist daher wahrscheinlich, dass zukünftig der Anteil der Migranten aus Europa abnehmen wird, dementsprechend der Anteil aus Asien, Afrika und Südamerika zunehmen.
Eine Trendanalyse von Eurostat vom April 2005, die für die damals bestehende EU-25 und die Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien angefertigt wurde, ergab, dass die Einwanderungszahlen der EU-Staaten zunehmen werden. Bis 2050 sollen zu den heute 20 Millionen Migranten nach der Basisvariante der Kalkulation weitere 40 Millionen hinzugekommen sein, nach hoher Variante sogar 63 Millionen.[34] Von diesen wandern über 90% in die alten EU-Länder.[35] Die Migration wird demnach in allen EU-Staaten zunehmen, die unterschiedliche Betroffenheit zwischen den alten und neuen Ländern aber anhalten.
Festzuhalten bleibt, dass überzeugende Faktoren für ein erhöhtes Migrationspotential in der Zukunft sprechen. Dem Thema Migration wird in allen EU-Staaten somit künftig größere Bedeutung zukommen.
Im Folgenden werden die Chancen und Risiken analysiert, die sich mit der Zuwanderung von Menschen für die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft des Aufnahmestaates und der EU ergeben.
Die Zuwanderung von Menschen in großer Zahl beeinflusst den Bevölkerungsumfang und die -zusammensetzung eines Staates. In den Ländern der EU wird dieser demographische Aspekt zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Der Bevölkerungsanteil Europas an der Weltbevölkerung sinkt seit Jahrzehnten kontinuierlich. Lebte 1950 noch jeder fünfte Erdenbürger in Europa, ist es mittlerweile nur noch jeder zehnte.[36] Zurückzuführen ist dies zum einen auf das rasanten Bevölkerungswachstum in den anderen Erdteilen, aber auch darauf, dass das natürliche Bevölkerungswachstum in Europa sehr gering ist. Davon sind auch die EU-Staaten nicht ausgeschlossen. Zur Bestandserhaltung einer Bevölkerung, d.h. damit die Population ohne Berücksichtigung von Wanderungsbewegungen konstant bleibt, ist eine durchschnittliche Kinderzahl pro Frau (Fertilitätsrate) zwischen 2,1 und 2,5 erforderlich.[37]
In der EU lag der Durchschnitt der Fertilitätsraten im Jahr 2007 bei etwa 1,5 und damit deutlich unter diesen Werten.[38] Die höchsten Raten hatten Frankreich mit 1,98 und Irland mit 1,91 vorzuweisen. Auch Dänemark, Großbritannien und Schweden (je 1,85) hatten eine überdurchschnittliche Geburtenrate. Die wenigsten Kinder in den alten EU-Staaten werden in den südlichen EU-Staaten geboren, wobei Portugal mit 1,3 den niedrigsten Wert aufweist. Die neuen EU-Staaten haben besonders niedrige Fertilitätsraten. So liegt der Wert in der Slowakei bei 1,25, in Polen bei 1,27 und in Rumänien bei 1,29 auf. Diese drei Staaten haben damit die niedrigsten Geburtenraten in der EU. 2007 lag allein die Fertilitätsrate Estlands mit 1,64 über dem EU-Durchschnitt. Es lässt sich also feststellen, dass keines der EU-Länder genügend Nachwuchs hat, um ohne Einwanderung seine Bevölkerungszahl langfristig auf dem selben Niveau zu halten. Nur in Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien ist von allen 27 Staaten noch die Bevölkerungszunahme hauptsächlich auf die Geburtenzahl zurückzuführen. Einen Rückgang der Population aufgrund eines negativen natürlichen Wachstums verzeichnen bereits Deutschland, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die baltischen Staaten.[39]
Des Weiteren ist zu beobachten, dass die Lebenserwartung der EU-Bürger zunimmt, hingegen sinkt die Sterberate Jahr für Jahr. In mehr als der Hälfte der EU-Staaten liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen über 80 Jahren, die der Männer einige Jahre darunter.[40] Die Folgen dieses Bevölkerungstrends macht die Grafik 2 deutlich, die die Bevölkerungspyramiden, die die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Altersgruppen wiedergeben, von 2004 und 2050 gegenüberstellt.
