Veröffentlichen auch Sie Ihre Arbeiten - es ist ganz einfach!
Mehr InfosBachelorarbeit, 2008, 127 Seiten
Bachelorarbeit
Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach (Sozialwesen, Studiengang Kulturpädagogik)
1,7
Die Frage, was Kultur und Bildung im Kontext gesellschaftspolitischer Wirklichkeit bedeuten, bzw. welche pädagogischen Strategien geeignet sind, um im internationalen Vergleich konkurrenzfähig zu bleiben und wie auf aktuelle Entwicklungen angemessen zu reagieren ist, wird in Deutschland gewiss nicht erst seit dem schlechten Abschneiden bei der Pisastudie 2000 diskutiert.
Die nachhaltigste kulturpolitische Debatte des letzten Jahrhunderts, die noch bis heute nachwirkt, wurde wahrscheinlich durch die gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 60er Jahre ausgelöst. Tradierte Strukturen der autoritären Erziehung, konservative Vorstellungen über Religion, Sexualität oder Arbeit, lockerten sich zugunsten freiheitlicher Vorstellungen über eine zusammenwachsende Weltgemeinschaft, die durch die Konjunktur der multimedialen Kommunikation ihren Ausdruck fand.
Demokratisierungstendenzen erhoben sich aus dem Schatten des hierarchischen Hochkulturschemas. Attitüden wie „ Bildung und Kultur für alle “ (SCHULZE; 1992; S.535), kombiniert mit einer Expansion der kapitalistischen Märkte, trieben und treiben bis heute eine Liberalisierung der individuellen Wahlmöglichkeiten voran.
Heute angekommen, ist die„ ...Freiheit [auszuwählen] so umfassend , dass der Mensch geradezu zur Freiheit verurteilt ist, unentwegt wählen zu müssen und sich auf der Grundlage seiner Wahl selbst zu gestalten “ (SCHMID; 1998; S.44). Früher mündige[1] Bürger/-innen, werden mit neuen Notwendigkeiten des modernen Lebens konfrontiert. Medienkompetenz, Kommunikation und ästhetische Bildung sind Schlagworte des modernen kulturpädagogischen Diskurses.
Welche Konzepte der kulturellen Kinder- und Jugendbildung können nun adäquat auf diese Entwicklungen reagieren und frühzeitig Kompetenzen zur modernen Daseinsbewältigung vermitteln? Welche Vorschläge wurden bereits gemacht und umgesetzt? Können, oder besser sollten, Kunst und Kultur eine wichtige Rolle beim Erwerb dieser Kompetenzen spielen? Und was heißt Kultur eigentlich? – Diese Fragen werden uns im Folgenden beschäftigen.
Dem Autor ist klar, dass durch den gesetzten Rahmen dieser Arbeit, eine detaillierte Beschreibung des kompletten Themenkomplexes schwierig sein wird. Es wird auch keine ausgeprägte Evaluation vorgenommen werden können. Vielmehr sollen einschlägige Theoriefragmente der relevanten Fachdisziplinen und konkrete Handlungsbeispiele aus der Praxis abgeschöpft werden, um am Ende Muster entschlüsseln zu können, welche sich in die Arbeit eines Kulturpädagogen integrieren lassen.
Eine Abschlussarbeit, die im Studiengang Kulturpädagogik vorgelegt wird und Begriffe wie Kultur und Bildung als zentrale Interessensgebiete behandeln möchte, kommt nicht daran vorbei, im Voraus gewisse Bedeutungseingrenzungen vorzunehmen.
Von welchen grundsätzlichen Überlegungen die späteren Argumente geprägt sein werden, wird in diesem Kapitel dargestellt.
Wenn das Wort Kultur heutzutage einen Raum erfüllt, gibt es ungefähr so viele Deutungen wie Menschen die zugegen sind. Die einen denken an Bibliotheken, Theater und Museen; anderen drängen sich Religion oder Modetrends auf; wieder andere denken an Schützenvereine oder Schlagermusik; der grimmige Mann in der letzten Reihe muss dabei nur an die Türken in der Nachbarschaft denken – wie gesagt, die Liste ist lang.
Wie nahe kommen diese Assoziationen dem Begriff Kultur ?
Vorstellungen, die Menschen bezüglich ihres Kulturbegriffes haben und äußern, sind nie bloß fixe Beschreibungen einer feststehenden Bedeutung. Sie verändern sich mit den gesellschaftlichen Vorstellungen, den Meinungen und Konzepten die man hört und für richtig oder falsch hält. Das Kulturverständnis beschreibt die Kultur also nicht nur, sondern es beeinflusst auch mögliche Umdeutungen für die Zukunft. (vgl. Welsch; 1995; S. 75)
Es ist kein Begriff, der endgültige kausale Zusammenhänge zulässt wie etwa Formeln der Mathematik. Wobei die Prinzipien der Mathematik und der Naturwissenschaften, bei der Betrachtung menschlicher Systeme keineswegs völlig außer Kraft gesetzt werden. Vielmehr reichen sie einfach nicht mehr aus um auf die komplexen anthropologischen Veränderungen angemessen reagieren zu können. (vgl. CASSIRER; 1944; S. 105ff). Kultur ist also kein feststehender Begriff im Sinne eines Ergebnisses, sondern er befindet sich immer in Wechselwirkung zwischen definitorischer Tradition und der „Entwicklung bestimmter Menschengruppen zu bestimmten Zeiten“ (ZIMMERMANN in MOLLENHAUER/WULF; 1996; S.12).
Bis heute vollzieht sich innerhalb und im Austausch dieser verschiedenen fluktuierenden Menschgruppen, ein Prozess der so genannten kulturellen Evolution. Eine Entwicklung, die im Gegensatz zur biologischen Evolution maßgebend durch menschliches Handeln und Denken bestimmt wurde. Durch kriegerische oder friedliche Auseinandersetzung über das was gut oder schlecht, Machtbedürfnis oder pro-sozialer Gestaltungswille, Natur oder Kultur ist, konstituieren Menschen ihre Weltbedeutung mehr oder weniger dauerhaft und drücken diese in Symbolen aus, die wiederum zu kulturtypischen Codes systematisiert werden.
Weltdeutungsmuster sind also sehr unterschiedlich. Sowohl Museen als auch Schützenvereine, sowohl Minirock als auch Mönchskutte werden zur Kultur gezählt; Demokratie wird für gut oder schlecht, Kapitalismus wird als Heilsbringen oder Teufel verstanden - aber wie lässt sich das alles in einem Begriff vereinen?
Das geht wohl nur dann, wenn wir unter Kultur alles verstehen, was in seiner Form nur aufgrund des menschlichen Daseins auf der Erde existiert.
Demnach gehörten z.B. Moral und Gerechtigkeit zwar auch zur Kultur, sie würden aber durch diese willkürliche Beschreibung lediglich zu Erscheinungen unter vielen degradiert. Ein Verständnis wie dieses, wird den unterschiedlichen Ausformungen die Kultur haben kann, nicht gerecht. Dieses Kulturverständnis könnte nur mit der naiven Vorstellung existieren, das es eine Welt geben könnte, „ in der alles idealtypisch sich selber reguliert und sich selbst perpetuiert“ (HERR H.; Interview 3; S.120), ohne dass der Mensch sich Gedanken über die konkrete Gestaltung machen müsste.
Diese Arbeit muss kulturelle Erscheinungen also bewerten und einteilen um sie in den Kontext kulturpädagogischer Fragestellungen einordnen zu können. Außerdem darf die zeitliche und geografische Perspektive dabei nicht aus den Augen verloren werden. Will sagen: der Blickwinkel dieser Arbeit soll ein weitestgehend europäischer sein, der sich auf die Herausforderungen des 21.sten Jahrhunderts bezieht.
