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Mehr InfosDiplomarbeit, 2009, 126 Seiten
Diplomarbeit
2,1
1 Einleitung
1.1 Motivation und Problemstellung
1.2 Zielsetzung
1.3 Aufgabenstellung und Vorgehensweise
2 Beratung: Formen, Vorkommen, Merkmale
2.1 Zum Begriff „Beratung“
2.2 Die Alltagsberatung
2.3 Die professionelle Beratung
2.3.1 Merkmale einer professionellen Beratung
3 Beratung in der Sozialen Arbeit
3.1 Ortsbestimmung und Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit
3.2 Lebensweltorientierung als ein zentrales Konzept der Sozialen Arbeit
3.2.1 Theoretischer Hintergrund des Konzeptes der Lebensweltorientierung
3.2.2 Intentionen Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit
3.2.3 Struktur- und Handlungsmaxime einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
3.3 Beratung im Kontext des Konzepts der Lebensweltorientierung
3.3.1 Methodisches Handeln
3.3.1.1 Methodisches Handeln - Ein Handlungsmodell für eine Stalkingberatung
3.4 Weitere – für eine Stalkingberatung wichtige – Beratungskonzepte
3.4.1 Lösungsorientierte Beratung
3.4.2 Ressourcenorientierte Beratung
3.4.3 Netzwerkorientierung – im Kontext von Unterstützung und Beratung von Selbsthilfegruppen
4 Stalking – feldspezifische Grundlagen für eine Beratung
4.1 Begriff und Historie des „Stalkings“
4.2 Wissenschaftliche und gesetzliche Definitionen
4.3 Die neue Rechtslage in Deutschland
4.4 Die Täter
4.4.1 Allgemeines
4.4.2 Unterschiedliche Klassifikationssysteme von Stalkern
4.4.2.1 Das Klassifikationssystem von Peter Fiedler
4.5 Stalking und Gewalt
4.5.1 Statische und dynamische Risiko- und Vorhersagefaktoren
4.5.2 Expartnerstalking und häusliche Gewalt
4.6 Die Opfer
4.6.1 Vulnerabilität
4.6.2 Auswirkung von Stalking auf die Opfer
5 Grundlegende Handlungsstrategien im Umgang mit Stalking
5.1 Gefahren durch falsche Handlungsstrategien
5.2 Interdisziplinäre Zusammenarbeit
6 Sozialpädagogische Beratung von Stalkingopfern – ein Leitfaden
6.1 Rahmenbedingungen
6.2 Ein Vorschlag für einen Beratungsprozess
6.2.1 Phase 1: Erstanalyse
6.2.2 Phase 2: Vereinbarungs- und Kontaktphase
6.2.3 Phase 3: Arbeitsphase
6.2.3.1 Vertiefte Analyse und Diagnose
6.2.3.2 Interventionen und Veränderungen
6.2.4 Phase 4: Evaluationsphase
6.2.5 Phase 5: Abschlussphase
6.3 Bausteine einer Stalkingberatung am Beispiel eines Falles aus der Praxis
6.3.1 Der „Fall“ der Frau D.
6.3.2 Phase 1: Erstanalyse
6.3.3 Phase 2: Vereinbarungs- und Kontraktphase
6.3.4 Zur Phase 3: Arbeitsphase
6.3.4.1 Vertiefte Analyse und Diagnose
6.3.4.2 Interventionen und Veränderungen
6.3.5 Phase 4: Evaluationsphase
6.3.6 Phase 5: Abschlussphase
7 Resümee
8 Literatur
Anhang
1. Was ist Stalking?
2. Was für Arten von Stalking gibt es?
3. Hilfsangebote
4. Strategien im Umgang mit Stalking
5. Vorhersagefaktoren für Gewalt im Stalkingprozess
6. Methodisches Vorgehen bei einer Beratung
7. Arbeitshilfen
7.1 Arbeitshilfen zur Vereinbarungs- und Kontraktphase
7.2 Arbeitshilfen zur Analyse- und Diagnosephase
7.3 Arbeitshilfen zur Interventionsphase
Literatur
Abbildung 1: Ein Prozessmodell helfender Kommunikation von Britta Haye und Heiko Kleve
Abbildung 2: Prozess-Modell einer Stalkingberatung
Abbildung 3: Fiedlers Klassifikationssystem von Stalkern
Abbildung 4: Eine Netzwerkkarte
Abbildung 5: Ein Mindmap
Tabelle 1:Typische Methoden (Fragetechniken) einer lösungsorientierten Beratung
Tabelle 2: Typische Methoden einer ressourcenorientierten Beratung
Tabelle 3: Geeignete Methoden für die vertiefte Analyse und Diagnose
Tabelle 4: Geeignete Methoden für die Interventions- und Veränderungsphase
Tabelle 5: Anforderungen an ein Ziel (Zielkriterien)
Tabelle 6: Beispiele für Wirkungsziele, Teilziele und Handlungsziele
Tabelle 7: Checkliste zur Planung einer Intervention
Das Thema der Diplomarbeit hat sich aus meiner Tätigkeit im Hauptpraktikum ergeben. Dieses absolvierte ich im Bewährungshilfeverein Stuttgart e.V. in einer Hospitationsphase im Fachbereich der Zeugenbegleitung. Hier werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die Opfer eines Sexual- und Gewaltverbrechens geworden sind, betreut, indem sie adäquat über die Rahmenbedingungen eines Strafverfahrens und die Möglichkeiten des Opferschutzes aufgeklärt und bei der psychischen Bewältigung des Gerichtsverfahrens unterstützt werden. Hierdurch wurde mein Interesse für Stalking und die Beratung von Betroffenen geweckt. Nicht selten waren nämlich die (Opfer-) Zeugen nicht nur Opfer sexueller oder körperlicher Gewalt sondern auch Opfer von Stalking. Die Betroffenen baten dann häufig, sie in Bezug auf den richtigen Umgang mit ihren Peinigern – in vielen Fällen waren dies Expartner – zu beraten. Dies war jedoch aus Gründen einer unrechtmäßigen Zeugenbeeinflussung nicht zulässig, da eine Zeugenbegleitung im Sinne einer Beratung und dementsprechend auch einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Tat, nicht stattfinden darf. Die Betroffenen mussten daher an andere Beratungsstellen verwiesen werden und schilderten damit verbunden immer wieder das Problem der fehlenden separaten Beratungsangebote für Stalkingopfer, insbesondere im sozialpädagogischen Bereich. Es werden beispielsweise Opfer von Sexual- und Gewaltstraftaten, sowie die Geschädigten von häuslicher Gewalt durch den „Weißen Ring“ betreut, während ein adäquates Beratungsangebot für Stalkingopfer nicht gesondert aufgeführt wird.
Dieses Problem schilderte auch eine Klientin aus meinem Hauptpraktikum, die von der Opferzeugenbegleitung betreut wurde, da eine Gerichtsverhandlung wegen Sachbeschädigung gegen ihren Expartner anstand. Sie, die durch ihren Expartner schon seit Monaten belästigt und verfolgt wurde, fühlte sich weder von der Polizei, noch durch ihren Anwalt ausreichend in Bezug auf ihr Stalkingproblem unterstützt. Auch die Suche nach anderen speziellen Hilfsangeboten bei diversen Institutionen verlief wenig erfolgreich. Diese aus ihrer Sicht unzureichende Betreuung von Stalkingopfern hierzulande thematisierte sie immer wieder in der Zeugenbegleitung und später auch bei Gericht. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich anhand ihres Beispiels meine Überlegungen für eine sozialpädagogische Stalkingberatung spezifizieren.
Das Thema Stalking wird seit Jahren immer wieder in den Medien aufgegriffen und diskutiert. Im juristischen Bereich wurden zum Schutz von Stalkingopfern bereits einige Veränderungen durchgeführt. So hat man beispielsweise erkannt, dass das 2002 in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz nicht ausreicht. Das Manko dieser Gesetzregelung bestand vor allem darin, dass die Strafbarkeitsschwelle durch die Stalker häufig nicht überschritten wurde. Belästigung durch Telefon oder E-Mails sowie das Auflauern vor der Haustür etc. galten damals nicht als strafbar und konnten nur über ein zivilrechtliches Verfahren abgewickelt werden. Seit 2007 stellt Stalking nun jedoch einen eigenen Straftatbestand dar, der mit erheblichen Geld- und Freiheitsstrafen sanktioniert werden kann, sodass Stalkingopfer heute durch den Gesetzgeber besser geschützt werden.
Auch im Bereich der polizeilichen Beratung von Stalkingopfern sind Fortschritte dahingehend zu verzeichnen, dass es speziell geschulte Beamte gibt, die sich um Stalkingfälle kümmern.
Des Weiteren bin ich bei meinen Recherchen auf eine allgemeine Handreichung für die Beratung von Stalkingbetroffenen[1] gestoßen. Sie wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegeben und spricht Berater und Beraterinnen aus verschiedenen Berufssparten an (Hausärzte, Psychologen, Rechtsanwälte, Sozialarbeiter etc.)
Trotz dieser Bemühungen scheint die Beratungspraxis jedoch noch nicht zufriedenstellend zu sein. Besonders für den sozialpädagogischen Bereich lässt sich feststellen, dass weder Leitfäden erarbeitet wurden, noch ausreichende Beratungsangebote, sowohl in Opferschutzeinrichtungen, wie dem „Weißem Ring“, als auch in Frauenhäusern und sonstigen Beratungseinrichtungen den Stalkingopfern zur Verfügung stehen.
Aufgrund dieser Defizite und dem persönlichen Wunsch, einmal sehr gerne im Bereich der Beratung tätig zu sein, sah ich die Herausforderung darin, einen spezifischen Leitfadenkatalog zum Thema Stalking für den sozialpädagogischen Bereich zu erstellen.
Ziel meiner Arbeit ist es daher, die vor dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen für eine sozialpädagogische Stalkingberatung gewonnenen Erkenntnisse für einen adäquaten Umgang mit den Klienten nutzbar zu machen. Anhand des Leitfadens soll zielgenau auf die Bedürfnisse der Betroffenen eingegangen und die praktische Umsetzung in der sozialpädagogischen Beratung somit erleichtert werden.
Um bei der Vielzahl von möglichen Handlungen und Motiven von Stalkern den betroffenen Opfern in einer sozialpädagogischen Stalkingberatung und auch der damit verbundenen Verantwortung gerecht werden zu können, sind unbedingt entsprechende Kenntnisse bezüglich des Phänomens Stalking im Speziellen und bezüglich der Beratungspraxis im Allgemeinen notwendig. Nur so können die Klienten vor möglichen Gewaltrisiken von Seiten des Stalkers gewarnt und geschützt werden.
Hierzu möchte ich in meiner Arbeit unter anderem folgenden Fragestellungen nachgehen:
- Welche Klassifikationssysteme von Stalkern für eine sozialpädagogische Beratung geeignet sind, um möglichst frühzeitig im Stalkingprozess intervenieren und das fortdauernde Verfolgen unterbrechen zu können.
- Wie das Gewaltrisiko von Stalkern besser erkannt und eingeschätzt werden kann.
- Was helfen kann, Stalking und Gewalt im Stalkingprozess zu vermeiden.
- Welcher Zusammenhang zwischen Stalking und häuslicher Gewalt besteht.
- Welche Auswirkungen das Stalking auf die Betroffenen hat und wie dem entgegengewirkt werden kann.
- Welche grundlegenden Interventionsstrategien geeignet sind, das Stalking zu beenden.
- Welche Aufgaben und Ziele eine sozialpädagogische Beratung im Gegensatz zu anderen Beratungsangeboten – beispielsweise juristischen oder psychologischen Beratungsangeboten – hat.
- Wann und inwiefern ein interdisziplinäres Vorgehen sinnvoll ist.
- Wie eine individuelle Beratung aussehen und in der Praxis realisiert werden kann.
Dabei gliedert sich die Arbeit thematisch in folgende Abschnitte:
Nach den Begriffsdefinitionen und Abgrenzung von Alltagsberatung und professioneller Beratung mit ihren Merkmalen im zweiten Kapitel, widme ich mich im dritten Teil speziell der sozialpädagogischen Beratung. Dabei werde ich zunächst auf die Soziale Arbeit allgemein eingehen.
Anschließend möchte ich ausführlicher das Konzept der Lebensweltorientierung mit seinem theoretischen Hintergrund, seinen Intentionen und seinen Struktur- und Handlungsmaximen beschreiben, da diesem Konzept eine zentrale Bedeutung in der Sozialen Arbeit und in einer sozialpädagogischen Beratung zukommt. Im Hinblick auf das spezifische methodische Handeln in einer sozialpädagogischen Stalkingberatung skizziere ich außerdem das von mir gewählte Handlungsmodell, das von seiner Struktur her an das sozialpädagogische Coaching-Prozessmodell von Bernd R. Birgmeier angelehnt ist, sowie weitere, für eine Stalkingberatung wichtige Beratungskonzepte und ihre Methoden. Dabei handelt es sich um die lösungs- und ressourcenorientierte Beratung sowie um Netzwerkorientierung im Kontext der Unterstützung und Beratung von Selbsthilfegruppen.
