Veröffentlichen auch Sie Ihre Arbeiten - es ist ganz einfach!
Mehr InfosExamensarbeit, 2007, 79 Seiten
Examensarbeit
1,0
1 Einleitung
2 Migrantenliteratur in Deutschland: ein historischer Überblick
2.1 Die Entstehung eines neuen Genres
2.1.1 Arbeiterwanderung in den 60er Jahren
2.1.2 „Gastarbeiterliteratur“ – „Literatur der Betroffenheit“ – „Migrantenliteratur“
2.2 Verbreitung der Migrantenliteratur in Deutschland
3 Literatur türkischer Migranten in Deutschland
3.1 Pioniere türkischer Migrantenliteratur
3.1.1 Aras Ören
3.1.2 Yüksel Pazarkaya
3.2 Weitere Autoren der ersten und jüngeren Generation
3.2.1 Emine Sevgi Özdamar
3.2.2 Osman Engin
3.2.3 Feridun Zaimoglu
4 Sprache als Spiegel der sozialen und kulturellen Gegebenheiten
4.1 „Made in Germany“. Aras Ören
4.1.1 Beziehung zur Heimat – didaktische Begründung
4.1.2 Interpretationsskizze
4.1.3 Kulturübergreifende Darbietung des Gedichts – methodische Hinweise
4.2 „deutsche sprache“. Yüksel Pazarkaya
4.2.1 Didaktische Begründung
4.2.2 Interpretationsskizze
4.2.3 Methodische Überlegungen
4.3 „Mutterzunge“. Emine Sevgi Özdamar
4.3.1 Sprache als Medium der Kulturvermittlung – didaktische Begründung
4.3.2 Interpretationsskizze
4.3.3 Methodische Überlegungen
4.4 „Ich bin Papst“. Osman Engin
4.4.1 Reflektierte Selbst- und Fremdwahrnehmung – didaktische Begründung
4.4.2 Satirische Relativierung von Vorurteilen und aufgezwungene Identitäten – thematische Analyse
4.4.3 Produktive Verfahren zur Thematisierung – methodische Hinweise
4.5 „Kanak Sprak“ und „Koppstoff“. Feridun Zaimoglu
4.5.1 Das Konzept
4.5.2 Identität durch Sprache
4.5.3 Didaktische Begründung
4.5.4 Hybridität als Unterrichtsgegenstand – methodische Überlegungen
5 Resümee
5.1 Zur Sprache und Thematik der Texte
5.2 Zusammenfassung der Lernziele und Methoden
5.3 Prämissen und Folgerungen
6 Der Lehrplan und die interkulturelle Schulrealität – ein Ausblick
7 Literaturverzeichnis
8 Anhang
Made in Germany
deutsche sprache
Mutterzunge
Ich bin Papst
Der direkte Draht zum scharzen Mann
Der Wissenhaber verschluckt sich nicht an Klugheit
[…]
ich trage zwei Welten in mir
aber keine ist ganz
sie bluten ständig
die Grenze verläuft
mitten durch meine Zunge[1]
[…]
Den Zahlen des statistischen Bundesamtes zufolge lebten im Jahre 2005 in der BRD rund 7,3 Millionen ausländische Bürger, davon 1.796.696 türkischstämmige Migranten. Die zunehmende kulturelle Heterogenität seit
einigen Jahrzehnten und gescheiterte Integrationsversuche zogen nicht nur politische und gesellschaftliche Konflikte mit sich. Zafer Senocak, ein türkischer Autor, der seit mehreren Jahren in Deutschland lebt, spiegelt in seinem Gedicht eindrucksvoll und treffend die soziokulturelle Situation von Migranten, die zwischen „zwei Welten“ ihre Identität verloren haben, wider.