„ Weil kulturelle Vielfalt zunehmend das Schicksal der modernen Welt und ethnischer Absolutismus ein regressives Merkmal der Spät-Moderne ist, erwächst die größte Gefahr heute aus - neuen und alten - Formen nationaler und kultureller Identität, die versuchen, ihre Identität dadurch sicherzustellen, daß sie geschlossene Versionen von Kultur oder Gemeinschaft aufgreifen und sich ... weigern, sich mit den schwierigen Problemen auseinanderzusetzen, mit Differenzen zu leben. Die Fähigkeit mit Differenzen zu leben, ist in meiner Ansicht nach die wichtigste Frage des 21. Jahrhunderts. “ (HALL; 1995; S.40)
In der Hoffnung beste Vorrausetzungen für die Entstehung einer europäischen Identität zu schaffen, wurden in den letzten Jahrzehnten vielerlei Maßnahmen ergriffen: Das ‚Schengener Abkommen’, die Euroeinführung und letztlich auch die Kommunikationsmöglichkeiten via Internet sind Ausformungen dieser und anderer Bestrebungen.
Es gilt, wie Hall schreibt, sich mit Differenzen auseinanderzusetzen, sie zu prüfen und auf mögliche Integrationsmöglichkeiten zu untersuchen. Assimilations-gedanken, vor allem mit der möglichen Argumentationsgrundlage einer besseren wirtschaftlichen Lage der „eigenen“ Kultur, sind aus humanistischer Sicht nicht zu vertreten.
Insofern ist es die Ansicht des Autors, dass ein zeitadäquater Kulturbegriff für die kulturpädagogische Arbeit in Europa, in Analogie zur formellen Struktur der gesellschaftspolitischen Veränderungen stehen muss. Fremde und bekannte, verständliche und überfordernde Erfahrungen sollten nicht als hierarchische Kategorien von hoch und niedrig oder gut und schlecht vermittelt werden. Kulturpädagogisches Handeln sollte auf Ambiguitätstoleranz und nicht auf Entmischung ausgerichtet sein.
Daher soll von einem erweiterten[2] und anknüpfungsfähigen Kulturbegriff ausgegangen werden, der nicht unterscheidet zwischen Zivilisation und Kultur; ja der kaum noch zwischen Natur und Kultur unterscheiden kann. In einer Welt, in der alles einen Eigentümer hat, ein Nomadendasein nicht mehr möglich scheint, und sogar der Mond schon ausverkauft ist, soll das Verständnis einer „glückenden Kultur“ auf einem Fundament der, im Sinne Hentig’s, Verständigung stehen. Und zwar Verständigung im doppelten Sinne. Erstens: Kultur als symbolischer[3] Ausdruck durch Transformationsformen menschlicher Energie. Und zweitens - als andere Seite der gleichen Medaille: Kultur als reflexive Verständigung über diese erbrachten Transformationsformen. Reflexiv meint in diesem Zusammenhang eine selbst- und gesellschaftsbezogene Verständigung über „ die Grenzen der Freiheit, über die Ordnungen der Gemeinschaft, über Notwendigkeit, Zweck und Form der Leistung - über ihr Maß “. (HENTIG; 1998; S.99)
In Analogie zu Baecker’s „Ellipse der Kultur“(BAECKER; 2001), stellt dieses Spannungsverhältnis zwischen symbolischem Ausdruck und reflexiver Verständigung, zwei Seiten einer Kultur dar, die aufeinander angewiesen sind um zu funktionieren. Die extremsten Ideologien der beiden Pole wären die wertneutrale Produktion und Konsumption auf der einen und der asketischer Idealismus auf der anderen Seite. Die eine Seite fragt nur nach dem was?, die andere nach wie? warum? wie viel? wie oft? usw .
In diesem Spannungsverhältnis liegt die Triebfeder der Kultur. Diese Kulturvorstellung braucht Spannung, sonst wird sie langweilig oder schlägt zu stark nach einer Seite aus.
Eine „erstrebenswerte Kultur“ ist demnach eine, die versucht sich dialogisch weiterzuentwickeln und in offener Verständigung zwischen beiden Polen ohne Fundamentalismen auszukommen; aber nicht in dem Bestreben Widersprüche aufzuheben oder zu verwischen, sondern vielmehr um sie sichtbar zu machen und Verhandlungsbereit zu sein.
Dieses zugegebenermaßen sehr theoretische Konstrukt, kann auf dem Papier lediglich sinnbildlich für etwas stehen, was sich letztlich in menschlicher Tätigkeit ausdrücken muss. Der Autor ist der Ansicht, dass eine maßgebende Vorraussetzung für „geistreiche“[4] Tätigkeiten die Bildung ist.
Um den Zugang zum komplexen Begriff der Bildung zu veranschaulichen, wird zur Einführung ein kurzer Dialog aus dem Film „Good Will Hunting“ zitiert.[5]
Will Hunting, gespielt von Matt Damon, ist ein junges Genie. Er löst Mathematikaufgaben, an denen sich Professoren die Zähne ausbeißen; sein Allgemeinwissen scheint schier unbegrenzt. Und doch arbeitet er „nur“ als Putzkraft und ist sehr gewalttätig, was ihn schließlich auch ins Gefängnis bringt.
Ein Mathematikprofessor bietet dem vorbestraften Vollwaisen nun an, ihn von seinem Gefängnisaufenthalt zu erlösen und als wissenschaftlichen Mitarbeiter einzustellen. Einzige Vorraussetzung ist, dass er sich einmal wöchentlich einer psychologischen Therapie unterziehen soll. Will geht widerwillig auf das Angebot ein.
Kein Psychologe schafft es mit dem frechen und sarkastischen Will fertig zu werden; er scheint sie alle mit ihren eigenen Methoden aus der Fassung zu bringen. Doch als der Psychologe Sean McGuire, gespielt von Robin Williams, anfängt ihn zu betreuen, beginnt er umzudenken.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Folgende Szene findet an einem sonnigen Tag in Boston statt. Auf Geheiß von Professor McGuire verlassen beide das Therapiezimmer und setzten sich auf eine Bank im Stadtpark.
Will Hunting: Was soll das werden? Machen wir jetzt auf Männergruppe? (2 Sekunden Pause) Wirklich schön hier nicht? (ironischer Unterton) Stehen sie auf Schwäne? Kriegen sie da einen Abgang? Ist das so was, für das man sich unbedingt Zeit nehmen muss? (3 Sekunden Pause) Sean McGuire.: Ich habe darüber nachgedacht was du gesagt hast - über mein Aquarell. (Will hatte am Vortag ein vom Professor gemaltes Bild analysiert und dabei falsche Rückschlüsse auf sein Leben gezogen) Die halbe Nacht habe ich darüber nachgedacht. Bis mir was klar wurde. Dann fiel ich in einen tiefen friedlichen Schlaf und seitdem habe nicht mehr an dich gedacht. Weißt du was mir klar wurde? W.H.: Nein. S.M.: Du hast nicht die blasseste Ahnung wovon du eigentlich redest! W.H.: Oh vielen Dank! (wieder ironisch) S.M.: Schon gut. (2 Sekunden Pause) Bist du schon mal aus Boston rausgekommen? W.H.: Nein. S.M.: Fragen zur Kunst würdest du mit einem Vortrag über alle Bücher zu diesem Thema beantworten. Michelangelo - du wirst alles wissen. Sein Lebenswerk kennst du, seine Ansichten, sein Verhältnis zum Papst, seine sexuellen Neigungen - einfach alles. (3 Sekunden Pause) Aber ich wette du kannst mir nicht sagen, wonach es in der sixtinischen Kapelle riecht. Du bist nie da gewesen und hast diese wunderbare Decke gesehen. (Er blickt zufrieden in den Himmel) - dort oben. Bei Fragen über Frauen hältst du bestimmt einen Vortrag darüber wie sie sein müssten. Vielleicht hast du auch schon ein oder zwei im Bett gehabt. (5 Sekunden Pause) Aber du kannst mir nicht sagen wie es ist neben einer Frau aufzuwachen und sich glücklich zu fühlen. Du bist cool drauf. (3 Sekunden Pause) Und wenn ich dich auf den Krieg ansprechen würde, kämst du mir wahrscheinlich mit Shakespeare: „Noch einmal stürmt, noch einmal Freunde!“. Du hast aber keine Freunde. Du hast noch nie den Kopf eines Freundes gehalten und musstest mit ansehen, wie er dich mit den Augen anfleht, während er stirbt. (3 Sekunden Pause) Wenn es um die Liebe geht, zitierst du wahrscheinlich ein Sonnet. (...)