Im vierten Teil werde ich auf der Grundlage der aktuellen Stalkingforschung das feldspezifische Hintergrundwissen zum Phänomen Stalking, das sowohl die Täter als auch die Opfer betrifft, erläutern. Dies sind Voraussetzungen für eine erfolgsversprechende individuelle Beratung und ein angemessenes, auch interdisziplinäres Vorgehen. Nach der Betrachtung unterschiedlicher wissenschaftlicher und juristischer Definitionen sowie der neuen Rechtslage in Deutschland untersuche ich unterschiedliche Klassifikationssysteme zur Typologienbildung von Stalkern. Hierzu werde ich das integrative Bedingungs- und Erklärungsmodell von Peter Fiedler näher darstellen. Sein Klassifikationsmodell ermöglicht m.E. die Einordnung unterschiedlicher Stalkingphänomene, wie die Beurteilung der Beziehungsdynamik und des möglichen Gewaltrisikos besonders gut. Im Anschluss daran werde ich explizit auf die Gewaltrisiken- und Vorhersagefaktoren, sowie auf die Folgen von Stalking für die Opfer eingehen, da dies für die praktische Arbeit, d.h. für die Beratung der Betroffenen von zentraler Bedeutung ist. Des Weiteren werde ich erläutern, ob – und wenn ja, auf welche Weise – die Phänomene Stalking und häusliche Gewalt zusammenhängen, da dies für die Beratung, beispielsweise von möglichen Interventionsmaßnahmen, von entscheidender Bedeutung ist.
Im fünften Teil betrachte ich grundlegende offensive und defensive Handlungsstrategien für den Umgang mit Stalking, die in diversen Aufklärungsbroschüren – beispielsweise in denen der Polizei und dem Internet – zu finden sind und die durchaus auch für eine individuelle Stalkingberatung Relevanz haben. Kritisch beleuchten werde ich dabei aber auch dort vorgeschlagene Strategien, die in der Fachliteratur als umstrittene bzw. sogar als falsche Strategien gelten. Darauf Bezug nehmend möchte ich abschließend die Vorteile einer interdisziplinären Zusammenarbeit herausstellen.
Schließlich stellt Kapitel 6 den Hauptteil – und auch praktischen Teil – meiner Arbeit dar.
Unter Berücksichtigung der bislang theoretisch gewonnenen Erkenntnisse versuche ich, ein Modell für eine sozialpädagogische Beratung zu entwickeln, das sich auch praktisch umsetzen lässt. Ziel ist es, eine sozialpädagogische Stalkingberatung unter dem Gesichtspunkt einer möglichen methodischen Vorgehensweise zu beschreiben. Mit Hilfe eines Fallbeispiels aus der Praxis werde ich dann exemplarisch meine Überlegungen zu einer möglichen sozialpädagogischen Beratung präzisieren, indem ich auf den Fall Bezug nehmend einige methodische Vorgehensweisen an Beispielen erläutere.
Abschließend möchte ich meiner Arbeit noch formale Hinweise voranstellen:
- Bei Verweisen auf Personengruppen habe ich mich sprachlich auf die maskuline Form eingeschränkt, da dies zur besseren Lesbarkeit beitragen kann. Es sind jedoch immer Personen beiderlei Geschlechts gemeint.
- Zitate werden nicht der neuen Rechtschreibung angepasst, um die Authentizität von Originaltexten vor der Rechtsschreibreform zu wahren.
- Die Fundstelle eines Zitats wird unmittelbar nach dem Zitat in Klammern angegeben.
- Ebenso werden verkürzte Literaturhinweise nach Abschnitten in Klammern gesetzt aufgeführt und können in ausführlicher Form dem alphabetisch geordneten Literaturverzeichnis entnommen werden.
- Bei Schaubildern, Abbildungen und Tabellen stehen Bezeichnungen sowie verkürzte Literatuthinweise direkt darüber bzw. darunter und werden mit Literaturverweis in einem numerisch angeordneten Abbildungs- und Tabellenverzeichnis aufgelistet.
Wenn ein Mensch in seinem Denken, Fühlen und Handeln, oder in seiner Beziehung zu anderen Menschen Probleme wahrnimmt, so hat er drei prinzipielle Möglichkeiten:
1. Er folgt der Einstellung: „Man muss mit seinen Problemen selbst fertig werden!“
2. Er bespricht sich mit Verwandten, Kollegen oder guten Freunden. Dieser Vorgang wird dann häufig als „Alltagsberatung“ bezeichnet.
3. Er sucht sich eine geeignete professionelle Hilfe (Beratung, Therapie etc.)
Im Folgenden werde ich auf die Möglichkeiten zwei und drei, auf die Alltagsberatung und die professionelle Beratung als eine Form der Hilfe näher eingehen.
Zuvor aber noch einiges zum Begriff „beraten“ in seiner etymologischen Bedeutung.
In der Alltagssprache kann das Wort „beraten“ in zwei verschiedenen Formen verwendet werden:
- reflexiv: sich (gemeinsam) beraten
- transitiv: jemanden beraten
Die reflexive Form „ sich beraten“ wird verwendet, wenn zwei oder mehrere Personen über ein bestimmtes Thema sprechen, mit dem Ziel, zu einer gemeinsam akzeptierten Entscheidung zu kommen und sich über einen Sachverhalt einig zu werden.
Die transitive Form „ jemanden beraten“ wird verwendet, wenn eine Person einer anderen einen unverbindlichen Handlungsvorschlag macht oder einen „Rat“ gibt.
Meist wird der Begriff „Beratung“ im alltäglichen Sprachgebrauch als unmittelbar personenbezogene Dienstleitung verstanden, die durch die Weitergabe von Fachwissen durch einen Experten (Berater) an einen Laien (Ratsuchenden) gekennzeichnet ist. Die transitive Verwendung des Wortes taucht im Alltag also eher auf.
Sowohl reflexives als auch transitives Beraten impliziert jedoch eine soziale Beziehung
und inkludiert gleichzeitig, dass die andere Person den Handlungsvorschlag ablehnen oder annehmen kann, ohne dabei Auswirkungen oder Sanktionen von der ratgebenden Person erwarten zu müssen.
Alltagsberatung als informelle Hilfestellung ist sicherlich die am häufigsten vorkommende Möglichkeit gegenseitiger Hilfe. Nach Galuske ist sie ein integraler Bestandteil jeder Kommunikation, wobei der Hauptanteil der „Beratungsarbeit“ in alltäglichen Zusammenhängen, bezüglich der sozialen Netzwerke der Subjekte geleistet wird (vgl. Galuske 1999, S. 156). Beratung findet somit täglich überall in Gesprächen zwischen Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten, Nachbarn, aber auch zwischen völlig unbekannten Menschen statt. Vor allem Hinweise von Freunden und Bekannten, die in gleicher oder ähnlicher Lage waren, beispielsweise sich schon einmal in Lebenskrisen befanden und Phasen des Unglücklichseins bewältigen oder berufliche Probleme meistern mussten, können häufig weiterhelfen. Sogar wildfremde Menschen können Anstöße geben. So dienen beispielsweise auch informelle Netzwerke im entfernten Bekanntenkreis und Nachbarschaft oder gar Berufsgruppen im Dienstleistungsgewerbe (Gastwirte, Taxifahrer, Masseure, Friseusen) (vgl. Belardi 1999, S. 34) als beratende Unterstützung.
Nach Nando Belardi können in einem erweiterten Sinne auch viele populärwissenschaftliche Beiträge in den Medien zur Alltagsberatung gezählt werden (ebd., S. 34).
In diesem Sinne findet Alltagsberatung meist unter folgenden Gesichtpunkten statt:
- zur Information
- als Feedback
- als Ratschlag für Verhaltensmuster
- zur Ermutigung
- als Unterstützung
- um einen Sachverhalt verständlich zu machen
Von Alltagsberatung kann man also sprechen, wenn beispielsweise ein Freund bei der Lösung von Problemen behilflich ist, wenn Kollegen sich gegenseitig Tipps geben oder wenn Freunde bzw. Verwandte jemanden im Krankheitsfall ermutigen, den richtigen Facharzt aufzusuchen.
Häufig werden diese Formen der alltäglichen Beratung gar nicht als Beratung wahrgenommen. Redewendungen wie: „Wenn ich Sie wäre…, „Wenn das mir passieren würde…“ oder „Hast du schon einmal daran gedacht …“ sind alltägliche Phrasen, die jedoch signalisieren, dass wir gerade in irgendeiner Form beraten werden (vgl. Murgatroyd 1994, S. 16).
Alltagsberatung hat aber auch ihre Grenzen. So sind z.B. Ratschläge, die unabhängig vom Gesamtzusammenhang und den Problemen zugrundeliegenden Hintergründen gegeben werden, zu spekulativ und oberflächlich. Dazu kommt, dass häufig wichtige Dinge vom Ratsuchenden nicht gesagt werden, da es ihm eventuell peinlich sein könnte seine Probleme im privaten Umfeld preiszugeben, oder er sich dort nicht verstanden fühlt. In solchen Situationen können schwerwiegende und komplexe Probleme nicht ausreichend mit einer Alltagsberatung geklärt werden. Viele Menschen vertrauen sich dann lieber einer fremden Person, einer Fachkraft an. Somit haben sie dann den Vorteil einer professionellen, multiperspektivischen Problembearbeitung und wissen, dass sie am Ende der Beratungszeit mit der Beratungsperson nichts mehr zu tun haben müssen.
Neben der Alltagsberatung gibt es also auch die Möglichkeit, sich eine geeignete professionelle, d.h. berufsmäßige Beratung als Form der Hilfe zu suchen.
Beiden Formen gemeinsam ist jedoch die Intention, jemanden bei der Lösung von Problemen und bei der Bewältigung von Krisen zu unterstützen und/oder gemeinsam Lösungen zu finden.
Bei einer professionellen Beratung wendet sich der Ratsuchende nun also an geeignete professionelle Helfer, die ihn bei der Lösung seines Problems unterstützen können. Diese Personen können in Bereichen der Psychologie, Therapie, Medizin, Pädagogik, Sozialpsychologie und Betriebswirtschaft etc. tätig sein.
In früheren Jahrhunderten wurde professionelle Beratung meist durch Ärzte oder Priester übernommen. Demgegenüber hat sich das Angebot vor allem in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, u.a. auch mit der Expansion der Sozialen Arbeit enorm erweitert und differenziert. So kann man heute von der Entwicklung einer Beratungslandschaft sprechen (vgl. Reichel o.J., S. 3), eine Tendenz, die sich immer weiter fortsetzt und sich auf sämtliche Lebensbereiche ausdehnt.
Die am häufigsten in der Literatur dafür genannten Gründe sind:
- Mit Beginn der Industrialisierung und der Entwicklung einer modernen Gesellschaft hat sich die Entwicklungsgeschwindigkeit von Individualisierungs- und Modernisierungsprozessen sowie die Auflösung traditioneller Lebensbereiche gegenüber früheren Zeiten vervielfacht.
- Im Zuge dieser Entwicklung verloren traditionelle Bindungen wie Familie und Kirchen oder Gewerkschaften immer mehr an Bedeutung, wodurch Sinnfragen ganz anders bzw. neu gestellt werden mussten (Wertewandel).
- Der Wertewandel hat also eine starke Veränderung der Sichtweisen menschlichen Zusammenlebens hervorgerufen (Trend zur Individualisierung der Lebensführung und Pluralisierung der Lebenslagen[2] ). Die Herstellung von neuen, verlässlichen Bezügen und die Aktivierung des eigenen Lebensarrangements wird dadurch aber aufwändiger und komplizierter.
- Lebensentwürfe gelingen nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Sie sind instabiler geworden. Somit sind viele neue unwägbare Faktoren zur Lebensbewältigung hinzugekommen und die Zukunft ist nicht mehr so leicht planbar, was zu Verunsicherungen lebensweltlicher Erfahrungen in Deutungs- und Handlungsmustern führt.
- Die ökonomische Entwicklung brachte auch mit sich, dass die Industrie einen zunehmenden Leistungsdruck und wachsende Ansprüche an die Qualität der Arbeitskräfte einfordert, denen viele nicht ohne weiteres gerecht werden können (vgl. von Spiegel 2004, S. 19 ff./Belardi 1999, S. 20 ff).