Die gesellschaftlichen Veränderungen wirken sich auch auf die Schulen aus, die darauf reagieren müssen. Lehrkräfte werden immer mehr mit Anforderungen konfrontiert, die aus diesem gesellschaftlichen Wandel resultieren. Diese kulturelle Vielfalt in der Gesellschaft stellt jedoch auch ein Potenzial dar, das neue Perspektiven, Chancen und Möglichkeiten bietet. Die Bedeutung der heranwachsenden Generation für das interkulturelle Miteinander muss erkannt und der Unterricht für andere Kulturen geöffnet werden. Durch das interkulturelle Lernen, das auf Toleranz und gegenseitigem Verständnis basiert, können Schüler interkulturelle Kompetenzen erwerben und im Zeitalter der Globalisierung optimal auf ihre Zukunft vorbereitet werden.
Ziel dieser Arbeit ist es, die Notwendigkeit einer Ausweitung des Deutschunterrichts auf interkulturelle Kontexte darzulegen. Sie soll herausarbeiten, inwieweit der Einsatz von türkischer Migrantenliteratur im gymnasialen Deutschunterricht zum interkulturellen Lernen beitragen kann. Im zweiten Kapitel werden zunächst die Hintergründe der Arbeitsmigration in Deutschland aufgedeckt und auf die Entstehung sowie Verbreitung der Migrantenliteratur eingegangen. Die türkischstämmigen Autoren, deren literarische Werke im Deutschunterricht vermittelt werden sollen, migrierten im Zuge der Arbeiterwanderung mit ihren Familien oder alleine nach Deutschland. Das dritte Kapitel stellt diese Autoren und ihre literarischen Werke vor. Im vierten Kapitel werden fünf prosaische und lyrische Texte dieser Autoren thematisch analysiert, sowie für den Deutschunterricht didaktisiert. Dabei gilt das Hauptinteresse der Sprache und wie sich diese seit den Anfängen der „Gastarbeiterliteratur“ mit den sozialen und kulturellen Gegebenheiten verändert hat. In Kapitel 5 werden die gewonnenen Ergebnisse zusammengetragen und zum Schluss auf die Diskrepanz zwischen dem Lehrplankanon und der interkulturellen Schulrealität hingewiesen.
Zur Entstehung der Migrantenliteratur trugen die Arbeiterwanderung und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Entwicklungen entscheidend bei. Max Frisch enthüllte die Realpolitik in den 60er Jahren mit seiner berühmten Aussage, dass man zwar Arbeitskräfte gerufen hatte, doch Menschen gekommen waren. Getrieben vom „ Leid, das jede Auswanderung mit sich bringt “[2], griffen einige Migranten zu Feder und Papier. Der Verlust der Heimat und der Neubeginn in der Fremde waren wichtige Hauptmotive des Schreibens.
Im Folgenden soll zunächst ein historischer Abriss zur Entstehung und Verbreitung der Migrantenliteratur gegeben werden.
In der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs um 1950 stieg der Bedarf an Arbeitskräften nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Bauwirtschaft und im tertiären Sektor. Die nationalen Arbeitsmärkte waren jedoch nicht mehr in der Lage, den Arbeitskräftemangel durch die Freisetzung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft zu decken. Vor allem in Deutschland war die Nachfrage ziemlich hoch, da sich die deutsche Volkswirtschaft zur leistungsstärksten in Europa entwickelte. Um diesen hohen Bedarf zu decken, schlossen die europäischen Industrieländer Verträge mit zahlreichen wirtschaftlich schwächer entwickelten Staaten aus dem Mittelmeergebiet und holten von dort billige Arbeitskräfte mit geringer Qualifikation. Durch das Anwerbeabkommen sollte nicht nur den Industrieländern geholfen werden. Es wurde zudem erwartet, dass mit der Rückkehr von „qualifizierten“ Arbeitskräften die Wirtschaft in den Herkunftsländern angekurbelt wird.