Grafik 2. Bevölkerungspyramiden EU-25, 2004 und 2050
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Ausschuss für Wirtschaftspolitik
Dabei ist zu erkennen, dass der Umfang der Pyramide abnimmt, d.h. die Bevölkerungszahl zurückgeht. Außerdem verschiebt sich die breiteste Ausdehnung deutlich nach oben. Durch ausbleibenden Nachwuchs und erhöhter Lebenserwartung steigt der Altersdurchschnitt der Gesellschaft an. Schätzungen zu Folge werden 2050 etwa 55 Millionen Menschen, die über 65 Jahre alt sind, in der EU leben. Die Anzahl der unter 65jährigen wird hingegen um 70 Millionen abnehmen.[41] Das durchschnittliche Alter der Unionsbürger von heute 39 Jahren wird 2050 zehn Jahre höher liegen.[42] Laut Prognose von Eurostat wird ab 2010 die Sterberate in der EU erstmals höher als die Geburtenrate sein.[43] Die Gesamtbevölkerung wird daher bis 2050 um 24 Millionen Menschen geschrumpft sein. Der stärkste Bevölkerungsrückgang ist wegen der besonders geringen Fertilitätsraten in den mittel- und osteuropäischen Staaten zu erwarten.
Es ist nicht damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren die Geburtenraten zunehmen werden. Der Altersdurchschnitt der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes nimmt EU-weit beständig zu[44], was eher auf einen weiteren Rückgang der Geburtszahlen hinweist.
Der demographische Wandel bleibt nicht ohne Folgen für die EU-Staaten. Bereits heute sind die zunehmenden Belastungen der Sozialsysteme spürbar, die sich in steigenden Beiträgen ausdrücken. Vor allem die älteren Mitbürger sind es, die auf soziale Hilfe angewiesen sind. Aber auch die Rentensysteme werden zunehmend belastet. Die Zahl der Empfangsberechtigten wird steigen, gleichzeitig werden die Transferzahlungen zurückgehen. Das Verhältnis von einem Rentenempfänger zu einem Beitragszahler beträgt heute eins zu vier, 2050 wird es bei eins zu zwei liegen.[45] Weiter steigende Transferzahlungen, sinkende Renten und geringere Sozialleistungen sind somit sehr wahrscheinlich.
Auch gesellschaftliche Probleme sind durch die Vergreisung der europäischen Gesellschaft möglich. Ohne die „jugendliche Frische“ könnte die EU an Innovationsfähigkeit verlieren, denn älteren Menschen wird ein eher zurückhaltendes Verhalten gegenüber Neuerungen nachgesagt. Das könnte auch politische Folgen haben, wenn die steigende Wählerschaft der Älteren sich mit ihrem statischen Verhalten durchsetzt und etwaige Reformen blockiert. Dies könnte auch zu Spannungen mit der jungen Bevölkerung führen, wenn diese sich nicht hinreichend beachtet fühlt.
Die Migration kann zur Lösung der demographischen Probleme beitragen, denn der typische Migrant ist jung. Das Durchschnittsalter von Drittstaatsangehörigen liegt bei 27,7 Jahren. Mehr als die Hälfte aller Migranten ist dabei unter 29.[46] Somit senken sie zum einen den Altersdurchschnitt der Gesellschaft, zum anderen sind sie in einem Alter, in dem das Kinderzeugen möglich ist. Tatsächlich weisen Migranten höhere Geburtenraten als Unionsbürger auf, auch wenn sich ihre Fertilitätsmuster mit zunehmender Aufenthaltsdauer der inländischen Bevölkerung anpassen.[47]
Außerdem kann die Zuwanderung von Menschen den Bevölkerungsrückgang aufhalten. In den meisten EU-Ländern ist für das Bevölkerungswachstum bereits heute die Migration verantwortlich. In Italien und Portugal ist dieses sogar ausschließlich auf Einwanderung zurückzuführen.[48] In den Ländern mit einem Bevölkerungsrückgang, wie Deutschland, dämpft die Zuwanderung die Höhe des Rückgangs.