Will Hunting trägt ein riesiges Inventar an Wissen[6] in sich. Er versteht es sogar dieses Wissen miteinander zu verknüpfen und doch scheint ihm etwas zu fehlen, um es sinnvoll in sein Leben integrieren zu können. Er betrinkt und prügelt sich, er zeigt keinen Respekt und ist sarkastisch durch und durch. Warum kann er dieses Wissen nicht produktiv in den Alltag umsetzen?
Verkürzt könnte man vielleicht sagen: er hat keinen persönlichen Bezug zu seinem Wissen. Im Grunde ist es ihm sogar tief gleichgültig. Er hat es nie in den Kontext mit seinen eigenen Vorstellungen, seinen eigenen Erfahrungen, seiner eigenen Persönlichkeit gestellt. Die Wissensaneignung geschah um ihrer Selbst Willen und nicht, weil sie authentischer Ausdruck seiner Selbst war.
Eine ähnliche Tendenz ist in der heutigen Medienlandschaft zu erkennen. Unzählige Wissens- und Quizshows flimmern über die Bildschirme und bieten Wissen an. Das Internet bietet nahezu unerschöpfliche Quellen an Wissen und Informationen. Meinungen bilden sich, mehr denn je, nicht mehr über eigene Erfahrungen, sondern werden über die mediale Berieselung gespeist. Die von der Kulturindustrie bereitgestellten „Bild-ungsmöglichkeiten“ generieren durch ihre Präsenz den Wunsch nach Teilhabe „ an der legitimen Kultur und nach der Status-Sicherheit, die damit verbunden zu sein scheint “. (LIEBAU; 1992; S.20) Tendenziell passiv und recht erfahrungsarm findet diese Art der Wissensaneignung statt.[7] Es wäre ein fataler Fehler in diesem Zusammenhang noch behaupten zu wollen, man müsste das gelernte Wissen nur noch verstehen um ein gebildeter Mensch zu sein. Bildung darf nicht, will sie zu Orientierung und Sinnstiftung beitragen, als bloßes Informations- oder Wissensinventar verstanden werden - sonst wird sie zur leeren Hülse im sozialen Spiel degradiert. Sie sollte immer an Handlungen zum kritischen und produktiven Umgang mit der eigenen Identität und den bestehenden Paradigmen gekoppelt sein - und zwar verstanden als lebenslanger Prozess.
Bildung kann, ähnlich wie Kultur, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, die opportun auf das jeweilige Handlungsinteresse gewisser Gruppen ausgerichtet sind. So spricht die Wirtschaftslobby im Bildungskontext z.B. von „Humankapital“, das hauptsächlich auf Verwertbarkeit für das Arbeitsleben ausgerichtet sein soll; für manche Bildungspolitiker sind quantitative Statistiken und internationale Vergleiche wichtigster Indikator; manche Autoren wiederum, sehen Manieren und gutes Benehmen als symptomatischen Ausdruck eines gebildeten Menschen.
Versucht man nun aus den verschiedenen Perspektiven, verbindende Elemente zusammenzustellen, dann ist Bildung „ ein komplexer Gegenstand: ein Ideal, ein Prozeß, eine Summe von Kenntnissen und Fähigkeiten und ein geistiger Zustand. “ (SCHWANITZ; 2002; S.504) - keine Ausbildung, Halbbildung oder Einbildung. Bildung ist mehr als bloße Ausbildung zu etwas; sie kann sich nicht nur durch die eloquente und selbstbewusste Verbalisierung von Faktenwissen zeigen und auch nicht durch dilettantisches Halbwissen - aus so vielen Bereichen wie nur möglich. Bildung ist etwas Umfänglicheres, etwas nicht Feststehendes - ja, vielleicht ist es gerade das, was Bildung ausmacht - die Einsicht, dass ich immer auch ein Unwissender bin - zum Lernen und Verstehen bereit. Schließlich kommen uns doch nicht diese Menschen gebildet vor, die voller Selbstbewusstsein vermeintliche Wahrheiten propagieren, sondern eher diese, die eine Aura[8] der Weisheit ausstrahlen und in besonnener Rede anknüpfungsfähig für Einwände sind. Diese lehnen die „objektiven Wahrheiten“ eher ab; sie wissen um die Subjektivität ihrer gemachten Erfahrungen; sie wissen, dass sie auch nicht wissen. „ Gebildet ist nicht der Kopf, sondern der Mensch. Obwohl Bildung der Bücher bedarf und nicht ohne Anstrengung des Denkens entsteht, beruht sie doch wesentlich auf den unvertauschbaren eigenen Erfahrungen. “ (SIEBERT in TIPPELT; 1999 ; S.61)
Und erst in Kombination mit den individuellen Erfahrungen können hehre pädagogische Ziele wie Selbsttätigkeit, Sozialkompetenz oder Emanzipation von Fremdbestimmung gedacht werden.
Wenn wir nun versuchen Bildung in das unter Punkt 2.1.1 skizzierte Kulturverständnis einzubauen, könnten wir sagen: Ein gebildeter Mensch ist sich über das fluktuierende Wechselspiel zwischen der Form und dem Maß bewusst ; er kann es auf Grundlage des eigenen Wissens, welches er durch eigene Erfahrungen verinnerlicht hat, verstehen und mitgestalten; er gibt dem Wechselspiel gleichermaßen Struktur und lässt es im Rahmen reflektierter Werte und Normen oszillieren.
Bildung kann also nicht als normative Begrifflichkeit verstanden werden, will sie die aktuelle Zeitsituation und die individuellen Erfahrungen der Subjekte[9] nicht aus den Augen verlieren. Die subjektive Seinsweise (Nohl 1933) steht der kanonischen Bildungs- und Kulturvorstellung gegenüber. Pädagogische Praxis muss darauf eingestellt sein und die Teilnehmer/-innen „dort abholen wo sie sind“. Kuturpädagogik oder Kulturelle Bildung sind hierbei die Schlagwörter. Diese sind „ umfassende allgemeine Persönlichkeitsbildung, die Entfaltung künstlerischer und schöpferischer Impulse in jedem Menschen. Zum Auftrag des Bildungswesens gehört daher, kulturelles Lernen zu ermöglichen und zu fördern... [dies] erfordert die aktive Teilhabe an Kunst und Kultur, sie ist mehr als Kompensation oder funktionalisierte Kreativität und Innovation: Kunst und Kultur sowie kulturelle Bildung sind menschliche Kommunikation mit ästhetischen Mitteln “. (Veröffentlichung der Bundesregierung 1990 in ZACHARIAS; 2001; S.87) Kulturpädagogik birgt, im Gegensatz zum schulischen Bildungsansatz, große Potentiale differenzierte Bildungserfahrungen (mit allen Sinnen) zu machen. Und je heterogener diese Erfahrungen sind, desto wahrscheinlicher wird es sein, die sich äußernde gesellschaftliche Vielfalt nicht als Bedrohung wahrzunehmen, sondern als Chance, andere Formen der Identität zu entwickeln, außer, die von Hall beschriebenen, nationalen oder kulturellen. Sie da abzuholen wo sie sind, kann genau das bedeuten - und zwar Arbeit an dem Verständnis für die plurale kulturelle Verfasstheit von Gesellschaften, und damit einhergehend die Arbeit an einer Identität, die sich flexibel in dieser Differenz verorten kann.