Für die einzelnen Migranten war die Wanderung nach Deutschland der einzige Ausweg aus der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Not, die in ihren Herkunftsländern herrschte. Infolge der rapide wachsenden Bevölkerung und einer wenig entwickelten Industrie stieg in den Städten die Arbeitslosenzahl. Fehlende Investitionen in die Landwirtschaft führten zur Rückständigkeit und Armut auf dem Land. Weitere emigrationsfördernde Faktoren waren eine unzureichende Infrastruktur und hohe Verschuldungen. Auch politische Faktoren waren für die Migrationsmotivation verantwortlich. So bedrohten gewaltsame Auseinandersetzungen im Osten der Türkei zwischen Kurden und der türkischen Armee immer mehr die Sicherheit der Bewohner. Außerdem hatte das in den 80er Jahren in Angriff genommene Projekt GAP (Südostanatolienprojekt) zum Ziel, die wirtschaftliche Entwicklung im Osten zu fördern. Als dann jedoch mehrere Dörfer zwischen Euphrat und Tigris überflutet wurden, waren die Dorfbewohner letztendlich gezwungen, Richtung Westen abzuwandern.
Die meisten Migranten hatten oft unrealistische, meist sogar fantastische Vorstellungen über die Arbeits- und Lebensverhältnisse in Deutschland. Das Land des Wirtschaftswunders war ein Sinnbild für Reichtum und Überfluss. Zunächst kamen so genannte „Gastarbeiter“ aus Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) ins gelobte Land. Ab 1961 wurden türkische, portugiesische, marokkanische und jugoslawische Arbeiter angeworben (Bähr 2004:289). Ihr ursprüngliches Ziel war es, nach einem gewissen Zeitraum in die Heimat zurückzukehren und mit ihren Ersparnissen und in Deutschland erworbenen Fachkenntnissen eine neue Existenz zu gründen. Doch die Realität entwickelte sich anders als geplant. Sie wurden in den Städten feierlich begrüßt und bei ihrer Ankunft oft reichlich beschenkt. Eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhielten sie erst dann, wenn sie über die jeweils angeforderten beruflichen Arbeitsqualifikationen verfügten und medizinische Kriterien erfüllten. Die Aufenthaltserlaubnis wurde nur für eine befristete Zeit gewährt, d. h. die Ausländerbeschäftigung galt nur als eine temporäre Erscheinung. Durch die für eine beschränkte Zeit konzeptualisierte Ausländerpolitik war eine verstärkt einsetzende Arbeiterwanderung nicht absehbar, so dass es zu dieser Zeit auch keinen Anlass für öffentliche fremdenfeindliche Äußerungen gab.
Die geplante Rückkehr der Gastarbeiter in ihre Heimatländer fand nicht statt. Als dann konsequenterweise die Zahl der Ausländer ab 1970 ihren vorübergehenden Höchststand erreichte, nahm die Aufnahmekapazität der europäischen Staaten sukzessive ab, so dass es zum Anwerbestopp und zu Einwanderungsbeschränkungen kam. Deutschland und Österreich erreichten eine Reduktion der Ausländerzahl, indem die Aufenthaltsgenehmigungen nicht mehr verlängert und sogar Rückkehrbeihilfen ausbezahlt wurden. Dies führte jedoch nicht zu einer Abnahme, sondern vielmehr zur Verlangsamung der Arbeitsmigration. Ende der 70er Jahre stieg die Zahl der Ausländer infolge der Familienzusammenführung und den steigenden Geburtenzahlen unter der ausländischen Bevölkerung wieder an (Bähr 2004:289).
Somit wurde aus der temporären Arbeiterwanderung eine Dauereinwanderung, aus dem „Gastarbeiter“ ein „Einwanderer“. Diese unerwartete Entwicklung führte zu einer angespannten sozialen Situation in der Gesellschaft zwischen den Deutschen und den Ausländern. Die Wirtschaftskrise von 1966/67 war der erste Auslöser von ausländerfeindlichen Tendenzen in der Gesellschaft. Türken bildeten die größte Minderheit unter den Gastarbeitern. Im Vergleich zu anderen Minderheiten boten sich Türken als Objekt der Ausländerfeindlichkeit an: ihre Religion, ihr ungewohntes Aussehen und ihre fremdartige Kultur. Das „Türkenproblem“ wurde in den 80er Jahren intensiv und emotional thematisiert. Medien schürten Ängste und Aggressionen zwischen Einheimischen und Ausländern, Gewaltanschläge und fremdenfeindliche Straftaten waren am Ende der 80er Jahre die Folgen (Chiellino 2000:14).