Die Migration kann allerdings nur theoretisch die Schrumpfung und Alterung der europäischen Gesellschaft verhindern, was an den folgenden Zahlen deutlich wird. Nach Berechnungen der Vereinten Nationen wäre bis 2050 eine Zuwanderung von weiteren 47 Millionen Drittstaatsangehörigen nötig, um den Rückgang der Bevölkerungszahl der EU zu verhindern. Damit in 40 Jahren der heutige Altersdurchschnitt erhalten bliebe, wäre sogar die Zuwanderung von 700 Millionen Menschen nötig. Dann würden 1,2 Milliarden Menschen in der EU leben, von denen nur jeder fünfte keinen Migrationshintergrund hätte.[49] Nichtsdestotrotz kann die Migration einen bedeutenden Beitrag dazu leisten, die demographischen Folgen für die EU zu dämpfen.
Mit einer zunehmenden Vergreisung und Schrumpfung der Gesellschaft ist auch eine Veralterung und Abnahme der erwerbsfähigen Bevölkerung verbunden. Für das bevölkerungsreiche Deutschland wird prognostiziert, dass ohne Zuwanderung die Erwerbsbevölkerung von heute etwa 41 Millionen Menschen bis 2050 auf 26 Millionen schrumpft. Auch wenn alle verfügbaren erwerbsfähigen Personen mobilisiert werden, würden der deutschen Wirtschaft zehn Millionen Arbeitskräfte fehlen.[50] Da alle EU-Staaten vom demographischen Wandel betroffen sind, ist das grundlegende Resultat dieser Prognose auf sie übertragbar. Die EU ist eine rohstoffarme Region, deren Wirtschaftskraft vor allem auf ihre Innovationsfähigkeit und das Know-how der Arbeiter zurückzuführen ist. Daher könnte der Arbeitskräftemangel erhebliche Folgen haben. Berechnungen der Europäischen Kommission zu Folge wird sich die jährliche Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts 2030 bis 2050 halbieren.[51] Ohne die Deckung des Arbeitskräftebedarfs ist auch die Konkurrenzfähigkeit der EU in der globalen Wirtschaft bedroht.
Besonders hochqualifizierte Arbeitskräfte werden der Wirtschaft zunehmend fehlen. In Deutschland besteht bereits heute ein Mangel an Personal in der Gesundheitsbranche, Technikern, Werkzeugmachern sowie Bank- und Versicherungsfachpersonal.[52] Durch Outsourcing von Unternehmen in Billiglohnländer sowie die fortschreitende Technisierung und Automatisierung wird hingegen der Bedarf an Geringqualifizierten abnehmen. Daher kann ungenutztes Arbeitskräftepotential, wie das erwerbsfähiger Frauen, nur eingeschränkt den Mangel beseitigen.[53] Ein in manchen Branchen bereits genutzter Lösungsansatz ist die Anwerbung von Fachpersonal aus anderen EU-Staaten. Da aber alle Mitgliedsstaaten von der Verringerung der Erwerbspersonenzahl betroffen sind, verschiebt diese Politik nur die Probleme. Beispielhaft dafür ist der Medizinertransfer zwischen Deutschland, Tschechien und der Slowakei. Tschechische Ärzte werden von Deutschland angeworben, da ihm Mediziner fehlen. Den eigenen Mangel gleicht Tschechien wiederum durch slowakische Ärzte aus, was zu einem akuten Medizinermangel in der Slowakei geführt hat.[54] Die Konkurrenz um Fachkräfte birgt daher sogar Konfliktpotential für die EU-Staaten.
[...]