Wenn man einer Disziplin solche Vorschußlorbeeren zukommen lässt, ist es unerlässlich, Begründungen und Zusammenhänge dafür aufzuzeigen, warum gerade die Kulturpädagogik solche Potentiale haben soll.
Um zuvor jedoch einen kurzen Einblick in das Feld der neuen Kulturpädagogik zu bekommen, die ja quasi Ausgangspunkt für diese Arbeit war, wird im folgenden Abschnitt kurz die deutsche Entwicklung dieser Querschnittsdisziplin aus den letzten 30 Jahren dargestellt.
Seit den 70er Jahren bezeichnet der vorher nur empirisch gebrauchte Begriff der Kulturpädagogik eine Schnittmenge aus verschiedenen Formen der Praxis und Theorie: „ Ästhetische Erziehung und Kunstpädagogik, kulturelle Kinder- und Jugendarbeit im Kontext der Verbände und Jugendwohlfahrten, neu entstehende Vermittlungsformen der Kunst- und Kultursparten als allgemeine und bereichsspezifische kulturelle Bildung (Musik, Theater, Tanz u.a.), Medien-, Spiel- Freizeit-, Museums-, Erlebnis-, Umweltpädagogiken usw., die sich weder dem traditionellen sozialpädagogischen Paradigma (Hilfe, Defizitansatz mit staatlich-öffentlichen, weltanschaulichen und parteilich-politischen Anteilen) noch dem schulischen Paradigma (systematische unterrichtliche, curricular definierte Unterweisung, auch mit Zwangs- und Selektionsanteilen) zuordnen wollen und lassen. “ (ZACHARIAS; 2001; S.69)
Die neue Form der Kulturpädagogik zeichnet sich aus durch einen „ eigenwertig-nichtinstrumentellen Bezug zu Künsten und Kulturen “ (ebd. S.70) - in den Bereichen der Hochkultur ebenso wie in denen der Alltagskultur. Sie wurde inspiriert durch die neuartigen Formen der Soziokultur und Kulturpolitik, die sich durch antiautoritäre und basisdemokratische Ideale auszeichneten. Ihr lag eine Didaktik zugrunde, die das Kind oder den Jugendlichen als „vollwertigen Menschen“ in einer Gemeinschaft ansah - mit allen Rechten ausgestattet, die einem Jeden zur gleichberechtigten Entwicklung zustehen. Als Unterschied zur alten Kulturpädagogik, sollte Kultur als heterogener Begriff einer Gesellschaft verschiedener Kulturen verstanden werden und dementsprechend sollte sie auch subjektorientiert vermittelt werden und nicht von einem Kultur- und Bildungsideal ausgehen. (vgl. ebd.)
In den 80er Jahren nahm der Begriff Kulturpädagogik (auch teilweise als musische, kulturelle oder ästhetische Bildung bezeichnet) konkretere Konturen an. Zwar war es immer noch ein Sammelbecken für verschiedene künstlerische Disziplinen, die sich je nach Entwicklungsstand positionierten, aber gerade durch die Lobbyarbeit der 1963 gegründeten Bundesvereinigung für Kulturelle Jugendbildung (BKJ) und der neu formierten Kulturpolitischen Gesellschaft, konnte den alternativen kulturpädagogischen Bildungsangeboten Vorschub geleistet werden. (vg. ebd. S.77 ff.) Der damalige Nürnberger Bildungs- und Kulturpolitiker Hermann Glaser beschrieb die Notwendigkeit von Kulturpädagogik folgendermaßen: „ In einer Gesellschaft, die vorwiegend von Nützlichkeitserwägungen bestimmt ist, wird das Ästhetische missachtet - oder nicht genügend in seiner politischen und sozialpolitischen Bedeutung gewürdigt. Man kennt von allem den Preis, aber von immer weniger den Wert. Die Sensibilisierung für Umwelt ist die eine Seite ästhetischer Erziehung, die Förderung kreativer Entfaltung die andere. Warenästhetik und Trivialmythen erschweren ich-starkes Leben, der spielende Mensch dagegen findet Enthebung und vermag sich der Stofflichkeit des Daseins gegenüber zu behaupten. Die Lösung für den ästhetischen Staat bedeutet somit: Massenkultur - ohne Anführungszeichen! Jeder muß in der Lage sein, an der ‚Kultur’ teilzuhaben und schöpferisch dort tätig zu werden. Noch sind die Tage einer ‚Kultur für alle’ fern.“ (Glaser 1989 ebd.) Sich der Notwendigkeit kulturpädagogischer Arbeit bewusst, aber nicht in der Lage, eine kanonische Theorie einer Kulturpädagogik zu benennen, und auch nicht sicher ob dies überhaupt erstrebenswert ist, (vgl. Baacke ebd.) begannen einige Hochschulen darauf hin die ersten Studiengänge ins Leben zu rufen, die für die Praxisfelder der öffentlichen und privaten Bildungsarbeit qualifizieren sollten.. (vgl. MÜLLER-ROLLI; 1988; S.207)
Die folgenden Jahre wurden aus kulturpädagogischer Perspektive stark durch die Wiedervereinigung von Ost und West geprägt. Zwei wirtschaftliche- und politische Staatssysteme trafen aufeinander, die mit der Idee der „Vereinigung“ synergetische Kräfte entstehen lassen wollten. „ Entsprechend Selbstreflexionen der ersten Jahre war Kulturpädagogik in den neuen Ländern „zwischen Beliebigkeit und Dogma“ angesiedelt. Die Reise ging „vom künstlerischen Volksschaffen zur Soziokultur“ ... und in der Jugendkultur von der „Kulturförderung zur Kulturwirtschaft“ ..., verbunden mit der Forderung, BRD- und DDR-Erfahrungen zugunsten von echten Neuansätzen gemeinsam auszuwerten und nicht einfach Westlogiken in Struktur und Inhalt Ostverhältnissen überzustülpen. “ (ZACHARIAS; 2002; S. 84)
Dies war ein neues Feld für Diskussionen über alte und neue, bekannte und fremde Ansätze der Kinder- und Jugendarbeit.
Schon nach wenigen Jahren entwickelte sich aus diesen Diskussionen ein bundesweit akzeptiertes Verständnis darüber, dass kulturelle Bildung in Blickrichtung auf eine nahende Jahrtausendwende von wichtiger Bedeutung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist. Dieses Verständnis drückte sich unter anderem im Kinder- und Jugendhilfeplan des Bundes aus: „ Kulturelle Bildung soll Kinder und Jugendliche befähigen, sich mit Kunst, Kultur und Alltag phantasievoll auseinander zu setzen. Sie soll das gestalterisch-ästhetische Handeln in den Bereichen Bildende Kunst, Film, Fotografie, Literatur, elektronische Medien, Musik, Rhythmik, Spiel, Tanz, Theater, Video u.a. fördern. Kulturelle Bildung soll die Wahrnehmungsfähigkeit für komplexe soziale Zusammenhänge entwickeln, das Urteilsvermögen junger Menschen stärken und sie zur aktiven und verantwortlichen Mitgestaltung der Gesellschaft ermutigen. “ (BKJ 1994 ebd. S. 88)
Diese Ansicht hat sich im kulturpolitischen Sektor auch über das Jahr 2000 nicht besonders verändert. Die Enquete-Kommission des deutschen Bundestages z.B. schreibt in ihrem Jahresabschlussbericht 2007 ähnliches.[10]
Mit dem Wort soll in der oben aufgeführten Formulierung wird aber nun weder ausgedrückt, dass die Finanzierung für deren Vermittlung in staatlicher Hand liegt, noch dass die staatlichen Instanzen dafür sorgen, dass jedem Kind solche Angebote bereitgestellt werden. Bisher hat sich die außerschulische Bildungsarbeit hauptsächlich für solche Angebote verantwortlich gefühlt. Folgendes Kapitel wird Gründe dafür liefern, warum sich das zukünftig ändern sollte.