Die Literatur der (Arbeits-)Migranten ist wohl das einzigste Gebiet, welches in kurzer Zeit so häufig seinen Namen gewechselt hat. Angefangen mit der Bezeichnung „Gastarbeiterliteratur“, „Ausländerliteratur“, „Minderheitenliteratur“, „Literatur von Außen“ bis hin zu den Begriffen „Migrantenliteratur“ und „Migrationsliteratur“. Die Begriffsvielfalt zeigt ganz deutlich die Problematik der Definitions- und Benennungsversuche für die von „Ausländern“ geschaffenen literarischen Werke. Allgemein wird unter den Begriffen eine Literatur verstanden, die von den in Deutschland lebenden Migranten produziert wird und die ihre Empfindungen, Ängste und Hoffnungen zum Ausdruck bringt. In dieser Arbeit werden nur die gängigsten Begriffe „Gastarbeiterliteratur“, „Literatur der Betroffenheit“ und „Migrantenliteratur“ erklärt und verwendet.
Kurz nach den ersten Anwerbeabkommen begannen einige Gastarbeiter ihre politisch-soziale Lage literarisch darzustellen. Abgeleitet von der Arbeiterwanderung wurden diese Werke zunächst unter dem Begriff „ Gastarbeiterliteratur “ kategorisiert. Deutschsprachige Texte aus dieser Anfangsphase erschienen in Form von Lyrik und Prosa, die immer noch von der jeweiligen Muttersprache beeinflusst waren.
Für die Verwendung des Begriffs „Gastarbeiterliteratur“ gibt Horst Hamm in seiner Arbeit folgende Erklärung:
„ Ohne das Engagment südländischer Gastarbeiter wäre der ganze Literaturzweig nicht denkbar. Ihrer Initiative ist es zu danken, dass sich ausländische Autoren, die in deutscher Sprache schreiben, als Gruppe zusammenschlossen; und erst in ihrem Sog veröffentlichten andere Ausländer ihre literarischen Produkte, in wesentlich geringerem Umfang allerdings .“[3]
Gleichzeitig weist er allerdings darauf hin, dass die Bezeichnung unzutreffend ist, da die Autoren nicht mehr vorwiegend Arbeitnehmer sind, sondern Akademiker. Das heißt, dass AutorInnen, die anderen Berufsgruppen angehören oder als Studierende nach Deutschland immigriert sind, auch im Kontext der Arbeitsmigration gelesen werden. Franco Biondi und Rafik Schami betonen das Paradoxon im Kompositum „Gastarbeiter“:
„ Wir gebrauchen bewusst den uns auferlegten Begriff vom „Gastarbeiter“, um die Ironie, die darin steckt, bloßzulegen. Die Ideologen haben es fertiggebracht, die Begriffe Gast und Arbeiter zusammenzuquetschen, obwohl es noch nie Gäste gab, die gearbeitet haben .“[4]
Am Anfang der 80er Jahre kennzeichneten Biondi und Schami die Gastarbeiterliteratur mit dem Schlagwort „Literatur der Betroffenheit“ . Diese neue Bezeichnung sollte den Widerstand einer vernachlässigten und unterdrückten Literatur darstellen. Ihr Ziel war es, gegen die Despektion gegenüber Gastarbeitern und ihren kulturellen Produkten anzukämpfen, indem sie sich von der dominanten Kultur distanzierten und die Realität aus der Perspektive des Unterdrückten betrachteten. Sie vertreten in ihrem Aufsatz „Literatur der Betroffenheit“ (Schaffernicht 1982:124-136) die Ansicht, dass diese Literatur diejenigen ansprechen soll, die die Welt der Gastarbeiter kennen und verstehen wollen. Die Betroffenenliteratur sollte auf keinen Fall „ nach Versöhnung suchen, denn es hat den Unterdrückten noch nie geholfen, den Unterdrücker um Milde zu bitten .“[5] Man verzichtete bewusst auf die ästhetische Form der Literatur um die Authentizität und die politisch-ökonomische Bewusstheit hervorzuheben. Horst Hamm spricht hier auch von einer „authentischen Literatur“ (Hamm 1988:48). Durch diese Literatur wurden ernsthafte Probleme der Menschen, die in Deutschland ihre neue Existenz gegründet haben, artikuliert. Während in den Anfangsphasen der Gastarbeiterliteratur dokumentarisch bzw. objektiv geschrieben wurde, rückt in den 80er Jahren immer mehr die eigene Subjektivität des Autors in den Vordergrund. Ihre Betroffenheit bringen Autoren vor allem in Autobiografien und Selbstdarstellungen zum Ausdruck (Hamm 1988:53).