- Des Weiteren ist die Gesellschaft heute bestimmt durch wieder zunehmende soziale Ungleichheiten. Diese repräsentieren sich nicht nur in Unterschieden bei materiellen Ressourcen. Ebenso beziehen sie sich auf Nationalität, Generation, Geschlecht und die Partizipation an Bildung, Arbeit, Gesundheitsförderung und sozialen Dienstleistungen. Diese sozialen Ungleichheiten gehen nach Thiersch einher mit der wachsenden Erosion bestehender Lebensstrukturen und Muster und diese wiederum mit neuen Formen gesellschaftlicher In- und Exklusion (vgl. Grunwald & Thiersch 2004, S. 13 ff).
All diese Tendenzen verdeutlichen, dass es heute keinen einheitlichen Standard der Lebensbewältigung mehr gibt. „Lebensbewältigung ist zum Problem des Verhandelns und Aushandelns einer eigenen Position in gegebenen unübersichtlichen und brüchigen Strukturen geworden“ (Grunwald/Thiersch 2004, S. 15). Hauptsächlich die oben genannten Gründe sind die Ursachen dafür, dass zunehmend mehr Menschen professionelle Beratung – in ganz unterschiedlichen Berufs- und Tätigkeitsfeldern, z.B. von Priester/Pfarrer, Psychotherapeuten, Coachs, Supervisoren, Hausärzte, Sozialarbeiter/Sozialpädagogen, Beratungslehrer und in ganz unterschiedlichen Settings, z.B. in Form von Einzel-, Paar, Familien-, Gruppen-, Teamberatung – in Anspruch nehmen.
Prinzipiell wird Beratung in speziellen Beratungsinstitutionen, in öffentlicher oder freier Trägerschaft durch einzelne Berater oder Teams von mehreren Beratern durchgeführt. Jede Beratung wird dabei in persönlicher, sozialer und rechtsstaatlicher Verantwortung ausgeübt. Die Aufgaben und Ziele orientieren sich grundsätzlich am Schutz der Menschenwürde und an berufsethischen Standards. Als übergeordnetes Ziel gilt, die Ratsuchenden bei der Reflexion von Erfahrungen und Lebenszusammenhängen so zu unterstützen, dass sie ein Bewusstsein für die persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Anforderungen, Probleme und Konflikte entwickeln (vgl. Henze o.J., S. 3).
Mittlerweile können die unterschiedlichsten Probleme, auch Fragen zur persönlichen Identitätsbildung und zur persönlichen Sinnfindung, zum Anlass professioneller Beratung werden. Demnach können z.B. auch spirituelle und religiöse Fragen thematisiert werden, die in den traditionellen Beratungsausbildungen noch kaum ernsthaft Eingang fanden (vgl. Reichel o.J. S. 3). Dies hat zur Folge, dass die Expansion von Beratung in sämtlichen Handlungsfeldern auch weiterhin anhalten wird. Entsprechend der marktwirtschaftlichen Grundlagen unserer Gesellschaft muss die Entwicklung unserer heutigen Beratungslandschaft vor allem als Wechselwirkung von Nachfrage und Angebot verstanden werden. „Was immer zur Ware werden kann, wird zur Ware“ (ebd., S. 3).
In der Fachliteratur werden ganz vielfältige Beratungsdefinitionen, abhängig von der fachlichen Ausrichtung der Autoren, dem Praxisfeld und der Disziplin, aus deren Kontext diese Definitionen hervorgegangen sind, angeboten. Die meisten Definitionen stellen dabei jedoch nicht eine allgemein verwendbare Beratungsdefinition dar, mit deren Hilfe man Beratung von anderen Interventionsformen abgrenzen kann, sondern sind meist auf bestimmte Einsatzbereiche – (sozial-) pädagogische, juristische, medizinische, psychologische Einsatzbereiche – begrenzt und geprägt durch die Grundhaltungen oder Menschenbilder der Autoren. Auch sind sie abhängig davon, welche Beratungsform (Experten- oder Prozessberatung) der Definition zugrunde liegt. Manchmal stehen sogar sachfremde Interessen im Vordergrund einer Definition, wie z.B. berufspolitische Interessen, wenn einer Berufsgruppe der Zugang zu bestimmten Aufgaben entweder ermöglicht oder verweigert werden soll. Besonders auffällig ist dies beispielsweise beim Vergleich mancher psychologischen und psychosozialen Beratungsdefinitionen.
Eine gängige allgemeine Beratungsdefinition gibt es also nicht.[3]
Meines Erachtens wird von einer professionellen oder theoriegeleiteten Beratung aber immer dann gesprochen, wenn der Beratende besondere Kompetenzen in Bezug auf die Beratung aufweist. Hier sind insbesondere kommunikative und problemlösende Kompetenzen, sowie bei entsprechenden Fragestellungen fachlich fundiertes Wissen gemeint. Professionelle Beratung geht in der Regel über das reine Vermitteln von Informationen oder Feedback geben hinaus und ist ein dialogisch gestalteter Prozess, der auf die Entwicklung von Handlungskompetenzen, auf die Klärung, die Be- und Verarbeitung von Emotionen, auf die Veränderung problemverursachender struktureller Verhältnisse und auf persönliche oder berufliche Weiterentwicklung abzielen kann. Dies gilt für beide Grundformen der professionellen Beratung, also sowohl für die Prozessberatung als auch für die Expertenberatung.[4] Lediglich die Schwerpunkte und Zielsetzungen der Beratung sind anders gewichtet.
Auch wenn bis heute noch keine gängige allgemeine Definition formuliert wurde, lassen sich doch allgemeine Merkmale zusammentragen, die die professionelle Beratung als Interventionsform von der Alltagsberatung abgrenzen. Auf diese werde ich im Folgenden nun näher eingehen.
Laut Galuske definierte Hans Thiersch bereits 1977 drei allgemeine nachfolgend aufgeführte Merkmale von Beratung, die für jede Beratungstätigkeit, sowohl für die Alltagsberatung als auch für die professionelle Beratung, bis heute Gültigkeit haben.
1. In der Beratung realisiert sich eine spezifische Form der Rollenbeziehung.
Ein Teilnehmer der Beratungsinteraktion soll aus dem jeweiligen Geschehen Nutzen ziehen, während der andere Teilnehmer als Mittel der Veränderung akzeptiert wird.
In der Alltagsberatung werden diese Rollen häufig gewechselt, dagegen sind sie in der professionell beschriebenen Beratung vorwiegend fixiert.
2. Beratung erfolgt im Medium der Sprache, des Gesprächs.
Beratung vollzieht sich in interaktiven Kommunikationsbeziehungen, in einem Wechselspiel von gegenseitigem Sprechen, Hören und Verstehen.
3. Beratung bezieht sich nur auf solche Probleme, die ein mittleres Maß nicht überschreiten.
„Der zu Beratende ist dabei wenigstens noch so funktionsfähig, dass er die aus der Beratung resultierenden Lösungsansätze auch in Handlungsschritte umsetzen kann“ (Galuske 1999, S. 156)
Im Zuge meiner Literaturreschreschen zum Thema Beratung bin ich auf die verschiedensten Beratungsdefinitionen gestoßen. In Anlehnung daran können als weitere Merkmale einer Beratung genannt werden:
Professionelle Beratung
- ist eine komplexe zwischenmenschliche Interaktion, die sich sowohl auf einzelne Personen als auch auf Gruppen oder Organisationen beziehen kann.
- ist subjekt-, aufgaben- und kontextbezogen.
- findet in den unterschiedlichsten Bereichen, wie Erziehung und Bildung, Sozial- und Gemeinwesen, Arbeit und Beruf, Wohnen und Freizeit, Gesundheit und Wohlbefinden statt.
- befasst sich auf einer theoriegeleiteten Grundlage mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben und/oder multifaktoriell bestimmten Problem- und Konfliktsituationen. Dabei geht es ihr um die Befähigung und die Bewältigung eines aktuellen Problems und nicht wie bei einer Therapie um eine grundlegende Umorientierung einer Person oder um eine Persönlichkeitsveränderung. Zudem ist sie abhängig von den zu bewältigenden Anforderungen, Problemlagen oder Krisensituationen, in denen sich die Ratsuchenden befinden.
- beinhaltet ein fundiertes Handlungskonzept, das tätigkeitsfeld- und aufgabenspezifisch ausdifferenziert ist. Ihre unterschiedlichen Beratungskonzepte werden von einschlägigen Ausbildungsstätten auf der Grundlage unterschiedlicher theoretisch und empirisch fundierter Erkenntnisse und methodischer Zugänge entwickelt.
- ist theoretisch begründet und ihre Konzept- und Methodenvielfalt ist für den Ratsuchenden transparent. Zur Sicherung des methodischen Handelns wird regelmäßig evaluiert.
- ist ressourcenaktivierend, präventiv, kurativ/rehabilitativ oder gesundheitsfördernd (vgl. dazu Engels und Sickendieks Verständnis einer sozialen, pädagogischen oder psychologischen Beratung[5] )
- ist eingebettet in institutionelle, rechtliche, ökonomische und berufsethische Rahmenbedingungen, innerhalb derer die anstehenden Aufgaben, Probleme und Konflikte dialogisch bearbeitet und geklärt werden (der Beratungsprozess ist kooperativ).
- ist eine personen- und strukturbezogene Dienstleistung mit klaren Zielvereinbarungen. Erreichbare Ziele werden definiert, Handlungspläne entworfen und persönliche, soziale, Organisations- oder Umweltressourcen werden identifiziert und genutzt.
- erfordert vom Berater spezifische Kompetenzen[6].
- findet auf der Grundlage einer professionellen Beraterbeziehung statt, die innerhalb des Beratungsprozesses aufgebaut wird (siehe dazu Kapitel 6.2.1).
- ist in der Regel freiwillig (Ausnahmen gibt es in Tätigkeitsbereichen der Sozialen Arbeit, beispielsweise der Schwangerschaftskonfliktberatung oder in der Drogenberatung als gerichtliche Auflage).
- arbeitet kooperativ mit verschiedenen Berufsgruppen zusammen bzw. wünschenswerterweise sind bei einer Beratung – bei Bedarf – verschiedene Institutionen und Organisationen miteinander vernetzt.
- ist auf die nähere Zukunft hin ausgerichtet.
- Im Gegensatz zur Therapie handelt es sich bei einer professionellen Beratung in der Regel um eine zeitlich begrenzte und überschaubare Intervention (von durchschnittlich 12 - 15 Sitzungen, eine Therapie hingegen kann Jahre dauern).
(vgl. Nestmann 2004 a, S. 784/Henze o.J., S. 3 ff./Reichel o.J./Der Brockhaus multimedia 2001)
In dem nachfolgenden Kapitel wird es ausschließlich um die professionelle Beratung im Bereich der sozialen Arbeit gehen. Denn gerade die sozialpädagogische Beratung hat sich im Zuge der Entwicklung moderner Gesellschaften und den daraus resultierenden neuen Belastungen stetig in ihren Aufgabenbereichen erweitert. D.h. „neben den herkömmlichen Aufgaben der Sozialarbeit (im Kontext von Armut, Verelendung und Ausgrenzung) und der Sozialpädagogik (als Erziehung und Bildung in belastenden Verhältnissen) [wurden auch hier] zusätzlich Angebote der Unterstützung und Beratung in den alltäglichen Schwierigkeiten der Lebensgestaltung und -bewältigung notwendig“ (von Spiegel 2004, S. 21).
Da die Soziale Arbeit in der heutigen Ausprägung die beiden historisch gewachsenen Entwicklungsstränge der Sozialarbeit und Sozialpädagogik vereint, werde ich im Folgenden keine Unterscheidung zwischen den Begriffen Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit treffen. Die Begriffe werden von mir weitgehend synonym verwendet. In Anlehnung an Galuske folge ich damit einem Verständnis von Sozialer Arbeit als „Sammelbegriff für alle Teilbereiche der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, die jeweils durch Angebote, Dienste und Veranstaltungen bestimmt werden, in denen die Handlungsmöglichkeiten Beraten, Erziehen, Fürsorge und Pflege mehr oder weniger dominierend sind“ (Galuske 1999, S. 19).