„ Die Individuen der herrschaftlichen Schichten antiker und bürgerlicher Zeit, die infolge der Befreiung von allzu großem gesellschaftlichen Druck in Wechselwirkung mit der Welt ein ausdrucksfähiges Inneres erzeugen konnten, sind nie zahlreich gewesen. Jetzt aber hinge das Überleben der europäischen Zivilisation davon ab, daß es nicht bloß Kultur im alten Sinn, sondern eine Allgemeinheit innerlich selbstständiger, zum geistigen Widerstand fähiger, zur autonomen Lenkung ihres gemeinsamen Lebens bereiter Menschen gäbe. Es genügt nicht mehr, daß wenige kultiviert sind. “ (HORKHEIMER 1959 in MÜLLER-ROLLI; 1988; S. 65)
Max Horkeimer beschrieb mit dieser Aussage im Grunde das, was wenige Jahre später durch das, was unter Punkt 3 aufgeführt wurde, ihren Ausdruck fand. Und trotzdem scheint der Appell heute aktueller denn je.
In einigen Schulen ist die Gewaltbereitschaft, auch beeinflusst durch die zunehmende Nutzung gewaltorientierter Videospiele, stark angestiegen;[11] in Pariser Vororten randalieren junge Menschen, die sich in der Gemeinschaft nicht richtig aufgenommen und gefördert fühlen; der Amokläufer von Emsdetten schreibt im seinem Abschiedsbrief: „ Das einzigste was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, das ich ein Verlierer bin.“( http://www.heise.de)
Veränderte gesellschaftliche Bedingungen erfordern neue pädagogische Konzepte.
Die neuen Qualifikationsansprüche an junge Bürger/-innen wachsen stetig. Der Lebensraum Europa sieht sich mit interkulturellen Herausforderungen konfrontiert, die nur dann gemeistert werden können, wenn frühzeitig Kompetenzen zur selbstbewussten -, eigenständigen Lebensgestaltung und zur (inter-)kulturellen Verständigung[12] vermittelt werden.
Wie bereits in der Einführung erwähnt, ist die formale Freiheit der Menschen sich selbst zu bestimmen so hoch wie wahrscheinlich noch nie zuvor. Das Bestreben individuell und selbst bestimmt zu handeln und zu leben, ist Ausdruck und dennoch auch Risikofaktor der postmodernen Zeit. Die Globalisierung der Wirtschaft und der Kommunikation, neue Qualifikationsansprüche des Marktes, der Rückgang von konventionellen Denk- und Handlungsmustern - viele Faktoren stehen zwar in kausaler Verbindung zur Individualisierung und doch stehen sie ihr ebenfalls diametral gegenüber. Nicht nur Chancen, sondern auch Beziehungen und Zusammenhänge wurden demokratisiert. Religion, Politik und Arbeit sind auf dem großen Markt der Wirklichkeiten frei verhandelbar. Vormals Identität und Orientierung stiftende Grundlagen, die maßgebend wichtig für die eigene Verortung in der Welt und somit für eigenverantwortliches und selbst bestimmtes Handeln sind, werden eingeschränkt. Familiäre Strukturen, ästhetische Stile und Sinnentwürfe werden immer seltener durch den jeweiligen Kulturraum vorgegeben.
Natürlich sind all diese Veränderungen auch Ausdruck einer Emanzipation aus gezwungenen Zugehörigkeiten und von daher vorerst als positiv zu bewerten. Jedoch muss die Gesellschaft adäquate Bildungs- und „Identifikationsräume“ anbieten, damit neue Zusammenhänge verstanden und neue Beziehungen geschaffen werden können.
In diesem Zuge sollte die Pädagogik, respektive Kulturpädagogik, versuchen neue Ansätze des Lehrens und Lernens zu entwickeln um Kinder und Jugendliche auf die neuerlichen Zustände angemessen vorbereiten zu können. Wo eine Gesellschaft immer unübersichtlicher zu werden scheint und es nicht die Leitkultur gibt, sollte Bildung stärker auf die einzelnen Subjekte ausgerichtet sein, für die es darum geht „ Widersprüche zusammenzuspannen, Freiheit neu zu erproben und in Formen zu gießen, Leben und Form in Lebensformen miteinander zu vermitteln “. (SCHMID; 1998; S.130)
Dieser Ansatz soll nicht als Bestärkung egoistischer Individualisierungstendenzen verstanden werden, sondern vielmehr als Chance zur Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Persönlichkeit und der Bewusstwerdung von Freiheit und Verantwortung. Diese „Erkenntnis der Innenwelt“ birgt viel Potenzial zur Problemlösung in der „Außenwelt“ und ist somit für individuelle- und gesellschaftliche Prozesse nutzbringend. Aber darauf soll an späterer Stelle noch eingegangen werden.
Bevor wir zu einigen Beispielen aus der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit kommen, soll zuvor über die möglichen Ziele verhandelt werden, die den verschiedenen Praxisfeldern zugrunde liegen könnten. Die benannten Ziele sind eine kleine Auswahl, die dem Autor im kulturpädagogischen Kontext besonders relevant erscheinen. Sie sollen Orientierungspunkte für die Projektplanung liefern und bei der Akquise von Fördermitteln helfen.
Manchen wird es komisch erscheinen, ein Ziel zu benennen, welches sich ästhetische Erfahrung nennt. Schließlich gäbe es doch in der heutigen Zeit so viele Möglichkeiten schöne Erscheinungen zu erfahren. Das Fernsehen bietet schöne Ereignisse; schöne Menschen werben auf riesigen Plakaten für die verschiedenen Produkte der Kulturindustrie; und die starke Kaufkraft einiger Bürger/-innen ermöglicht es, als verkörperte Schönheitsideale über die Strasse zu laufen und somit auch den Sehnerv der anderen zu kitzeln. Also warum noch zusätzliche ästhetische Erfahrungen ermöglichen?
Um dieser Frage näher zu kommen, müssen wir zunächst den Begriff Ästhetik näher bestimmen. Ist das Ästhetische denn wirklich, das heute in der Umgangsprache benutzte, Schöne?
Der Begriff Ästhetik wurde Mitte des 18. Jahrhundert von dem deutschen Philosophen Baumgarten in einer eigenen philosophischen Disziplin begründet. Diese versuchte vorwiegend ein „ Wissen vom Sinnenhaften “ (WELSCH; 1993; S.9) zu erlangen, ihr eine immanente Logik zu entlocken. Später wurde der Begriff vorwiegend auf die Kunst und auf das Schöne verengt, also eher auf die Objektseite verlagert.[13] (vgl. ebd.) Immanuel Kant unterscheidet 40 Jahre später „ zwischen einer Ästhetik als Theorie der objektbezogenen Sinneserkenntnis ... und einer Ästhetik als Theorie des schönen und Erhabenen... “. (Henckmann/Lotter; 2004; S. 28 f.) Erstere Theorie setzt voraus, dass sich eine Gesellschaft zu so etwas wie einer objektivierbaren ästhetischen Wahrnehmung bekennt; letztere bezieht sich auf den subjektiven Geschmack und die individuellen ästhetischen Erfahrungen. (vgl. ebd.)
An dieser Stelle können wir schon feststellen, dass es schwierig ist, dem Ästhetischen eine objektivierbare Gesetzmäßigkeit zuzusprechen. Sozialisation und Enkulturation prägen unsere sinnliche Wahrnehmung ebenso wie die persönlichen Präferenzen oder Erfahrungen. Das Ästhetische kann also nicht mit dem Schönen gleichgesetzt werden, da unter dem Schönen nicht notwendigerweise intersubjektiv das gleiche verstanden wird.