Die meisten Autoren sind jedoch mittlerweile keine „Gäste“ mehr. Sie haben bereits den größten Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht, sind hier geboren und aufgewachsen. Sie sehen sich auch nicht als „Betroffene“. Die jüngere Generation sieht sich als ein Teil der deutschen Gesellschaft und verlangt auch als solche akzeptiert zu werden. Sie distanzieren sich von der auf Selbstmitleid und „Betroffenheit“ bedachten Literatur. Deshalb ist es auch politisch ausgesprochen fragwürdig, Begriffe wie „Ausländerliteratur“ oder „Minderheitenliteratur“ zu gebrauchen. Inzwischen haben sich im wissenschaftlichen Bereich die Begriffe „ Migrantenliteratur“ bzw. „Migrationsliteratur“ durchgesetzt. Diese unspezifischen Bezeichnungen werden allerdings je nach Gusto des Forschers in Verwendung gebracht. Während A. Mansour Bavar und Heidi Rösch in ihren Werken den Begriff „Migrationsliteratur“ einsetzen, wird dieses Genre von Petra Thore und Monika Frederking als „Migrantenliteratur“ bezeichnet. Ganz allgemein wird unter dem Terminus „Migrantenliteratur“ die von Migranten unterschiedlicher nationaler, ethnischer, kultureller oder sozialer Herkunft verfasste Literatur verstanden. Heidi Rösch weißt zusätzlich darauf hin, dass das Herkunftsland bzw. die –region eine wichtige Zugangskategorie darstellt (Rösch 1992:13-18). Im Zentrum des Interesses steht neben der Literatur italienischer Autoren (Chiellino 2000) auch die Literatur türkischer Autoren (Frederking 1985) in Deutschland.
Die Verbreitung der Literatur von Migranten in Deutschland begann erst in den 80er Jahren. Doch bereits Anfang der 50er Jahre erschienen Briefe, Gedichte und Erzählungen in Zeitschriften, die von Emigranten herausgegeben wurden. Die ersten Gastarbeiter mit literarischer Tätigkeit in Deutschland waren Italiener. In den 50er und frühen 60er Jahren waren jedoch die ersten literarischen Gehversuche meistens in italienischer Sprache und deshalb für die deutsche Öffentlichkeit nicht zugänglich (Hamm 1988:33). Erst im Jahre 1964 erschien Gianni Bertagnolis deutschsprachiger Roman „Arrivederci, Deutschland!“, der aus Tagebucheinträgen und Reportagen besteht. Es folgten mehrere Gedichtbände und prosaische Werke von Autoren wie Franco Antonio Belgiorno, Carmine Gino Chiellino und Franco Biondi (Chiellino 2000:63-69). Neben den italienischen Autoren bilden Türken die größte nationale Gruppe der schreibenden Migranten (Hamm 1988:32). Autoren dieser Gruppe und ihre Werke werden in Kapitel 3 vorgestellt.