Vorschläge für die Bestimmung des Gegenstandes Sozialer Arbeit gehen aus den vielfältigen Theorien Sozialer Arbeit hervor. „Vertreter der Disziplinen ‚Sozialarbeitswissenschaft’ und auch der universitären ‚Sozialpädagogik’ arbeiten seit längerem daran, zu bestimmen, was Soziale Arbeit ist und was diese von anderen Berufen unterscheidet. Annäherungen an den Gegenstand erfolgen über eine Analyse und Interpretation Sozialer Arbeit bzw. durch die fachwissenschaftliche Diskussion über das arbeitsfeldübergreifende Gemeinsame des professionellen Bemühens“ (von Spiegel 2004, S. 35). Ein Überblick über die klassischen Theorien, die die Frage nach dem Gegenstand tendenziell beantworten, findet sich beispielsweise bei Thole (2005) und zu aktuellen Theorien u.a. bei Füssenbacher und Thiersch (2001). Einflussreiche Theorien, die wesentliche Aspekte der sozialen Arbeit thematisieren findet man außerdem bei Hiltrud von Spiegel (2004)[7]. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich eine dieser Theorien der Sozialen Arbeit herausgreifen und näher betrachten. Hierbei handelt es sich um das Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit von Hans Thiersch. Es konzentriert sich auf die Unterstützung der Menschen in der Gestaltung und Bewältigung ihres Alltags unter Einbezug der pluralen und individualisierten Lebensverhältnisse. Aus diesem Konzept werde ich die Aspekte näher beleuchten, die m.E. eine Schlüsselfunktion in der sozialpädagogischen Beratung tragen. Allgemein betrachtet kann der gesellschaftliche Ort der Sozialen Arbeit als Profession zum einen bestimmt werden in Bezug auf die großen gesellschaftlichen Funktionsbereiche, wie dem Sicherungssystem, Bildungssystem, Gesundheitssystem und Sanktionssystem, zum anderen in Bezug auf die Daseinsfunktionen, Arbeit, Bildung, Wohnung, Versorgung und Freizeit. Soziale Arbeit wird in diesen verschiedenen Bereichen, in einer sich mehr und mehr ausdifferenzierenden Gesellschaft, in der das Gelingen individueller Lebensentwürfe immer schwieriger wird, nach Albrecht Mühlum „immer da notwendig, wo Konflikte auftreten, die die Problembewältigungskompetenzen von Einzelnen oder Gruppen überfordert“ (Mühlum 1999, S.11).
Da es zunehmend schwieriger wird, sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu behaupten, ist Soziale Arbeit zu einem Angebot der Unterstützung bei Orientierungsschwierigkeiten und Belastungen auch im normalen Leben und Alltag geworden.[8] Sie hat damit ihr traditionell in Rand- und Elendszonen der Gesellschaft angesiedeltes Angebot erweitert und ist nun ein Leistungsangebot für alle und nicht nur, wie auch Rita Sahle betont haben möchte, für gesellschaftlich benachteiligte Gruppen geworden (vgl. Sahle 1999, S.4).
Ziel der Sozialen Arbeit ist die Reduktion oder die Verhinderung sozialer Probleme Einzelner oder Gruppen und die Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe.
Soziale Probleme entstehen immer dann, wenn die biopsychosozialen Bedürfnisse von Individuen aufgrund ihrer unzureichenden Einbindung in soziale Strukturen (Gruppen, Familien, Organisationen, Gesellschaften) verletzt sind. Im Wesentlichen können nach Silvia Straub-Bernasconi vier verschiedene Arten sozialer Probleme benannt werden:
- Ausstattungsprobleme: Menschen haben zu wenig oder keinen Zugang zu bedürfnisrelevanten Ressourcen.
- Austauschprobleme: Menschen leben in sozialen Verhältnissen, die von asymmetrischen Austauschverhältnissen gekennzeichnet sind und nicht auf Gegenseitigkeit bzw. Gleichwertigkeit beruhen.
- Machtprobleme: Menschen werden durch Machtverhältnisse daran gehindert, ihre biopsychosozialen Bedürfnisse zu befriedigen.
- Kriterien- und Wertprobleme: Menschen leben in sozialen Verhältnissen, in denen Normen und Werte (z.B. Gerechtigkeit, Transparenz, Wahrheit) nicht oder nicht ausreichend vertreten werden (vgl. Straub-Bernasconi 1994, S. 15 ff).
Soziale Arbeit als Profession arbeitet an der Lösung und der möglichen Prävention dieser Probleme, die sich nach Mühlum auf die Mitglieder einer Gesellschaft folgendermaßen auswirken können:
- „Wenn die gesellschaftlichen Umstände steigende Anpassungsleistungen oder Bewältigungsleistungen von den Gesellschaftsmitgliedern verlangen, wachsen auch die Risken des Scheiterns, wie beispielsweise Fehlanpassung, Anpassungsverweigerung oder Deviation.
- Wenn mit dem gesellschaftlichen Differenzierungsprozess das Niveau der materiellen und immateriellen Ausstattung steigt, wächst gleichzeitig die Möglichkeit gravierender sozialer Ungleichheit mit der Folge von Armut und Ausgrenzung.
- Wenn die gesellschaftliche Entwicklung Interaktions- und Teilhabechancen verwehrt, wachsen auch die Risiken der Ausgrenzung und die Austauschprobleme zwischen Menschen, Gruppen und Gesellschaft. Es können Beziehungsstörungen, Gefühle von Macht und Ohnmacht und Segregation entstehen“ (Mühlum 1999, S. 11).
Gegenstand der sozialen Arbeit sind daher individuelle Probleme, wie unzureichende sozioökonomische und sozialökologische Ausstattungen, teilweise auch bedingt durch unzureichende körperliche oder geistige Möglichkeiten etc. – wie bei Silvia Straub-Bernasconi beschrieben – die dann zum Ausgangspunkt für und mit sozialen Systemen werden können und soziale Probleme, d.h. Probleme im Zusammenhang mit einer Sozialstruktur bzw. Kultur einer Gesellschaft, wie z.B. vorgegebenen Macht- und Interessenstrukturen einer Gesellschaft (vgl. ebd., S. 11).
Nicht alle sozialen Probleme müssen jedoch sozialarbeitsrelevant sein. Krankheit oder Umweltverschmutzung zum Beispiel sind nach Rita Sahle nur partiell im Fokus sozialarbeiterischen Handelns. „Folglich muss auch geklärt werden, wann, unter welchen Bedingungen für welche sozialen Probleme eine Bearbeitung durch Soziale Arbeit erfolgt“ (Sahle 1999, S. 4) und wann andere gesellschaftliche Maßnahmen, z.B. aus der Sozialpolitik oder Justiz, geeigneter und zuständig sind. Ist ein soziales Problem aber sozialarbeitsrelevant, braucht es nach Thiersch eine Strukturpolitik innerhalb der Sozialen Arbeit, die eine Einmischung in andere, über Ressourcen verfügende Politik- und Gesellschaftsbereiche möglich macht.
Dabei muss Soziale Arbeit jedoch stets ihren doppelten Auftrag bzw. ihr doppeltes Mandat[9] berücksichtigen. D.h. sie muss in der Vermittlung zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft und denen des Subjektes agieren, wobei sie „primär parteilich für das Subjekt und seine Probleme mit der Gesellschaft ist und nicht für die Probleme, die die Gesellschaft mit ihm hat“ (Thiersch 2004, S. 117).
Damit ist Soziale Arbeit im Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Individuum einzuordnen, wobei ihre Handlungsfelder insbesondere durch die Gesellschaft definiert werden, die gleichzeitig sowohl als Auftraggeber, Problemursache und Problemlösungsteil/-inhaber anzusehen ist.
Zu einer ganz zentralen Aufgabe der Sozialen Arbeit zählt die Beratung, die in den verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit geleistet wird. Da das Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit für die sozialpädagogische Beratung, wie bereits erwähnt, in besonderer Weise Bedeutung erlangt hat, ist es zum Schlüsselkonzept geworden und hat die Theoriediskussion in der Sozialen Arbeit und somit auch in der sozialpädagogischen Beratung in Deutschland entscheidend geprägt. Deshalb möchte ich dieses Konzept von Hans Thiersch und seinen Mitarbeitern im Folgenden darstellen. Neben dem Konzept der Lebensweltorientierung sind für die Praxis der Sozialpädagogischen Beratung – vor allem für das später von mir vorgeschlagene Modell einer Stalkingberatung – auch systemische wie beispielsweise das lösungsorientierte, sowie ressourcenorientierte- und netzwerkorientierte Beratungskonzepte zentral. Daher werde ich auch auf diese (vgl. Kapitel 3.4.1 ff.) eingehen.
Lebensweltorientierung als Konzept[10] nimmt den Alltag bzw. die alltägliche Lebenswelt, d.h. den Ort, wo Probleme entstehen, wo Leben gelebt wird, wo die Adressaten selbst mehr oder minder angemessene Strategien der Lebensbewältigung praktizieren, als originären Ort sozialpädagogischen Handelns in den Blick. Das Konzept fußt auf den Arbeiten der sogenannten Tübinger Schule, einer Gruppe von Wissenschaftlern um Hans Thiersch. Es wurde im Laufe der letzten 30 Jahre phasenweise als Antwort auf gesellschaftliche und sozialpolitische Herausforderungen im Zuge der Industrialisierung und damit einhergehend soziokultureller Veränderungen in Form der Pluralisierung der Lebenslagen und der Individualisierung der Lebensführung entwickelt und bis heute weiter profiliert. Die mit diesem Konzept verbundene Kritik und die sich daraus für die Soziale Arbeit ergebende neue Orientierung lag vor allem in der Ausgrenzung und Parzellierung von Problemlagen aus dem jeweiligen Kontext, d.h. aus dem Alltag und der Lebenswelt der Adressaten[11]. Ursprünglich war es auch als Antwort auf eine politische und fachliche Entfremdung, die nach Meinung von Thiersch durch die Konzentration auf eine politisch bestimmte Analyse der Funktion Sozialer Arbeit in den 60er Jahren einsetzte und konkrete Fragen der Bewältigung von Lebensverhältnissen und auch Probleme des methodischen Handelns ausblendete (vgl. Thiersch 1997, S. 13 ff) gedacht. So verstanden die Autoren selbst ihr Konzept als Gegenbewegung zum Trend der Spezialisierung und Expertokratie in den 70er Jahren (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 13). Nach Engel und Sickendiek wollten sie möglicherweise damit auch das ungenaue Profil der Sozialen Arbeit schärfen (vgl. Engel/Sickendiek 2005, S. 29) und einer vereinfachten Sicht von Alltag nur als kompetente oder heile Wirklichkeit ohne die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen in den Blick zu nehmen (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 13 ff) entgegenwirken.
Der theoretisch-wissenschaftliche Hintergrund des Konzeptes der Lebensweltorientierung steht nach Grunwald und Thiersch auf vier theoretischen Säulen.
- Die erste Säule steht in der hermeneutisch/pragmatischen Traditionslinie der Erziehungswissenschaft. Für die pädagogische Theorie und Praxis ist die Frage nach dem Alltag und der je individuell interpretierten Welt der Menschen zunächst bestimmend. Die hermeneutisch-pragmatische Pädagogik ist dabei interessiert an der alltäglichen Praxis des Verstehens und dem darauf bezogenen Handeln.
- Das nächste Fundament des Konzeptes ist geprägt durch das phänomenologisch interaktionistische Paradigma, nach dem die alltägliche Lebenswelt durch die erlebte Zeit, den erlebten Raum und die erlebten sozialen Bezüge strukturiert wird. In dieser Lebenswelt wird pragmatisch Relevantes von Nicht-Relevantem unterschieden; Interpretationen und Handlungen gerinnen zu Alltagswissen und Routinen. Die Rekonstruktion der alltäglichen Lebenswelt sieht Menschen in ihren alltäglichen Verhältnissen, von denen sie geprägt sind, die sie aber auch aktiv mitbestimmen und mitgestalten.
- Eine weitere Säule ist die kritische Variante der Alltagstheorie. Alltag wird hier als in sich dialektisch betrachtet, der unter Einfluss der Doppelbödigkeit von Gegebenem und Aufgegebenem, von Realität und Möglichkeit steht. Er ist gekennzeichnet durch die entlastende Funktion von Routinen, die Sicherheit und Produktivität von Handeln ermöglichen, die aber andererseits Enge, Unbeweglichkeit und Borniertheit erzeugen und menschliches Leben in seinen Grundbedürfnissen und Möglichkeiten einschränken. Dabei liegt die Intention der kritischen Alltagstheorie darin, im Alltag zugleich die Ressourcen zu sehen, Borniertheit zu destruieren und in ihnen unentdeckte und verborgene Möglichkeiten zu zeigen. Auf diese Weise soll eine Produktivität in den Gegensätzen und Widersprüchen des Alltags, also die Möglichkeit eines „gelingenden Alltags“ hervorgebracht werden.