Der Autor möchte daher eine weitere Unterteilung aufgreifen, die vom deutschen Philosophen Wolfgang Welsch vorgeschlagen wurde. Dieser bezeichnet Ästhetik eher als Aisthetik[14], indem er ihr Wahrnehmungen jeglicher Art zuordnet, die die Empfindungen stark machen. Als Gegenbegriff setzt er die Anästhetik,[15] in der die Bedingung des Ästhetischen - also die Empfindungsfähigkeit - nicht gegeben ist. Er zieht Parallelen zum medizinischen Bereich, wo die Anästhesie ebenfalls für die Einschränkung der Empfindung verantwortlich ist. Beide Begriffe betreffen die Wahrnehmung und thematisieren damit den gleichen Bereich. Die Grenzlinie zwischen ihnen ist oft schwer zu bestimmen. Anästhetik ist nicht Un-Ästhetisch, Nicht-Ästhetisch oder Anti-Ästhetisch, sondern sie ist mit Ästhetik eng verbunden. (vgl.Welsch; 1993; S. 10 ff.) Das wird dann deutlich, wenn wir die Ästhetik als ähnlich operanten und deskriptiven Begriff betrachten wie Kultur: Ästhetisierte Angebote prägen unser ästhetisches Urteil. Unsere Wahrnehmung ist keine Konstante, die sich unabhängig von der Umwelt konstituiert - sie entwickelt und verändert sich durch äußere Einflüsse. Was Empfindung auslöst, obliegt also nicht etwa nur den biologischen Anlagen eines Einzelnen. Anästhetische oder ästhetische Wahrnehmung wird maßgebend durch die Entwicklung der Außenwelt mitbestimmt.
Dieser Ansatz wird hier als theoretische Grundlage für den Handlungsmodus kulturpädagogischer Praxis dienen, da er am besten dafür geeignet scheint, die aktuellen Verhältnisse zu beschreiben.
Innerhalb größerer historischer Zeiträume verändern sich nicht nur die unter 2.1.1 beschriebenen menschlichen Transformationsformen, sondern auch damit einhergehend, die Art und Weise diese wahrzunehmen. Es sollte nachvollziehbar sein, dass die mediale Bilderflut der letzten 70 Jahre gewiss nicht nur eine Veränderung innerhalb unseres Lebensraumes sondern auch innerhalb unserer Wahrnehmung bewirkt hat. Fast 70 % der Kinder ab zehn Jahren nutzen regelmäßig das Internet.[16] Noch mehr nutzen regelmäßig den Fernseher. Sie, und wir ebenso, werden mehr denn je von zwei-dimensionalen Bildern programmiert. (Flusser; 1997) Unsere Aufmerksamkeiten, und damit auch unsere Wirklichkeiten, konzentrieren sich zunehmend auf Bildschirme - auf kleine Fenster, die scheinbare Wirklichkeit repräsentieren.
Wenn man diese, sicher nicht pauschalisierbare aber dennoch tendenziös beschreibbare Form der Wirklichkeitsaneignung unter ästhetischen oder anästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, sollte man zunächst doch meinen, dass es noch nie eine ästhetischere Zeit gab als die heutige - Unterhaltung und Empfindung sind 24 Stunden frei verfügbar. Doch die Lage ist wohl anders zu beschreiben: Auf der Suche nach der konsumierbaren Empfindung erzeugen diese Anregungen „ leerlaufende Euphorie und einen Zustand trancehafter Unbetreffbarkeit ... Coolness ... ist ein Signum der neuen Anästhetik. Ästhetische Animation geschieht als Narkose - im doppelten Sinn von Berauschung und Betäubung. Ästhetisierung ... erfolgt als Anästhetisierung. “(Welsch; S.14) Wir suchen und finden ästhetische Erfahrungen nicht mehr - sie finden uns. „ Der Vormoderne Mensch lebte in einer Bilderwelt, welche die „Welt“ bedeutete. Wir leben in einer Bilderwelt, welche Theorien bezüglich der „Welt“ zu bedeuten versucht. “(Flusser; 1997; S.22) Vornehmlich passiv sitzen wir vor diesen Bildern, und sehen uns als Teil dieser „bedeuteten“ Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die die Wirklichkeit vor der Tür als schal und farblos erscheinen lässt. Eine Wirklichkeit die uns gerade recht kommt, wenn wir geschafft aus Schule oder Büro nach Hause kommen und keine Lust haben unsere Welt zu bedeuten.
Zugegebenermaßen ist diese Darstellung sehr Kulturindustriekritisch und schließt auch alle die mit ein, die sich selbstbestimmt ihrer Medienkompetenz sicher fühlen. Diese überspitzte Beschreibung war dennoch notwendig um Tendenzen zu beschreiben. Und Tendenzen sind eben oft Wegweiser in Richtung Zukunft. Letztlich können wir nicht erahnen, was diese Verschiebung der Aufmerksamkeit mit uns und den nächsten Generationen machen wird. Kulturelle Arbeit darf auch nicht den Fehler machen und diesen Teil der Lebenswelt ausschließen - also mit „Pinseln gegen Satelliten zu kämpfen“. Sie sollte vielmehr sensibel machen für die aktuelle „... Eigenartigkeit des Ästhetischen, seine Wirkweisen ... eben als zentrales Moment zu setzen, den Unterschied zu anderen Konstruktionsmomenten von Wirklichkeit zu betonen ... “ (ZACHARIAS; 1987; S. 99) - die Medienpädagogik findet hier ihr Einsatzfeld. Ebenso sollen vielfältige Ausdrucks- und Gestaltungsaktivitäten angeboten werden, die fern der audiovisuellen Speisung die Möglichkeit bieten, die eigenen Sinne zu emanzipieren und authentische ästhetische Erfahrungen zu machen. (vgl. ZACHARIAS; 1976; S.88) Die Auseinandersetzung mit-, und die Gestaltung von künstlerischen Objekten, haben diesbezüglich gewiss große Potentiale. Aber auch die kontemplative Betrachtung der Natur kann ästhetische Erfahrungen ermöglichen.
Die Kulturarbeit kann diese Erfahrungen jedoch nicht erzwingen. Der Raum, die Materialien und die Betreuung können lediglich als inspirierender Rahmen zur Verfügung gestellt werden. Alles andere spielt sich, nicht verifizierbar, im Inneren der Teilnehmer/-innen ab.
Ein weiteres Lernziel der Kulturpädagogik kann die Lebenskunst sein. Nachdem das Bundesamt für kulturelle Jugendbildung zu Beginn dieses Jahrhunderts bereits ein erstes Modellprojekt mit dem Titel „Lernziel: Lebenskunst“ abgeschlossen hat, läuft bereits seit Juni 2007 ein neues Projekt mit dem Titel „Lebenskunst lernen“. Es stellt sich die Frage, warum der Begriff Lebenskunst in der Lernzielhierarchie an so hoher Stelle steht?
Man könnte diese Frage zunächst so beantworten: „ Nach Lebenskunst fragen diejenigen, für die sich das Leben nicht mehr von selbst versteht, in welcher Kultur und in welcher Zeit auch immer. Die Frage bricht vorzugsweise dort auf, wo Traditionen, Konventionen und Normen, und seien es die der Moderne, nicht mehr überzeugend sind und die Individuen sich um sich selbst zu sorgen beginnen.“ (SCHMID; 1998; S.9)
Die Umstände erfordern also, wie bereits unter Punkt 3.1 beschrieben, mehr denn je eine bewusste und reflektierte Auseinandersetzung mit sich selbst und der Gemeinschaft. Die Individuen müssen „ bewusst die Gestaltung äußerer Verhältnisse wie auch ihrer selbst unternehmen... “ (ebd.; S.130). Die fortwährende Arbeit an der Gestaltung des Lebens und des Selbst ist die Lebenskunst (vgl. ebd.; S.71f.), die Kunst, die das Individuum bestärkt in seiner Selbstaneignung und Selbstmächtigkeit (vgl. ebd.; S.11)
Sicher zusätzlich begünstigt durch die Sicherstellung der materiellen Grundversorgung, stellen sich Fragen nach der richtigen Lebensführung, dem Lebensstil, Glück und Sinn im eigenen Leben.