Die politische und soziale Lage nach dem Anwerbestopp und der Familienzusammenführung in den 70er Jahren war ein ausschlaggebender Faktor für die verstärkte kulturelle Betätigung von Migranten. Ihre Texte wurden vorwiegend in kleinen Verlagen, wie z. B. Ararat-Verlag oder Express-Verlag, publiziert, die zum größten Teil dafür gegründet wurden, allerdings nur niedrige Auflagenhöhen erreichten. Mit dem Ziel, ein relativ breit gefächertes Publikum zu gewinnen, veröffentlichten die Autoren R. Schami, F. Biondi, S. Taufiq und J. Naoum am Ende der 70er Jahre die Literaturreihe „Südwind Gastarbeiterdeutsch“ in der Edition Con, die ab 1983 als „Südwind Literatur“ beim Neuen Malik Verlag erschien. Nach Schami und Biondi ist diese Reihe „ der erste Versuch, die Literatur der Gastarbeiter selbständig und kontinuierlich herauszugeben. “[6] Sie beabsichtigten damit den Kulturaustausch zwischen Ausländern und Deutsche zu fordern und zu fördern. Zudem konnte durch den solidarischen Zusammenschluss ein breites Autorensprektum zu Wort kommen. Die in dieser Reihe edierten Anthologien fanden neben den weithin unbekannt gebliebenen Einzelveröffentlichungen eine größere Leserschaft. Die Textsammlung „Zu Hause in der Fremde“, in der auch das Manifest „Literatur der Betroffenheit“ erschien, wurde 1981 von deutschen und ausländischen Autoren herausgegeben und thematisiert hauptsächlich Fragen der Kunst und Literatur (Schaffernicht 1981). Die Zusammenarbeit mit deutschen Autoren wurde jedoch von vielen ausländischen Autoren kritisiert. Sie plädierten nämlich auf eine autonome Literatur, die unabhängig vom deutschen Literaturbetrieb, der sie kaum zur Kenntnis nahm, und ohne Eingriffe gestaltet werden sollte.
In diesem Sinne wurde zu Beginn der 80er Jahre der Polynationale Literatur- und Kunstverein „PoLiKunst“ gegründet. Diesem Verein konnten nur in Deutschland lebende, kulturschaffende Ausländer beitreten, die sich selbstbewusst für die Verbreitung ihrer Werke einsetzten. Sie veröffentlichten Jahrbücher und Reihen, veranstalteten Kulturwochen mit Lesungen und Vorträgen in zahlreichen Städten. Dadurch gelang es mehreren ausländischen Autoren, sich in der deutschen Literaturszene zu etablieren und einen enormen Bekanntheitsgrad zu erlangen. Aufgrund von Unstimmigkeiten innerhalb der Autorengruppe wurde zwar der Verein PoLiKunst im Jahre 1987 wieder aufgelöst, doch sie ernteten weiterhin die Früchte ihres Engagements und ihrer Eigeninitiative (Reeg 1988:88-96). Inzwischen erkannten größere Verlage die Popularität ausländischer Autoren und kauften mehrere Bücher auf. Die einst von Kleinverlagen auf den Markt gebrachte „Gastarbeiterliteratur“ wurde nun vom dtv, Rowohlt und vom Fischer Verlag veröffentlicht (Hamm 1988:30).
Schließlich sei hier noch zu erwähnen, dass mit Literaturpreisen und Auszeichnungen, wie dem Adelbert-von-Chamisso-Preis, ausländische Schriftsteller, die in deutscher Sprache schrieben, unterstützt wurden, was natürlich ihre literarische Anerkennung verstärkte.
Im Vergleich zur Literatur italienischer und arabischer Migranten verfolgte die türkische Migrantenliteratur eine andere Entwicklungslinie. Hierbei handelt es sich nicht um einen solidarischen Zusammenschluss von Autoren, die einen kooperativ intendierten Literaturprozess und eine gemeinsame Problembewältigung bezweckten. Vielmehr geht es um die Textproduktion einzelner Autoren. Die meisten türkischen Schriftsteller waren bereits in ihrem Heimatland literarisch tätig und hatten nach der Ausreise nicht das Bedürfnis, sich einer Autorengruppe anzuschließen, um die Migration in ihren Texten zu verarbeiten. Die bekanntesten türkischen Schriftsteller dieses Genres und ihre literarischen Werke sollen nun kurz vorgestellt werden.