- Zuletzt bezieht sich das Konzept der Lebensweltorientierung auf Analysen gesellschaftlicher Strukturen. Lebenswelt ist dabei der Ort der Erfahrung und Bewältigung von Strukturen und Handlungsmustern, also die Schnittstelle von Objektivem und Subjektivem. Lebenswelt kann, bildlich gesprochen, als Bühne gesehen werden, auf der Menschen in einem Stück in Rollen und Bühnenbildern nach bühnenspezifischen Regeln miteinander agieren; Lebenswelt ist gleichsam der Ort eines Stegreifspiels in vorgegebenen Mustern. Das Konzept der Lebensweltorientierung stützt sich dabei auf Untersuchungen zur gesellschaftlichen und sozialen Bestimmung von Lebensmustern, also z.B. der Geschlechterrollen, der Migrationskulturen, der Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Des Weiteren bezieht es sich auf die gesellschaftlich/sozialen Ressourcen von Lebenswelten – also der materiellen, sozialen und ideologischen Ressourcen oder Kapitale. Im Kontext dieser Forschungen ist das Konzept der Lebensweltorientierung interessiert an Arbeiten zum Zusammenhang von Strukturen und Erfahrungen, zur Vermittlung von objektiv-sozialstrukturellen und subjektiv-qualitativen Forschungszugängen.
Alle vier Säulen gemeinsam stellen die theoretische Grundlage einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit dar (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 17 ff).
Eng verbunden mit einem speziellen Zugang zur Rekonstruktion der Lebenswelt der Adressaten[12] sind die Intensionen bzw. Aufgaben Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit, die in unterschiedlichen Dimensionen, wie Zeit, Raum, sozialen Beziehungen und Bewältigungsarbeit angegangen werden können.
1. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit agiert in der Dimension der erfahrenen Zeit. Da die Zukunft ungewiss ist und vorbestimmte Lebensläufe seltener werden, gewinnt die Gegenwart mehr und mehr an Gewicht. Soziale Arbeit orientiert sich daher an der Gegenwart der Menschen z.B. an der Gleichaltrigenkultur. Sie macht die Adressaten kompetent für die sich in der jeweiligen Lebensphase stellenden Bewältigungsaufgaben.
2. Eine zweite Dimension, in der Lebensweltorientierte Soziale Arbeit agiert, ist die des erfahrenen Raumes. Die Adressaten werden in ihren räumlichen Verhältnissen (also in ländlichen oder in städtischen Milieus, auf der Straße etc.) gesehen. Die Wahrnehmung ihres spezifischen Raumes, kann je nach Lebenssituation sehr unterschiedlich sein. Ziel einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist es, gegebene Ressourcen zugänglich zu machen und neue Ressourcen und Möglichkeiten zur Lebensbewältigung aufzuzeigen.
3. Des Weiteren handelt Lebensweltorientierte Soziale Arbeit in den Strukturen der sozialen Bezüge. Sie sieht Menschen in den Spannungen und Ressourcen die sich aus den sozialen Geflechten ergeben haben. Soziale Arbeit versucht, sowohl die Spannungen – die oft aus belastenden sozialen Erfahrungen vieler ihrer Adressaten herrühren – als auch die Ressourcen aufzuzeigen, um sie nutzbar machen zu können. Dabei bietet sie kompensierend und entlastend verlässliche und belastbare Beziehungen an.
4. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit zielt außerdem auf Hilfe zur Selbsthilfe, auf Empowerment (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 33 f).
Da die Lebensverhältnisse immer gesellschaftlich geprägt sind, ist die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit auch dazu verpflichtet, die hinter den individuellen Problemen stehenden gesellschaftlichen Probleme aufzudecken.
Allgemein bezeichnet man als Maxime einen Leitsatz oder Leitgedanken. Strukturmaxime meinen hier Leitideen für die Gestaltung von Angeboten und Hilfen der Sozialpädagogik.
Aus den oben beschriebenen Intentionen bzw. Dimensionen leitet Thiersch also 4 nachfolgende Strukturmaxime der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ab, die auch als Grundlage für das methodische Handeln dienen.
- „Prävention – als allgemeine Prävention – zielt auf die Stabilisierung und Inszenierung belastbarer und unterstützender Infrastrukturen und auf die Bildung und Stabilisierung allgemeiner Kompetenzen zur Lebensbewältigung; sie zielt auf gerechte Lebensverhältnisse und eine gute Erziehung. Prävention – als spezielle Prävention – sucht nicht erst zu helfen, wenn Schwierigkeiten sich dramatisieren und verhärten, sondern rechtzeitig und vorausschauend bereits dann zu agieren, wenn sie zu erwarten sind, also in Situationen besonderer Überforderung und Belastung, in sich abzeichnenden Krisen“ (Grunwald/Thiersch 2004, S. 26). Durch Prävention sollen also belastbare Situationen geschaffen werden, die gerechte Lebensverhältnisse ermöglichen.
- Alltagsnähe meint zunächst die Präsenz von Hilfen in der Lebenswelt der Adressaten, also die Erreichbarkeit und Niedrigschwelligkeit von Angeboten. Sie meint des Weiteren eine ganzheitliche Orientierung in den Hilfen, die den ineinander verwobenen Lebenserfahrungen und -deutungen in der Lebenswelt gerecht wird (vgl. ebd., S. 26).
- Dezentralisierung/Regionalisierung und Vernetzung betonen die auch in der Alltagsnähe intendierte Präsenz von Hilfen vor Ort, sodass diese in die konkreten lokalen und regionalen Strukturen eingepasst werden können (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 27).
- Integration zielt auf Nichtausgrenzung, also auf Gleichheit in den Grundansprüchen und Anerkennung im Recht auf Verschiedenheit (vgl. ebd., S. 27). Damit meint Integration die respektvolle, offene Anerkennung individueller Unterschiede ebenso wie die Sicherung von Rechten und Hilfen, die eine elementare Gleichheit ermöglicht.
- Partizipation schließlich verwirklicht sich in vielfältigen Formen von Beteiligung und Mitbestimmung bei der Realisierung von Hilfeprozessen und regionalen Planungen
(vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 28).
Betrachtet man die Strukturmaxime näher, fällt auf, dass Prävention, Regionalisierung und Alltagsnähe mehr auf dem Schwerpunkt der lebensweltlichen Erfahrungen liegen, während die Maxime der Integration und Partizipation eher unter der kritischen, sozialethischen Dimension anzusiedeln sind.
Des Weiteren schlägt Thiersch vier Handlungsmaxime vor, an denen sich Soziale Arbeit orientieren sollte.
- Vernetzen/Planen. Dies meint, dass die vielfältig entstandenen und noch zu entwickelnden Angebote und Arbeitsfelder vernetzt und koordiniert werden müssen, um ein Neben- und Gegeneinanderarbeiten zu verringern. So kann ein unnötiger Kräfteverschleiß der Fachkräfte verhindert werden.
- Einmischen: Dabei handelt es sich um das Einmischen in andere Politik- und Gesellschaftsbereiche. Nur so kann Soziale Arbeit ihrem Selbstverständnis und ihrer Aufgabe entsprechen, Anwalt für die Adressaten zu sein.
- Aushandeln: Dies meint, dass Problemdeutungen, Regeln, Lösungsstrategien, Organisationsformen usw. im gemeinsamen, partnerschaftlichen Gespräch mit den Adressaten entwickelt werden.
- Reflektieren: meint, dass alles berufliche Tun und (Unter-)Lassen von einem methodisch abgesicherten (selbst-)kritischen Nachdenken über die Wirkungen und Nebenwirkungen des beruflichen Handelns begleitet und überwacht werden muss. (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 23 ff.)
Thierschs Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit spiegelte sich auch im Verständnis sozialpädagogischer Beratung wider.
„ Als Reaktion auf eine zunehmende Therapeutisierung und Spezialisierung von Beratungsangeboten, auch in sozialpädagogisch akzentuierten Arbeitsfeldern, wurde spätestens seit Mitte der 70er Jahre der Versuch unternommen, die Spezifika einer sozialpädagogischen Beratung herauszuarbeiten “ (Galuske 1999, S. 155).
Sozialpädagogische Beratung sollte sich nach Thiersch von der Engführung psychologisch-therapeutisch orientierter Beratungsformen und Konzepte abgrenzen, die sich in dieser Zeit rasant als Mainstream für Beratung verbreitet und durchgesetzt hatten. Ihre Engführung durch die Konzentration auf die oft reduktionistische Bearbeitung von Verhaltens- und Vorstellungsmustern sollte sozialpädagogische Beratung zugunsten einer Beratung in der Flächigkeit des Alltags aufgeben (vgl. Thiersch 1997, S. 141).
Sozialpädagogische Beratung im Kontext der Lebensweltorientierung wird nach Frommann, Schramm und Thiersch (1977, S. 104 ff) durch folgende Merkmale bzw. Eigenschaften, von anderen Beratungen, wie beispielsweise der psychologischen Beratung, abgegrenzt:
- Orientierung am Alltag und der Lebenswelt der Adressaten:
Alltag ist dabei der Schnittpunkt gesellschaftlicher Strukturen und individueller Biographie, quasi als konkrete Verdichtung gesellschaftlich fundierter Erfahrungen. Die in Widersprüchen der modernen Gesellschaft angelegten Konflikte, Sinnverlust, Apathie usw. zeigen sich unmittelbar im Alltag der Betroffenen, in der Komplexität der politischen, psychologischen, rechtlichen und sozialen Schwierigkeiten. Diese Konflikte sind – und waren immer schon –Gegenstand Sozialpädagogischer Beratung.
- Festlegung des Kompetenzbereichs:
Sozialpädagogische Beratung ist in ihrem Kompetenzbereich wesentlich unklarer abzugrenzen als beispielsweise therapeutische Beratungen, die ihren Kompetenzbereich unter Berufung auf theoretische Schulen (Psychoanalyse, humanistische Psychologie, Lerntheorien) inhaltlich bestimmen können. Die Festlegung des Kompetenzbereichs erfolgt im Falle Sozialpädagogischer Beratung eher in Bezug auf regionale Einheiten (z.B. Stadtteil) oder „Problemgruppen“.
- Allzuständigkeit:
Innerhalb eines Feldes ist das Themen- und Aufgabenspektrum Sozialpädagogischer Beratung prinzipiell nicht begrenzt. Alles, was im Alltag zum Problem werden kann, kann auch Thema Sozialpädagogischer Beratung sein (von finanziellen Problemen, über Schulschwierigkeiten und Eheproblemen, bis hin zur Frage der Sinnsuche). Die Komplexität möglicher Themen hat Auswirkungen auf die praktizierten Handlungsansätze. Sozialpädagogische Beratung arbeitet daher typischerweise eklektisch, methodenintegrierend und disziplinübergreifend.
- Vielfalt der Beratungsformen und Adressatengruppen:
Die Allzuständigkeit der Sozialpädagogik bedingt, dass Sozialpädagogische Beratung sich nicht in einem Setting realisieren kann und sich nicht an eine Adressatengruppe wendet. Sie ist offen für unterschiedliche Angebotsformen und vielfältige Adressatengruppen.
- spezifischen Handlungsintentionen:
Sozialpädagogische Beratung ist Beratungshandeln in der Komplexität alltäglicher Problemlagen und Problemlösungsstrategien. Sie ist weit stärker als andere Beratungsformen eine Intervention, die auf die Belebung von Alltagstechniken bzw. auf die Konflikt- und Krisenbewältigung gerichtet ist und dabei notwendigerweise den gesellschaftlichen Kontext nicht ausklammert (vgl. Galuske 1999, S. 156 ff.).
Mit der Orientierung auch an lebenspraktischen Fragen geht Sozialpädagogische Beratung über die Möglichkeiten bzw. über die Intentionen z.B. psychologischer Beratung hinaus. Während die psychologische Beratung die Komplexität psychosozialer Probleme methodisch auf psychologische Schlüsselprobleme reduziert, berücksichtigt die Sozialpädagogische Beratung die Komplexität, die sich aus dem Zusammenwirken von z.B. materiellen, alltagspraktischen und sozialen Belastungen ergibt. Diese Erweiterung erfordert sowohl die Einbettung der Beratung in, als auch die Ausdehnung der beraterischen Aktivitäten auf die Lebenswelt der Adressaten und der Berater. Dies entspricht den Intentionen des Konzepts einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit.
Eine Sozialpädagogische Beratung realisiert sich des Weiteren in den schon beschriebenen Struktur- und Handlungsmaximen, an denen sich Soziale Arbeit im Kontext der Lebensweltorientierung insgesamt orientiert, beispielsweise der Prävention, Integration, Vernetzung[13], Einmischen, Aushandeln etc (vgl. Kapitel 3.2.3). Hinzukommen für eine Beratung noch nicht erwähnte Grundsätze wie:
- Freiwilligkei t[14]
- Respekt: Respekt als Grundorientierung Lebensweltorientierter Arbeit insgesamt zielt dabei auf den Ratsuchenden als Subjekt seiner Verhältnisse. So bedeutet Respekt nach Thiersch „Respekt vor der Eigensinnigkeit von Lebensverhältnissen, aber auch Annerkennung der Unterschiedlichkeit lebensweltlicher Erfahrungen, also ein Wissen darum, dass mir im Anderen auch immer der Fremde begegnet; Respekt muss – allen professionellen Verstehenskünsten und Arbeitsaufträgen gegenüber – das Andere auch als Fremdes akzeptieren und stehen lassen können“ (Grunwald/Thiersch 2004, S. 24).