Mit all diesen Fragen muss sich eine Kulturpädagogik, mit dem Lernziel Lebenskunst, auseinandersetzen. Wie kann das jeweilige Subjekt also sein Leben leben? Hier kommt wieder die Seinsweise des Subjekts in Spiel, die bei der Konzeption des Lebenskunstbegriffes eine tragende Rolle spielt. Dieses Subjekt bedarf an dieser Stelle einer weiteren Erklärung.
Der Subjektbegriff, der über die Jahrhunderte von den verschiedenen Geistesströmen wie Idealismus, Empirismus oder Rationalismus geprägt wurde, ist zu umfassend und komplex als dass er an dieser Stelle zu genüge abgehandelt werden könnte. Es soll stattdessen versucht werden, den Begriff aus der Perspektive der postmodernen Lebenskunst zu beleuchten. In diesem Falle soll das Subjekt als Selbst verstanden werden
Aus dieser Sicht, ist das Subjekt oder das Selbst nicht gleichbedeutend mit einer Person, die in bestehenden Strukturen fest verankert ist und keinen Anlass dafür sieht, sich als Person und die Strukturen zu reflektieren. Das Selbst ist hier vielmehr in der Lage, sich bewusst aus seiner Fixierung zu lösen um sich selbstreflexiv betrachten zu können um Daseinsformen bestätigen oder verwerfen zu können. (vgl. SCHMID; 1998; S.239)
Natürlich wäre es in diesem Zusammenhang fatal, irgendwelchen traditionellen Gemeinschaften die seit Jahrhunderten feststehende Regeln tradieren, das Selbst abzusprechen. Selbstverständlich sind die dazugehörigen Menschen ebenfalls mit einer Art Selbst ausgestattet und nicht weniger Wert, als alle anderen Subjekte auch. Vielmehr ist diese Beschreibung ein Konzept der abendländischen Kultur und demnach auch ein Konzept welches sich durch die abendländische Zeitsituation konstituiert. Ein Konzept, welches säkular auf die Kräfte des Einzelnen und nicht auf die Kräfte einer höheren Macht oder eines Kollektivs ausgerichtet ist.
Das Selbst besteht laut Wilhelm Schmid aus zwei entscheidenden Komponenten: Dem Ich und dem Sich. Das Ich entkörpert sich durch situative und spontane Akte des Sprechens, Malens, Schreibens usw. - aus unreflektierten Gegebenheiten heraus. Und das Sich ist der Teil, der dem Selbst seine reflexive Eigenschaft verleiht - das Sich betrachtet das Ich von außen. Das Sich stellt die Beziehung zum Selbst her; es überprüft die Differenz und Übereinstimmung zwischen Kognition und der Manifestation durch Tätigkeiten. (vgl. SCHMID; S.239 f.) Erst durch den Akt der Reflexion kann man sich seiner Selbst, also der Wechselwirkung von Ich und Sich, bewusst werden: man gestaltet sein Selbstbewusstsein. Durch diese Gestaltung macht man sich gleichermaßen zum Subjekt und Objekt seiner selbst. Das Sich als Subjekt, das vorher bewusst Beobachtungs- und Verarbeitungsprozesse vollzogen hat, und das Ich als Objekt, auf welches die Gestaltung ausgerichtet ist. (vgl. ebd.) „ Gegenstand der Gestaltung kann die eigene Handlung des Selbst sein, die, ausgeführt, eine Eigenexistenz zu führen beginnt, nicht mehr identisch ist mit dem Selbst, von dem sie ins Werk gesetzt worden ist, sich jedoch über ihre Konsequenzen zurückwendet auf das Selbst, ihm Erfahrungen vermittelt, es prägt, bestätigt oder ihm eine veränderte Gestalt verleiht. “ (ebd.)
Wie bereits oben angedeutet ist dieses Konstrukt des Selbst natürlich nicht nur von Bedeutung für den einzelnen Menschen, sondern in der Folge auch für den Umgang mit anderen - in der Folge bedeutet, nachdem der Einzelne sich auf die oben beschriebenen intrasubjektiven Abläufe einlässt und ein tendenziell authentisches und bejahenswertes Selbst entwickelt hat, - frei nach dem Motto „Liebe deinen nächsten wie dich selbst“ - ist es ihm/ihr auch möglich ein positives Menschenbild zu entwickeln. Arbeit am Selbst ist dementsprechend auch immer Arbeit am Wir.
Der Psychotherapeut Klaus Grawe behauptet in diesem Zusammenhang sogar, dass es ein „ Zeichen guter seelischer Gesundheit [ist], wenn man sich etwas übertrieben positiv sieht und sich selbst positiver beurteilt als andere. Man muss sich Sorgen um die Menschen machen, die das nicht tun, nicht umgekehrt. “ (GRAWE; 2004; S.259)
Die Selbst findung und -bildung eines Menschen ist oder besser sollte, wie bereits unter Punkt 2.3 erwähnt, niemals abgeschlossen sein. Doch besonders Kinder und Jugendliche befinden sich in einer Lebensphase, in der sie besondere Unterstützung benötigen diese Prozesse auf ein breites Fundament zu stellen. Sie sind stark beeinflussbar und daher vor opportunen Manipulationen von außen zu schützen. Kulturelle Arbeit kann hierbei, im Sinne der Lebenskunst, Unterstützung zur Findung eines positiven Selbstbildes leisten. Durch kreative und feiwillige Angebote kann den Kindern, fern normierter Qualifikationsansprüche, die Möglichkeit gegeben werden ihr eigens Selbst zu erforschen und zu reflektieren um somit zu Selbstbewusstsein und Verortung im eigenen Lebenskonzept zu finden - sozusagen, um eine Qualifikation zur „ Sorge um sich “ (SCHMID; S.244) zu erlangen.
Der Umgang mit den künstlerischen Medien gibt dem Ich die Chance sich auf freie und spielerische Art und Weise auszudrücken, und die Einbettung in ein Themenfeld mit anderen Teilnehmer/-innen, gibt dem Sich die Gelegenheit die eigenen Tätigkeiten in den Kontext mit anderen zu stellen und somit neue Horizonte zu erschließen.[17] Die Erfahrungen des Kindes oder besser gesagt die Ich-Impulse und die Reflexion des Menschen sollten dabei im Mittelpunkt stehen.
Ulrich Baer beschreibt im Rahmen des ersten Modellprojekts des BKJ, welche Methoden ihm besonders effektiv erscheinen, um Kindern und Jugendlichen solche Erfahrungen zu ermöglichen:
- „ Methoden, die die Fähigkeit zum Wählen unterstützen ... Zu diesen Methoden zählen ... Heimprojekte, Segeltörns, Entscheidungsspiele usw.
- Methoden, die die Bewertung unterschiedlicher Alternativen erlauben... Das sind vor allem Simulationsverfahren ... Planspiele, Übungsfirmen, Schülerunternehmen...
- Methoden, die die Formulierung von eigenen Zielen und Perspektiven unterstützen. Methoden, die die Artikulation, Darstellung und Veröffentlichung sozialer Identitäten ermöglichen. Hierzu zählen Methoden der Selbstdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit
- Methoden, die eine Identifikation mit Vorbildern geglückter Lebensführung verschaffen. Das sind zum Beispiel Filme, Romane, Theaterstücke oder Musicals.“ (BAER; 1999; S.46)
Diese Erfahrungen können natürlich durch verschiedene Methoden beabsichtigt werden, aber ein „vermitteln“ oder besser noch „stiften“ von diesen Erfahrungen ist nicht möglich. Erfahrungen können nur selbst gemacht werden. Insofern kann das Ziel Lebenskunst für die kulturelle Arbeit nur als offener und anknüpfungsfähiger Orientierungspunkt gesehen werden, der sich dadurch ausdrücken muss, dass es eine breite Angebotspalette für die Bedarfslagen der Kinder und Jugendlichen gibt. Außerdem sollten die Betreuer/-innen in wertschätzender Weise Hilfestellung bieten, die Arbeitsergebnisse und -prozesse zu reflektieren. Das verlangt von den Betreuer/-innen ein hohes Maß an Flexibilität in der Arbeitsweise und außerdem Sensibilität für die Bedarfslagen der Kinder.