Einer der Pioniere türkischer Migrantenliteratur ist Aras Ören, der zwar als erster die spezifischen Gastarbeiterprobleme seiner Landsleute ins öffentliche Bewusstsein trug, selber aber nicht als Gastarbeiter nach Deutschland kam. Ören immigrierte 1969 nach Berlin, weil er mit der Stagnation des kulturellen Lebens in der Türkei unzufrieden war. Seine literarische Tätigkeit begann er bereits mit 18 Jahren in der Türkei mit Gedichten und erweiterte diese 1958 mit prosaischen Werken. Zwei Jahre später veröffentlichte er in Istanbul seinen ersten Gedichtband mit dem Titel „Terkedilmislerin Aksami“ („Abend der Verlassenen“) in türkischer Sprache. Zwischen 1959 und 1969 widmete sich Ören hauptsächlich in Istanbul dem Schauspiel, was durch seinen Militärdienst und mehreren Deutschlandaufenthalten unterbrochen wurde. Nachdem er am internationalen Wettbewerb der Jugendtheater in Erlangen teilnahm, ging er 1962 seiner Profession als Schauspieler an der „Neuen Bühne“ in Frankfurt nach und startete von 1965 bis 1967 mehrere Versuche, eine Theatergruppe für türkische Immigranten in Deutschland zu gründen (Hohoff Ackermann 1999:1-12, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur KLG). Seit 1974 arbeitet Aras Ören als Redakteur und seit 1996 als Leiter in der türkischen Redaktion im Sender Freies Berlin (SFB). Im Rahmen der Tübinger Poetik Dozentur hielt er 1999 drei Vorlesungen zum Thema „Privatexil – ein Programm?“ (http://www.konkursbuch.com/html/poetik.html Stand: 20.09.2007).
Aras Ören war einer der wenigen Autoren, der in seiner Muttersprache schrieb und seine Werke ins Deutsche übersetzen ließ. Er ist zwar als deutscher Schriftsteller anerkannt, die Sprache in seinen Texten ist jedoch türkisch. Sein erster Gedichtband „Disteln für Blumen“, der 1970 in deutscher Übersetzung erschien, fand wenig Beachtung. Drei Jahre später gelang ihm mit seiner Berlin Trilogie („Was will Niyazi in der Naunynstraße“, „Der kurze Traum aus Kagithane“ und „Die Fremde ist auch ein Haus“) der Durchbruch. Der Protagonist Niyazi überwindet nach sieben Jahren Deutschlandaufenthalt seine Ernüchterung und sucht nach Lösungswegen, um die Entfremdung in der deutschen Gesellschaft aufzuheben. In „Bitte nix Polizei“ (1981) kommt Ören von diesen utopischen Imaginationen ab und kritisiert sogar in seinen weiteren Werken, wie „Eine verspätete Abrechnung“ (1988) und „Berlin Savignyplatz“ (1995), den anfänglichen Optimismus der Gastarbeiter. Er beschreibt eine einkehrende Isolation und sucht nach einer vertrauten Welt in der Vergangenheit und in der Zukunft, zwischen Heimat und Fremde. Sein Roman „Granatapfelblüte“ (1998) stellt nun die Reise eines türkischen Dichters von Berlin in die Türkei dar, die mit einer Reise durch die Sprachen und Kulturen vergleichbar ist. Der Ich-Erzähler, der seine Kreativität aus der türkischen Sprache schöpft, erhofft sich dabei eine geistige Neuorientierung, kann sich allerdings von seiner Vergangenheit nicht loslösen (Chiellino 2000:147). Auf der Suche nach der Gegenwart verfolgt Aras Ören auch in seinen Romanen „Sehnsucht nach Hollywood“ (1999) und „Der Haifisch in meinem Kopf“ (2000) gesellschaftliche und persönliche Spuren, die sich aus Bruchstücken der Realität zusammensetzen (http://www.arasoeren.de/?page_id=9 Stand 20.09.2007).
Für sein literarisches Schaffen wurde Ören mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem 1983 mit der Literarischen Ehrengabe der Bayrischen Akademie der Schönen Künste und 1985 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis. Dieser Erfolg machte Aras Ören zum prominentesten und meistgelesenen türkischen Schriftsteller in Deutschland (Hohoff Ackermann 1999:1-12, in: KLG 3/99).