- Vertauen: Für Hans Thiersch ist Sozialpädagogische Beratung „Kommunikation auf der Basis von Vertrauen“ ( Grunwald/Thiersch 2004, S. 24). Dieses Prinzip impliziert gleichzeitig die Handlungsmaxime des Aushandelns (vgl. S. 26).
- Sachorientierung: Sozialpädagogische Beratung bietet Orientierungshilfen, die sich auch auf die materielle Absicherung individueller Existenzen beziehen, d.h. die sachorientiert sind. Dabei können je nach Beratungsanlass wirtschaftliche Probleme wie schlechte Einkommens-, Wohnungs- und sonstige Güterausstattungen, soziale Probleme, wie ungenügender Zugang zu Bildungs-, Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten, im Vordergrund stehen. Ziel einer Sozialpädagogischen Beratung ist es, in diesen Situationen die Autonomie des Ratsuchenden zu fördern und seine sozialen und materiellen Lebensgrundlagen zu sichern. Durch entsprechende Interventionen soll ein gelingender Alltag ermöglicht werden. Nach Harald Ansen stehen dafür in einer Sozialpädagogischen Beratung zwei zentrale Interventionsformen im Mittelpunkt: „Zum einen handelt es sich um Maßnahmen, die der Existenzsicherung dienen, zum anderen um persönliche Hilfen, die auf die Förderung individueller Kompetenzen zielen“ (Ansen 2004, S. 63), wobei sich in der Praxis immer wieder beide Formen überlappen.
Methodisch umgesetzt werden die oben genannten Maxime im Beratungsprozess. Sozialpädagogische Beratung ist nämlich „ein methodisch ausgewiesenes, zielorientiertes Arbeitskonzept“ (Thiersch 1997, S. 130), das grundlegenden methodischen Vorgehensweisen folgt, nicht zuletzt auch, um den professionellen und wissenschaftlichen Anspruch einzulösen, den die Sozialpädagogische Beratung zu Recht für sich reklamiert. In seinem Grundmuster ist dieses Arbeitskonzept strukturiert durch die Phasen „der Erkenntnis der Situation, eines Lösungsentwurfes, einer schrittweisen Realisierung dieses Entwurfes und seiner Überprüfung“ (Grunwald/Thiersch 2004, S. 30). Diese konkretisieren sich in vielfältigen Ansätzen mit Techniken des Verstehens, der Interpretation, der Bestärkung und Unterstützung im Selbstvertrauen.
Angesichts der vielschichtigen Problemlagen und der Kontingenzen, die immer dann zu beachten sind, wenn wir pädagogisch mit Menschen umgehen, fordert Thiersch jedoch den Aufgaben und der Situation Sozialpädagogischer Beratung angemessene, methodisch strukturierte Offenheit innerhalb des Konzepts ein (vgl. Thiersch 1997, S.135 ff).
Wenn Sozialpädagogische Beratung ihrem Auftrag, „Hilfe zur Selbsthilfe“, in den vielfältigen Lebensschwierigkeiten ihrer Adressaten gerecht werden will, kann ein ausschließlich technologisches Vorgehen in der Beratung nicht geeignet sein, denn pädagogisches Handeln „ist bezogen auf Situationen und als Handeln zwischen Menschen, nicht einfach planbar“ (Grunwald/Thiersch 2004, S. 31).
Im Folgenden werde ich das methodische Handeln in einer sozialpädagogischen Beratung grob skizzieren.
„Handeln“ und somit auch methodisches Handeln stellt immer – im Unterschied zu Verhalten – eine bewusste, auf ein bestimmtes Ziel hin orientierte Tätigkeit dar.
Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit ist zielorientiert, methodisch komplex und bedeutet, bezogen auf die Praxis, dass die „spezifischen Aufgaben und Probleme der Sozialen Arbeit situativ und kontextbezogen, eklektisch und strukturiert sowie vorläufig und kriteriengeleitet zu bearbeiten sind, wobei die Orientierung an Charakteristika des beruflichen Handlungsfeldes sowie am wissenschaftlichen Vorgehen erfolgen sollte“ ( von Spiegel 2004, S. 124 f). Der Begriff methodisches Handeln beschreibt nach Hiltrud von Spiegel eine besondere Art und Weise von Analyse, Planung und Auswertung beruflichen Handelns, die sich von laienhaftem Alltagshandeln unterscheidet. Fachkräfte der Sozialen Arbeit, sollten ihre Situations- und Problemanalysen, die Entwicklung von Zielen und die Planung von Interventionen verständigungsorientiert, multiperspektivisch und revidierbar gestalten. Es wird von ihnen erwartet, dass sie ihre Handlungen transparent und intersubjektiv überprüfbar halten. Außerdem sollten die Handlungen berufsethisch zu rechtfertigen sein und unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher und erfahrungsbezogener Wissensbestände begründet sowie hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bilanzieren werden (vgl. von Spiegel 2004, S. 255). Für das zielorientierte methodische Handeln in der Sozialen Arbeit spielen auch die Rahmenbedingungen, wie die Abhängigkeit von staatlicher Steuerung und die direkte Einbindung in bürokratische Organisationen, sowie die Allzuständigkeit der Sozialen Arbeit für die Alltags- und Lebensprobleme der Adressaten eine nicht unbeträchtliche Rolle.
Methodisches Handeln im Verlauf einer Sozialpädagogischen Beratung ist nach Thiersch bestimmt durch das Problem, den Gegenstand und die Lebensumstände des Klienten. Erst daraus ergeben sich die Methoden (vgl. Gasluske 1999, S. 159 f). Dies entspricht – wie methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit allgemein – einem eklektischen Verständnis[15], bei dem die Methoden in Abhängigkeit von Problemlagen, Zielsetzungen und Rahmenbedingungen diskutiert werden. D.h.: „Nicht die Methode bestimmt den Verlauf der Beratung, sondern das Problem, der Gegenstand, die Lebensumstände bestimmen die Vorgehensweise“ (ebd., S. 159). Methodisches Handeln folgt also nicht starr einem festgelegten, gelernten oder trainierten Verfahren, sondern ergibt sich aus dem zu behandelnden Problem. Die Frage sozialpädagogischen Handelns ist also nicht hauptsächlich „wie“ wird gehandelt, sondern „warum“ wird gehandelt bzw. was ist das Problem und der Gegenstand? Wichtig ist selbstverständlich eine gewissenhafte Reflexion des Beraters, ob die Vorgehensweise für dieses Problem angemessen ist. Die Methode ist demnach zu verstehen als Nahtstelle zwischen der Erkenntnis des Problems, den Handlungskonsequenzen und den Zieldefinitionen (vgl. Thiersch 1997, S. 135). Eine verallgemeinerbare methodische Vorgehensweise[16] kann es daher nicht geben. Thompson führt das eklektische und integrierende Methodenverständnis, d.h. den Trend zum Pluralismus und den verstärkten schulen- und disziplinenübergreifenden Methodeneinsatz sowie die Versuche einer systematischen und strategischen Integration von Interventionsformen verschiedener Konzepte, speziell in der Beratung, primär auf eine wachsende Diversität von Klienten, Klientenbedürfnissen und Klientenerwartungen zurück. So schreibt er: „Multikulturell sensible Beratung reflektiert in ihrer Theorie und Praxis die Werte, Einstellungen sowie Handlungsweisen, die durch die ethnischen und kulturellen, geschlechtsspezifischen, religiösen, alters- und erfahrungsspezifischen, ökonomischen und sozialökonomischen, politischen und ideologischen Hintergründe und Einbettung der Klienten geprägt sind. Nie kann nur eine Theorie die unendliche Vielfalt von möglichen Phänomenen im gesamten Lebensbezug und Lebenslauf menschlicher Erfahrung zu fassen beanspruchen. Somit kann auch nie ein nur aus einem Ansatz abgeleitetes Set an Interventionsmethoden universell bei der riesigen Spannbreite menschlicher und zwischenmenschlicher Anforderungen, Probleme und ihre Bewältigung am effektivsten sein“ (Thompson, 1996 In: Nestmann 2004 a, S. 788). Das enge Festhalten an nur einem Konzept würde nämlich die Gefahr in sich bergen, dass im Einzelfall bestimmte Aspekte des Problems und bestimmte Hilfemöglichkeiten von vornherein ausgeschlossen würden. Bei der Betrachtung mehrerer Beratungskonzepte aber kann der Berater die Hilfe exakter auf den Einzellfall abstimmen. Dafür muss er dafür aber auch mehrere Beratungskonzepte und -techniken beherrschen.
Dem entsprechend kann sozialpädagogische Beratung auch nicht festgelegt sein auf ein gelerntes oder trainiertes beraterisches Verfahren, sondern muss offen für eine themenzentrierte Auswahl und Praktizierung von Beratungsmethoden sowie Vorgehensweisen aus unterschiedlichen Theorien und Disziplinen sein. Das hängt – wie Thompson treffend formuliert hat – „auch mit dem breit angelegten Verständnis von Sozialpädagogischer Beratung zusammen, die der Komplexität von Alltag gerecht zu werden beabsichtigt, was wiederum eine notwendige Offenheit als strukturbildendes Prinzip verlangt“ (Thompson, 1996 in: Nestmann 2004 a, S. 788).
Methodisches Handeln in der Beratung ist somit grob umrissen abhängig von dem jeweiligen Gegenstand, den Lebensumständen und den Problemen der Ratsuchenden und bearbeitet diese situativ und eklektisch. Außerdem ist methodisches Handeln in Phasen strukturiert und durch strukturelle Asymmetrie[17] sowie „durch ein Wagnis ins Offene“ geprägt.
Auch wenn es kein allgemeines umfassendes und praxisgerechtes Beratungskonzept gibt, das die Vorteile der verschiedenen Konzepte miteinander kombiniert, gibt es jedoch eine Vielzahl von Modellen methodischen Handelns – mit methodischen Arrangements und Vorgehensweisen – an denen sich methodisches Handeln innerhalb eines Hilfeprozesses orientieren kann. Diese variieren bezüglich ihrer Bezeichnungen und werden auch unterschiedlich gewichtet. Nahezu alle sind jedoch durch Schrittfolgen oder Phasen strukturiert, die ich im nächsten Teilkapitel aufführen werde.
Ein strukturelles Manko für das methodische Handeln in der sozialen Arbeit allgemein und somit auch für die Beratung, aus dem sich Unsicherheiten bezüglich der Wirkung methodischen Handelns für die Fachkräfte ergeben können, stellt das sogenannte Technologiedefizit dar. Dieses bedeutet, dass sich ein stabiler Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung sowie zwischen methodischer Vorgehensweise und Ziel im Sinne von Methode X bewirkt Ereignis Z in der Sozialen Arbeit nicht herstellen lässt. „Auch Ursachenerklärungen sind Konstrukte und die vermeintliche Kenntnis einer Ursache führt nicht im Umkehrschluss zu einer Methode zur Beseitigung dieser Ursache. Alle Komponenten einer Situation wandeln sich aufgrund der strukturellen Komplexität sozialer Prozesse und sind daher prinzipiell nicht vorhersehbar. Selbst wenn sich ein gewünschtes Ereignis (eine Wirkung) einstellt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob sich dieses Ergebnis aufgrund einer Intervention oder trotz dieser eingestellt hat“ (von Spiegel 2004, S. 42 f.). Dennoch führt dieses strukturelle Manko nicht zum Verzicht auf Planung und methodisches Handeln, denn jeder Handlungsentwurf enthält explizit oder implizit Zielvorstellungen darüber, auf welchen Wegen den angestrebten Zielen näher zu kommen ist. Die Vorstellungen oder auch Hypothesen darüber, mit welchen Interventionen man vermutlich zum gewünschten Ziel kommt, hängen nicht unwesentlich mit beruflichen- und Alltagserfahrungen zusammen. Diese „hypothetisch entworfenen Wirkzusammenhänge sollen – im Gegensatz zum technologischen Denken – nicht die Illusion erzeugen, man könne ‚Ergebnisse’ in der Sozialen Arbeit wie andere Produkte planmäßig herstellen. Sie dienen in erster Linie dazu, die eigenen Konstruktionen transparent und der methodischen und beruflichen Reflexion zugänglich zu machen“ (von Spiegel 2004, S.43).