Was sind aber die Bedarfslagen von Kindern und Jugendlichen? Nun, sie sind meist verbunden mit den jeweiligen Zielen, Interessen, Problemen und den gesellschaftlichen Anforderungen. Diese verschiedenen Bedarfslagen jedoch irgendwie zu schematisieren und in Kategorien einzuteilen, um die Arbeit darauf abstimmen zu können, ist schwierig. Die kulturpädagogische Praxis kann immer nur begrenzt auf die individuellen Wünsche der Teilnehmer/-innen vorbereitet sein. Daher soll im nächsten Kapitel eine Kategorisierung verallgemeinerbarer psychologischer Grundbedürfnisse aufgezeigt werden, die in jeder Konzeption mit berücksichtigt werden könnten.
Folgende Einteilung ist ein Vorschlag des deutschen Psychotherapeuten Klaus Grawe. Er differenziert vier verschiedene psychologische Grundbedürfnisse, die alle wechselseitig miteinander in Verbindung stehen und auf jeden Menschen übertragbar sind.
Eigentlich sind Grawe’s Veröffentlichungen hauptsächlich für das Praxisfeld der Psychotherapie bestimmt und somit nicht direkt für den Bereich der kulturellen Bildung geeignet. Schwere Schädigungen des Bindungsbedürfnisses in der frühen Kindheit z.B., sind sicher nicht ausschließlich durch kulturpädagogische Interventionen rehabilitierbar. Von daher ist die Überschrift Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse gewiss sehr optimistisch. Dennoch sollen und können wichtige Handlungsschemata für die Kulturarbeit herausgefiltert werden. Und als ergänzende Maßnahme zur therapeutischen Behandlung ist Kulturarbeit allemal denkbar.
„Dass es Kinder gibt, die die Sehnsucht haben in einer Familie zu wohnen und in einer Familie groß zu werden - aber diese Familie real nicht mehr existiert. Das ist ein weiteres Thema, wo wir sagen: „Das sind Inhalte, die sehr nah bei der Lebenswelt der Kinder sind“.“ (HERR W.; Interview 2; S.93)
Das erste und laut Grawe grundlegendste psychologische Grundbedürfnis eines Menschen, ist das Bedürfnis nach Bindung an Vertrauenspersonen. Die diesbezüglich einprägsamsten Erfahrungen macht ein Mensch in den ersten Monaten nach der Geburt, und sie reichen hin bis zum frühen Jugendalter.
Die entscheidende Aufgabe eine emotionale und vertrauensvolle Bindung zum Kind herzustellen, obliegt natürlich zunächst den Eltern und den Menschen im nahen sozialen Umfeld. Positive Bindungserfahrungen aus dieser Lebensspanne wirken sich signifikant positiv auf die Aggressions- und Emotionsregulation des Kindes aus. Defiziterfahrungen dagegen haben nachhaltige negative Wirkungen auf die individuellen Annäherungsschemata in vielen anderen Bereichen. (vgl. GRAWE; 2004;S.192 ff.)
Kulturelle Bildungsarbeit kann schwerwiegende Bindungstraumata nur sehr begrenzt kompensieren - psychotherapeutische Behandlungsmethoden sind hier eindeutig vorzuziehen. Und nicht nur für die Kinder, sondern ebenfalls für die Eltern solcher bindungsgestörten Kindern. Unsichere Bindungsstile werden häufig durch die Eltern an ihre Kinder weitergegeben. Ein präventives „Feinfühligkeitstrainig“ für Eltern könnte hier gewiss schlimmeres vermeiden. (vgl. ebd. S.204)
Nicht desto trotz bringt die kulturelle Arbeit ebenso Potentiale mit sich, in einem angenehmen Lernmilieu freundschaftliche Beziehungen zu pflegen und positive Bindungserfahrungen zu machen. Kulturarbeiter/-innen können ihres dazu beitragen, indem sie in wertschätzender und liebevoller Weise vorgehen und nicht zulassen, dass innerhalb eines Projektes abwertend übereinander gesprochen wird. Das Bedürfnis nach Bindung ist in der kulturellen Arbeit also auch stark mit dem Bedürfnis nach Selbstwertschutz verbunden. Denn eine „funktionierende kulturelle Bildung ist letztendlich auch immer eine funktionierende Bildung für Toleranz und Gemeinsamkeit (FRAU L.; Interview 1; S.66)
[...]
[1] Für Heinrich Roth setzt sich Mündigkeit, als pädagogische Zielvorstellung, aus der Bereitschaft und Fähigkeit zusammen, durch Selbstkompetenz, Sozialkompetenz und Sachkompetenz das eigene und das soziale Leben bewältigen zu können (vgl. HOBMAIR; 2002; S.206).
[2] Systematische Gegenüberstellung des engen und weiten Kulturbegriffs findet sich in: Schmid Noerr, Gunzelin: Kultur und Unkultur - Perspektiven der Kulturkritik und Kulturpädagogik.
[3] Als Symbol soll hier jegliche Form des menschlichen Ausdrucks verstanden werden.
[4] „ Geist ist jenes Vermögen, das über das unmittelbar Gegebene und das kategorial Ausgelegte hinaus den weitergehenden, tieferen bzw. hintergründigen Sinn einer Situation zu erfassen vermag. “(WELSCH; 1993; S.53)
[5] Die Transkription erfolgte auf Grundlage der deutschsprachigen Synchronisation
[6] Wissen verstanden als Kenntnis von etwas und nicht als verinnerlichte Meinung
[7] Weniger kritisch gesprochen, könnte man natürlich auch von einer „Öffnung und Demokratisierung der Kultur“ (ebd.) sprechen. Jedoch ist dafür eine selektive Medienkompetenz notwendig, die wiederum hauptsächlich von einer „kulturellen Elite“ beherrscht wird. Diese Öffnung kann also nur als Chance verstanden werden, wenn gleichzeitig ausreichend Angebote zur Verfügung gestellt werden, die eine solche Kompetenz entwickeln helfen.
[8] Walter Benjamin versteht unter der Aura, die Menschen oder Kunstwerke haben können, eine „ einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. “(BENJAMIN in TIEDEMANN; 1991; S:479)
[9] Auf den Begriff Subjekt wird unter 3.2.2.1 noch eingegangen
[10] Die genaue Formulierung ist in der Eingangsfrage der angehängten Interviews nachzulesen.
[11] Aktuelle Forschungsergebnisse sind nachzulesen unter: http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/offenerbrief052007.pdf
[12] Der Unterschied zwischen kultureller- und interkultureller Verständigung ist schwammig, denn „... vielleicht ist die eine afrikanische Familie und die ...ähm... aus Oberbayern, in der Art wie sie familienkulturell miteinander harmonieren, so viel ähnlicher als zwei, die in einer Straße aufgewachsen sind.“ (Frau L. Interview 1; S 78)
[13] Das objektiv Schöne, wurde einige Jahrhunderte vorher durch die Erforschung des goldenen Schnitts schon einmal thematisiert.
[14] Griech. aisthesis: sinnliche Wahrnehmung, Empfindung, Gefühl
[15] Altgriech. Anästhesie: Un-, Nicht Wahrnehmung
[16] Nachzulesen unter www.destatis.de
[17] „Das letzte Mal habe ich vom blauen Mond gesprochen und sie (ihre Tochter ) hat gesagt: „Der Mond ist nicht blau“! „Aber es gibt Leute die den Mond Blau bezeichnen“. „Warum“? Und so weiter und so weiter. Das macht auf jeden Fall den Kopf weiter und das Verständnis für die ganze Welt und gibt auch eine andere Sprache ab.“ (Frau L.; Interview 1; S.77)
Kommentare