[1] Annan, Europe needs, 2004
[2] Vgl. Eurostat, Recent migration trends, 2008, S. 11
[3] UNHCR, Rechtstellung Flüchtlinge, 1951, Artikel 1A2
[4] Vgl. Sachverständigenrat, Migration und Integration, 2004, S. 11
[5] Vgl. Eurostat, Recent migration trends, 2008, S. 11
[6] 862/2007/EG
[7] Vgl. Bundesamt Migration, Demographischer Wandel, 2007, S. 105
[8] Vgl. Eurostat, Population 2007, 2008, S. 1
[9] ebenda
[10] Vgl. Bundesamt Migration, Demographischer Wandel, 2007, S. 105
[11] Alle im Folgenden angegebenen Werte sind den zwei Tabellen im Anhang (S.54ff.) entnommen. In diesen sind die jeweiligen Quellen angegeben.
[12] Mit „alten EU-Staaten“ sind die Mitgliedsländer der EU-15 gemeint, wie sie bis April 2004 Bestand hatte. Die „neuen EU-Staaten“ umfassen demnach die 12 Staaten, die danach der EU beigetreten sind.
[13] Vgl. British Council, Migrant Integration Policy Index, 2007 für Estland S. 56, für Lettland S. 104
[14] Vgl. Eurostat, Population 2007, 2008, S. 3
[15] ebenda, S. 4
[16] Vgl. OECD, Migration Outlook, 2008, S. 35-37
[17] Eine Übersicht über die Herkunftsländer der größten Gruppen an Migranten in den einzelnen EU-Staaten findet sich in Tab. 1 (S.55)
[18] Siehe Tab. 1, S. 55
[19] ebenda
[20] Vgl. Eurostat, Asylanträge, 2007, S. 5
[21] Vgl. Spiegel Online, Protestmarsch, 2009
[22] Vgl. Albrecht: Illegalität, 2006, S. 64
[23] Vgl. Bendel: Europäische Migrationspolitik, 2008, S. 15
[24] Vgl. Albrecht: Illegalität, 2006, S.64
[25] Vgl. Steeg, Einwanderungskonzept EU, 2006, S. 36
[26] Vgl. Stiftung Weltbevölkerung, Daten, 2008, S. 3
[27] ebenda, S. 4
[28] ebenda, S. 5
[29] Vgl. Böll-Stiftung, Zukunft Migrationspolitik, 2008, S.22
[30] Vgl. Steeg, Einwanderungskonzept EU, 2006, S.42-44
[31] Vgl. Stiftung Weltbevölkerung, Daten, 2008, S. 5
[32] ebenda, S. 6
[33] ebenda, S. 10
[34] Vgl. Bundesamt Migration, demographischer Wandel, 2007, S. 127ff
[35] ebenda, S.140
[36] Vgl. Bundesamt Migration, Demographischer Wandel, 2007, S.94
[37] Vgl. Heineberg, Anthropogeographie, 2003, S.71
[38] Siebe Tab.2, S. 56
[39] Vgl. Eurostat, Population 2007, 2008, S. 2
[40] ebenda, S. 3
[41] Vgl. Böll-Stiftung, Zukunft Migrationspolitik, 2008, S. 25
[42] ebenda, S.134
[43] Vgl. Bundesamt Migration, Demographischer Wandel, 2007, S. 130
[44] Vgl. Bundesamt Migration, Demographischer Wandel, 2007, S. 128
[45] ebenda, S. 134
[46] Vgl. Eurostat, Recent migration trends, 2008, S. 6
[47] Vgl. Steeg, Einwanderungskonzept EU, 2006, S. 47
[48] Vgl. Eurostat, Population 2007, 2008, S. 2
[49] Vgl. Böll-Stiftung, Zukunft Migrationspolitik, 2008, S. 24
[50] Vgl. Steeg, Einwanderungskonzept EU, 2006, S. 46f
[51] Vgl. Kommission, Demografische Zukunft, 2006, S. 6
[52] Vgl. Sachverständigenrat, Migration und Integration, 2004, S. 197
[53] Vgl. Kommission, Demografische Zukunft, 2006, S. 6
[54] Vgl. Ruth, Lack of Doctor, 2008
Kommentare