Schon Alice Salmon und Mary Richmond stellten sich die Frage nach der Strukturierung des methodischen Vorgehens. Sie bezogen sich in ihren Büchern zur Sozialen Diagnose auf das klassische medizinische Konzept von Anamnese (gr.-lat.; Erinnerung, und zwar im Sinne von Vorgeschichte), Diagnose (gr.-fr.; unterscheidende Beurteilung, Erkenntnis, und zwar im Sinne einer Ursachen-Wirkungs-Erklärung) und Behandlung. Dieser klassische methodische Dreischritt kann auch heute noch dazu dienen, methodisches Handeln zu planen und durchzuführen. Um jedoch den aktuellen Anforderungen an die Soziale Arbeit besser gerecht werden zu können, ist das Drei-Schritt-Modell von mehreren Autoren im Laufe der Jahre weiter ausdifferenziert worden
[...]
[1] Dieser Leitfaden von Julia Bettermann, Irmgard Nauk und Freudenberg stellt aber nur einen ganz groben Überblick und dies mehr stichpunktartig über Täter, Gefahrenprognose, Verhaltenshinweise für Opfer, Hilfsangebote und weiterführende Literatur dar.
[2] Individualisierung und Pluralisierung der Lebenslagen bezieht sich nach Thiersch darauf, dass infolge von soziostrukturellen Veränderungen „tradierte Lebensformen und Deutungsmuster in ihrem Verständnis brüchig werden“ und sich hierdurch „offene Möglichkeiten der Lebensführung“ ergeben. „Die Individualisierung birgt jedoch auch Nachteile. Sie bringt Orientierungslosigkeit, Verunsicherungen bezüglich der traditionellen Deutungs- und Handlungsmuster und das Gefühl des Fehlens von verlässlichen Bezügen in den Lebenswelten der Adressaten mit sich“ (Grunwald/Thiersch 2004, S.20).
[3] Engel und Sickendiek geben zu bedenken, dass die Breite des Begriffs „Beratung“, insbesondere seine Verortung im einerseits Alltäglichen und Unprofessionellen, anderseits im Professionellen, den Begriff und seine Definition problematisch machen. Aufgrund der Alltagspräsenz, die Beratung als Bestandteil vielfältiger Handlungsformen in jeweiligen Berufsfeldern hat, scheint Beratung etwas zu sein, so kritisieren sie „was jeder und jede quasi naturwüchsig kann, und was derart alltäglich ist, dass es keiner weiteren Ausbildung hierzu bedarf“ (Engel/Sickendiek 2005, S. 3). Verbunden damit sei die heute häufig vertretene Auffassung, dass „beraten primär informieren bedeutet“ (ebd. S.4). Dies ist eine Position, die sich in der öffentlichen Meinung zu verfestigen scheint. Andererseits ist die Ein- und Abgrenzung von Beratung auch deswegen so schwer, weil der Beratungsmarkt durch ständig neue Wortkreationen, z.B. Team-Coaching, Job-Coaching, Clearing, Mediation, work-life-balance, HR-Management für die ‚normalen’ potentiellen Klienten unübersichtlich ist (vgl. Reichel, o.J. S. 3). In der Realität überschneiden sich bei den unterschiedlichen Berufsgruppen vor allem Tätigkeiten, wie beraten, therapieren und coachen.
[4] Professionelle Beratung kann grob in zwei Grundformen unterteilt werden, in die Experten- und die Prozessberatung. Beiden kann man verschiedene Beratungsbereiche zuordnen.
Bei der Expertenberatung handelt es sich um eine professionelle Beratung, bei der ein Fachmann von außen Ratschläge zu einer Problemlösung gibt, z.B. schlägt ein EDV-Experte ein bestimmtes Buchhaltungsprogramm vor. Die Kompetenz des Beraters liegt hier eher im fachlichen Bereich, d.h. diese Form der Beratung will vorrangig fachlich informieren. Zu der Expertenberatung zählen die Unternehmensberatung, Kundenberatung, Rechtsberatung, Ernährungsberatung oder die handlungsleitende Beratung bei der Gewährung von materiellen Leistungen in der Sozialhilfe und viele mehr.
Bei der Prozessberatung handelt es sich um eine Form professioneller Beratung, bei der der Ratschlag nicht von außen kommt, sondern der Ratsuchende dabei unterstützt werden soll, eigene Problemlösungen zu finden. Beispielsweise versucht der Berater, bei einer Person, die unter Stress leidet, gemeinsam mit ihr herauszufinden, welche Faktoren zum Stress geführt haben und wie man ihn vermeiden kann. Die Kompetenz des Beraters liegt hier mehr im kommunikativen Bereich. Zur Prozessberatung zählen beispielsweise die Personalberatung, Eheberatung, Familienberatung und Teamberatung (vgl. Woldrich 1998, S. 6).
Beide Beratungsformen können m.E. aber nicht immer streng voneinander getrennt werden, da jede Beratung – mal mehr und mal weniger – fachliche oder kommunikative Kompetenzen von Seiten des Beraters erfordert.
[5] In Anlehnung an Engel und Sickendiek sind 3 Rollenbestandteile für jede soziale, pädagogische oder psychologische Beratung zentral: Die präventive Rolle in der Beratung versucht, die Probleme der Ratsuchenden zu antizipieren und ihnen vorzubeugen. Den Ratsuchenden soll dabei geholfen werden, Veränderungen in ihrer persönlichen und sozialen Umwelt vorzunehmen, um so die Auftretenswahrscheinlichkeit von Problemen zu minimieren. Dadurch könnten kurative, d.h. heilende Maßnahmen verhindert werden. Die wachstumsfördernde Rolle in der Beratung versucht, die Ratsuchenden dabei zu unterstützen, ihre eigenen Kräfte zu erkennen und weiterzuentwickeln. Beratung regt an und zielt damit auf Ressourcenplanung, -erweiterung, und -erhaltung. Die kurative Rolle in der Beratung soll den oder die Ratsuchenden unterstützen, ihre Probleme zu bewältigen, Störungen zu beseitigen und Defizite zu kompensieren. Dabei liegt die kurativ-heilende Rolle nahe an der klinisch-psychotherapeutischen Funktion. (vgl. Engel/Sickendiek 2005, S. 4)
[6] Ein professioneller Berater sollte über bestimmte Kompetenzen verfügen. Prinzipiell sind nach Kitty Cassée Kompetenzen „die Bündelung von Fähigkeiten und verfügbaren Ressourcen in Form von adäquatem Verhalten in einer konkreten Situation. Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen sind bezogen auf die Zukunft veränderbar – und zwar im Sinne von Zugewinn und Lernen, aber auch in Form von Verlust und Abbau in Folge mangelnder Förderung und Forderung und biologisch bedingt, zum Beispiels durch Krankheit oder Unfall“ (Cassée 2007, S. 4). Ein Berater sollte nach Hilarion Petzold über feldspezifisches Wissen und feldunspezifische Kompetenzen verfügen (vgl. Petzold 2003, S.10). Zu den feldunspezifischen Beraterkompetenzen gehören u.a. Schlüsselkompetenzen. Dies sind nach Hiltrud von Spiegel „berufs- und aufgabenunabhängige Fähigkeiten, die für qualifizierte Tätigkeiten in allen Arbeitsfeldern gebraucht werden. Es sind Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nicht für die Ausübung spezieller Tätigkeiten erforderlich sind. Man benötigt sie, um zu einem bestimmten Zeitpunkt in Anbetracht bestimmter Anforderungen in Alternativen zu denken und zu handeln sowie auf unvorhersehbare Änderungen angemessen zu reagieren“ (von Spiegel 2004, S.83). Diese eher allgemeinen Kompetenzen sind beispielsweise Neugier, Eigeninitiative und Interesse am Lerngegenstand, an neuen Situationen und anderen Menschen. Ebenso gehören Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Flexibilität, Durchsetzungsvermögen und die Fähigkeit zum ganzheitlichen Denken dazu. Diese Kompetenzen alleine sagen aber noch wenig über die Qualität der Beratung aus. Berater müssen darüber hinaus auch über feldspezifisches Wissen bzw. wie Hiltrud von Spiegel sie nennt, über professionelle Handlungskompetenzen verfügen. Zum feldspezifischen Wissen gehören fachliche Kompetenzen, bezogen auf die jeweilige Fragestellung der Ratsuchenden, d.h. Faktenwissen zu den jeweiligen Problemlagen – je nach Beratungsfeld müssen hierbei die neuesten gesicherten Wissensbestände und Erkenntnisse vorausgesetzt werden dürfen, wie z.B. Kausalmodelle und gesetzliche Grundlagen – sowie professionellen Handlungskompetenzen die sich in mehrere Einzelkompetenzen bündeln lassen und die es in der beruflichen Arbeit auf verschiedenen Ebenen zu erwerben gilt. Nach Hiltrud von Spiegel sind dies auf der Handlungs-, Fall-, Management- und kommunalen Ebene Kompetenzen des Könnens, des Wissens und der beruflichen Haltung. Ein Überblick über die notwendigen Kompetenzen professioneller Berater – speziell für Fachkräfte in der sozialen Arbeit, auch auf der Management- und der kommunalen Planungsebene – findet sich in Hiltrud von Spiegel 2004 und in Cassée 2007.
[7] Sie stellt exemplarisch die Theorien bzw. Konzepte von Bommes und Scherr (der Sozialen Arbeit als Hilfe zur Inklusionsvermittlung, Exklusionsvermeidung und Exklusionsverwaltung), von Straub-Bernasconi (die Bestimmung der Sozialen Arbeit als Bearbeitung sozialer Probleme), das Konzept der Sozialen Arbeit als Dienstleistung der Bielefelder Schule und die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit von Thiersch vor. Die dargestellten Gegenstandsbestimmungen sind dabei jeweils in größere Theoriezusammenhänge eingebettet und fokussieren unterschiedliche Themen der sozialen Arbeit (vgl. Von Spiegel 2004, S. 35 ff).
[8] Die Aufgaben bzw. der gesellschaftliche Auftrag von Sozialer Arbeit haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte dahingehend verändert, dass in der Nachkriegsgeschichte beispielsweise wirtschaftlichen Hilfen angesichts von Massennot und Verelendung im Vordergrund standen. Während später, im sich entwickelnden selektiven Wohlfahrtsstaat, Aufgaben, wie die Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung von Personen vor dem Hintergrund psychosozialer Probleme, oder die Hilfestellung zur Integration und Partizipation von Einzelnen und Gruppen gegenüber Ausgliederungsprozessen dominierten. Heute geht es erneut um die Unterstützung der Lebensbewältigung von Personen und Gruppen angesichts struktureller Benachteiligung und der „neuen“ Armut.
[9] Der Begriff des doppelten Mandates wurde von Böhnisch und Lösch geprägt. Sie bezeichnen das doppelte Mandat als zentrales Strukturmerkmal der Sozialen Arbeit, nach dem die Fachkräfte angehalten sind, ein stets gefährdetes Gleichgewicht zwischen den Rechtsansprüchen, Bedürfnissen und Interessen der Klienten einerseits und den jeweils verfolgten sozialen Kontrollinteressen andererseits aufrechtzuerhalten. (vgl. von Spiegel 2004, S. 37).
[10] In Anlehnung an Galuske kann ein Konzept verstanden werden als ein Handlungsmodell oder als ein Orientierungs-, Erklärungs- und Begründungsrahmen methodischen Handels in der sozialen Arbeit. In diesem werden die spezifischen Ziele, die Inhalte, die Methoden, die unterschiedlichen Verfahren, die speziellen Zielgruppen und die zeitliche Realisierung von Interventionen, in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht. Ein Konzept soll sowohl Auskunft über die Ziele von Interventionen und ihre Gegenstände, als auch über die Wege, die zum Ziel einer Intervention führen, geben.
Hiltrud von Spiegel unterscheidet vier Kategorien von Konzepten:
Zielorientierte Konzepte: Diese nehmen ein gesellschaftlich für wichtig gehaltenes Ziel (etwa Chancengleichheit oder interkulturelle Verständigung) zum Ausgangspunkt der konzeptionellen Überlegungen (z.B. Lebensweltorientiertes Konzept).
Zielgruppenorientierte Konzepte: Sie fokussieren eine Gruppe von Menschen mit besonderen Merkmalen, die man quer durch alle Arbeitsbereiche der Sozialen Arbeit fördern möchte, oder deren Verhalten besonders beeinflusst werden soll (z.B. Ausländer, Behinderte, alte Menschen etc.).
Methodenkonzepte: Das sind diejenigen Konzepte die eine bestimmte methodische Vorgehensweise in den Mittelpunkt stellen. In diese Kategorie gehören neben den klassischen Methoden der Sozialen Arbeit (Einzelfallhilfe bzw. Casemanagement, Soziale Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit) auch klientenzentrierte, systemische bzw. lösungsorientierte Beratungskonzepte (siehe hierzu auch Kapitel 3.4.1).
Sozialräumlich orientierte Konzepte: Sie verschieben den Blick von der Arbeit an Problemen und Defiziten einzelner Menschen auf das Arrangement von Umweltbedingungen und die politische Einmischung der Fachkräfte in kommunale Planungsprozesse. Hier geht es um die Sicherung einer sozialen Infrastruktur, die die Voraussetzung dafür bieten soll, dass die Menschen ihre zunehmend schwierigen Aufgaben der Lebensgestaltung ohne weitere Unterstützung durch gesellschaftliche Institutionen bewältigen. (vgl. von Spiegel 2004, S. 77)
Eine sozialpädagogische Beratung ist nicht festgelegt auf ein bestimmtes Konzept, sondern nutzt Methoden und Verfahren aus ganz unterschiedlichen Konzepten (siehe hierzu auch Kapitel 3.3 eklektizistischer Umgang mit unterschiedlichen Konzepten als ein Merkmal sozialpädagogischer Beratung).
[11] Das Konzept war zunächst auf eine lebensweltorientierte Jugendhilfe bezogen und wurde im 8. Jugendbericht vorgestellt.
[12] Das Konzept Lebensweltorientierter Arbeit favorisiert einen speziellen Zugang zur Rekonstruktion der Lebenswelt der Adressaten. Diese Rekonstruktion lässt sich nach Grunwald und Thiersch in vier Aspekte darstellen, durch die das Konzept näher bestimmt werden kann:
Lebenswelt ist ein phänomenologisch orientiertes Konzept, in welchem der Mensch nicht als isoliertes Individuum gesehen wird, sondern in Verbindung mit seiner persönlich erfahrenen Wirklichkeit, die sich gliedert in Erfahrungen des Raumes, der Zeit und der sozialen Beziehungen. In diesen versucht er, die sich ihm stellenden Aufgaben zu bewältigen. Als beschreibendes Konzept betont die Lebensweltorientierung besonders die Bemühungen des Menschen, sich in den gegebenen Verhältnissen zu behaupten. Dies beinhaltet Versuche der Selbstbehauptung und der Selbstinszenierung ebenso wie die Kompensation und Überanpassung. Aus diesem Blickwinkel stellt sich auch defizitäres und/oder abweichendes Verhalten als Ergebnis der Anstrengung dar, in den aktuellen Verhältnissen zu bestehen. Als autonome Handlungen der Individuen müssen diese Anstrengungen zunächst respektiert werden.
Lebenswelt ist in unterschiedliche Lebensräume oder Lebensfelder gegliedert, in denen Menschen leben. Die lebensweltlichen Erfahrungen, die sie dort sammeln, können sich ergänzen, aber auch blockieren und zu Traumatisierungen führen. Das Lebensweltorientierte Konzept versucht, die Verhältnisse in diesen Lebensfeldern zu rekonstruieren, Probleme der Anpassung und Vermittlung zwischen den Lebensfeldern aufzuzeigen und die im Lebenslauf erworbenen Ressourcen aufzudecken.
Darüber hinaus ist das Lebensweltorientierte Konzept ein normativ-kritisches Modell. Deutungen und Handlungsmuster werden einerseits als entlastend erfahren, da sie soziale Sicherheit und Identität bieten, andererseits werden sie als einengend, ausgrenzend und blockierend und damit als in sich widersprüchlich erlebt (vgl. kritische Variante der Alltagstheorie, S. 26). Als normativ-kritisches Konzept versucht die Lebensweltorientierung diese Doppeldeutigkeit aufzudecken und gut Gelingendes bzw. Verfehltes aufzuzeigen.
Bei der Rekonstruktion der Lebenswelt der Adressaten ist zu beachten, dass die Lebenswelt auch ein historisches und sozial konkretes Konzept darstellt. Die Wirklichkeit ist durch gesellschaftliche, historisch gewachsene Strukturen bestimmt (vgl. Analyse der gesellschaftlichen Strukturen, S. 26). In der Lebenswelt treffen die gesellschaftlichen und individuellen Handlungsmuster aufeinander. Der Blick auf diese Schnittstelle zwischen Objektivem und Subjektivem verhindert die reine, bezugslose Analyse der Gesellschaft bzw. des Individuums. Das Konzept der Lebenswelt analysiert diese Strukturen, d.h. die Ungleichheiten in den Ressourcen ebenso wie Widersprüchlichkeiten, die sich durch neue gesellschaftliche Anforderungen ergeben. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit versucht, diese Belastungen und Überforderungen in den Lebensentwürfen aufzudecken (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 20 ff).
[13] Auch Nando Belardi und Galuske betonen, dass Sozialpädagogische Beratung der Maxime der Vernetzung folgt und im Regelfall keine isolierte Leistung darstellt bzw. darstellen sollte. So findet sie meist innerhalb einer Reihe anderer Handlungen statt, eingebettet in vorausgegangene und sich anschließende sozialprofessionelle Aktivitäten. Dazu können z.B. die telefonische Vorabklärung, Informationsbeschaffung, Kontaktaufnahme zu anderen Sozialen Diensten und die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Institutionen zählen (vgl. Belardi 1999, S. 37 ff. und Galuske 1999, S. 156 f). Sozialpädagogische Beratung ist also bemüht – und auch den Ratsuchenden gegenüber verpflichtet –, möglichst alle Ressourcen, so auch andere Hilfsangebote zu nutzen und zu koordinieren, auch wenn es um die Wahrnehmung dieser Aufgabe laut Wolf Rainer Wendt in der sozialen Arbeit allgemein „nicht gerade gut bestellt ist“ (Wendt 1999, S.2).
[14] Sozialpädagogische Beratung kann aber auch mit Betroffenen stattfinden, die sich zwangsweise in totalen Institutionen, etwa Gefängnis oder Psychiatrie, aufhalten und sich vielleicht gar nicht als Ratsuchende verstehen (vgl. Belardi 1999, S. 39). Hier müssen die Sozialpädagogen verschiedenste Gespräche führen (beispielsweise Aufnahme-, Entlassungs- oder Vermittlungsgespräche). Diese Gespräche werden den Betroffenen von den Institutionen regelrecht aufgezwungen. Es ist immer noch sehr umstritten, ob eine solche Zwangsberatung - auch im Bereich der Straffälliggewordenen, z.B. bei Sexualstraftätern oder auch bei Stalkern - auch einen hilfreichen Beratungscharakter haben kann. Dasselbe gilt auch für die Schwangerschaftskonfliktberatung, bei der die Beratung gesetzlich vorgeschrieben ist. Auch Hans Thiersch sieht darin ein Problem und gibt eine Zielsetzung von Sozialer Arbeit in diesen Situationen vor. So schreibt er: „Vor dem Hintergrund einer Geschichte der Sozialen Arbeit, die geprägt war durch bevormundende, disziplinierende und stigmatisierende Intervention, eröffnet Beratung heute neue Möglichkeiten des Helfens, Hilfe nämlich im Medium von Freiwilligkeit und der Aktivierung und Unterstützung von Eigentätigkeit. Diese Betrachtungsweise darf nicht dazu verführen, zu unterschlagen, wie oft Beratungen nicht freiwillig aufgesucht werden. Beratungsbedarf in der Sozialen Arbeit ergibt sich oft in direkten und indirekten Nötigungen, z.B. von den Nachbarn her, den Arbeitskollegen, der Schule, aber auch im Zusammenhang mit Zwängen und Erwartungen der hoheitlichen Aufgaben des Sozialamtes. In solchen Situationen kann es nur darum gehen, Freiwilligkeit herzustellen - anders formuliert: Die Einsicht und Einwilligung in die Notwendigkeit, sich auf Hilfe einzulassen. In vielen Konstellationen der Sozialen Arbeit ist es schon der halbe Erfolg, wo dies in einem oft anstrengenden und länger währenden Prozess gelingt. Dass diese Situation nicht verschleiert wird, dass Soziale Arbeit also im Spiegel von Kontrolle und Hilfe und im Respekt vor den damit für die Ratsuchenden gegebenen Problemen transparent agiert, ist Voraussetzung Sozialer Arbeit. Dieser Zusammenhang von Kontrolle und Hilfe - ist für Beratung in der Sozialen Arbeit konstitutiv“ (Thiersch 1997, S. 121). Prinzipiell ist aber die Freiwilligkeit - und nicht der Zwang - ein Wesensmerkmal der sozialpädagogischen Beratung. Der Kontrollaspekt betrift nur einige Bereiche der Sozialen Arbeit (etwa die schon erwähnte Bewährungs- und Gerichtshilfe, die Drogenberatung, die gesetzlich angeordnete Schwangerschaftskonfliktberatung, teilweise auch die Erziehungsberatung).
[15] Der Begriff Eklektizismus ist - wie das Suffix „ismus“ schon signalisiert - üblicherweise negativ konnotiert. Eklektizismus ist laut Definition „eine unoriginelle, geistige Arbeitsweise, bei der Ideen anderer übernommen oder zu einem System zusammengetragen werden, diese Arbeitsweise wird auch als rezeptologisch und beliebig verurteilt.“ Dieser Definition kann man bezüglich des eklektisch-methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit aber nur insofern folgen, dass - wie auch Nestmann formuliert - unter dem Begriff Eklektizismus das Aussuchen von Methoden und Verfahren, Systemen und Stilen aus unterschiedlichen Quellen, d.h. das Zusammenführen von Gedankengängen und Begriffen unterschiedlicher Theorien zur Bildung einer neuen Theorie verstanden wird. Jedoch erfolgt das Aussuchen in diesem Zusammenhang besonders im Hinblick darauf, was für den jeweiligen Gegenstand das Beste zu sein scheint (vgl. Nestmann 2004 a, S. 789). Auch wenn den Eklektikern vorgeworfen wird, sich bei unterschiedlichen Theorien ohne theoretische Stringenz beliebig zu bedienen, geht es hier also nicht um ein wahlloses Zusammenstellen und Zusammenwürfeln einzelner methodischer Elemente, sondern um den Versuch einer geplanten und kontrollierten Kombination und Integration verschiedener Verfahren, die einer professionellen und wissenschaftlichen Vorgehensweise sowie der Begründung und Rechtfertigung des Handelns Genüge tut.
[16] Beraterische Vorgehensweisen können in zwei große Klassen unterschieden werden, in direktiv lenkende und nicht direktiv unterstützende Methoden. Nach Nestmann (vgl. dazu ausführlich Nestmann 2004 a, S. 786) hat Heron dafür ein komplexes Kategoriensystem methodischer Handlungsstrategien im Beratungsprozess entwickelt. Neben den präskriptiv vorschreibenden Vorgehensweisen (wie Ratschläge geben, etwas anordnen, Aufgaben stellen etc.) und den unterstützenden Methoden (die betätigen und Wertschätzung ausdrücken) werden informative Vorgehensweisen (etwas mitteilen, Hinweise und Interpretationen liefern), konfrontative Vorgehensweisen (durch direkte Rückmeldung , Herausforderungen, Konfrontation der Klienten mit sich selbst und mit gegensätzlichen Positionen), kathartische Methoden (die zur emotionalen Entlastung ermutigen und katalytische Verfahren (die Reflexion und Nachdenken anregen) unterschieden. Jeder Berater verfügt in der Regel über eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden, die selbstverständlich auch an seiner Grundausbildung (Pädagogik, Psychologie etc.) und den verschiedenen Zusatzausbildungen (Systemisch, Gestaltarbeit, Psychodrama, Klientenzentriert etc.) orientiert sind. Jedoch gibt es in jeder Beratung eine Reihe grundsätzlicher Methoden, über die jeder Berater verfügen muss. Dazu gehören: zuhören und zusehen, Nachfragen, Unterstützung geben, Wirklichkeiten und Bedeutungen klären, akzeptierende Konfrontation, formulieren von Arbeitsaufträgen, erklären, Informationen geben und Wissen vermitteln. Darüber hinaus wendet der Berater Methoden und Interventionen an, die er sich zusätzlich angeeignet hat und die sich als wirksam und sinnvoll erwiesen haben, auf die ich in jeder einzelnen Beratungsphase (siehe Kapitel 6.2 ff.) näher eingehen werde.
[17] Zur strukturellen bzw. situativen Asymmetrie bemerkte schon Hans Thiersch, dass Sozialpädagogisches Handeln durch den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Menschen, die über Möglichkeiten zu Hilfe verfügen und solchen, die darauf angewiesen sind, bestimmt ist. „Der Pädagoge agiert in dieser Asymmetrie in stellvertretender Verantwortung, in advokatischer Ethik, im Namen also der Möglichkeiten von Gerechtigkeit und Lebensgestaltung, die denen, denen geholfen wird, zusteht. Ziel allen sozialpädagogischen Handelns aber ist es, diese Asymmetrie aufzuheben, also die, die auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sind, zu befähigen, sich selbst zurechtzufinden“ (Thiersch 1997, S. 118).
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