Der 1940 in Izmir geborene Schriftsteller kam mit 18 Jahren nach Deutschland, um sein Chemiestudium in Stuttgart zu absolvieren. Seine Auswanderung fand also statt, noch bevor die Migrationsbewegung von der Türkei nach Deutschland einsetzte. In seinem Essay „Literatur ist Literatur“ behauptet er: „ […]Als jemand, der unter den türkischen Autoren als erster auch Migrationserfahrungen, die eigenen wie die der anderen, zu Papier gebracht hat, sträubt sich in mir etwas gegen diesen Begriff. Ich fühle mich von ihm weder angesprochen noch erfasst. Um es noch deutlicher auszusprechen, ich bin kein Gastarbeiterautor, und meine Texte sind keine Gastarbeiterliteratur. […]“.[7] Pazarkaya führte seine akademische Laufbahn mit dem Studium der Fächer Germanistik und Philosophie fort und promovierte 1972 in Literaturwissenschaft. Im selben Jahr war er als Fachbereichsleiter für Fremdsprachen an der Stuttgarter Volkshochschule tätig. Von 1986 bis 2002 war er Redaktionsleiter beim Westdeutschen Rundfunk in Köln. Von 1980 bis 1982 war er Herausgeber der zweisprachigen deutschtürkischen Zeitschrift „Anadil/Muttersprache“. Im Frühjahr 2000 hatte er die Chamisso-Poetik-Dozentur an der Technischen Universität Dresden inne. Seit 2003 lebt er als freier Schriftsteller in Bergisch-Gladbach (Zetzsche 2003:965-966, in: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Band 2).
Mit seiner literarischen Tätigkeit begann er erst nach seiner Immigration und schreibt seit 1960 Gedichte, Prosa, Theaterstücke, Hör- und Fernsehspiele auf türkisch und deutsch. Im Gegensatz zu Aras Ören entschied sich Pazarkaya für die deutsche Sprache als Mittel seiner Kreativität. Seine ersten Gedichte publizierte Pazarkaya 1965 in einer Zeitung in Stuttgart, worin er den Kulturschock beschreibt, den die türkischen Erstankömmlinge erleben (Hamm 1988:41). Im Band „Heimat in der Fremde“ (1979), der aus drei illustrierten Erzählungen besteht, schildert er die Beziehung zwischen Deutschen und Türken. Das Phänomen der Migration bearbeitet der Autor auch in seinem Gedichtband „Ich möchte Freuden schreiben“ und in seinem Essay „Beobachtungen zum `Deutschland-Türkischen´“, die beide im Jahre 1983 erschienen sind. In seinem Werk „Rosen im Frost“ (1982) legt er eine Studie zur türkischen Kultur dar, wodurch ihm eine wichtige Rolle als Kulturvermittler zukommt. Diese Vermittlungsfunktion kommt auch in seinem Gedichtband „Babylonbus“ (1989) zum Vorschein, in dem Themen wie zwischenmenschliche Beziehungen und Liebe als menschliche Güte verarbeitet werden. Ähnlich wie bei Aras Ören, der in „Granatapfelblüte“ die Reise eines Dichters beschreibt, erzählt Pazarkaya in seinem Roman „Ich und die Rose“ (2002) von der Rückkehr des Protagonisten Orhan in seine Heimat. Als Autor, der sich in beiden Sprachen wohl fühlt, übersetzte er Werke von Brecht, Lessing und Goethe ins Türkische und aus dem Türkischen die Gedichte von Orhan Veli und Nazוm Hikmet, sowie Erzählungen von Aziz Nesin.
Er erhielt mehrere Literaturpreise in der Türkei, unter anderem den „Haldun-Taner-Erzählpreis“, den „Dr. Orhan Asena Preis“ und den „Ismet Küntay Theaterpreis“. 1987 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen, 1989 der Adalbert-von-Chamisso-Preis und 1994 der Kinderbuchpreis des Berliner Senats (Zetzsche 2003:965-966, in: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Band 2).
Emine Sevgi Özdamar ist eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen und zugleich Schauspielerin und Regisseurin türkischer Herkunft. 1946 wurde sie in der ostanatolischen Stadt Malatya geboren und ließ sich erstmals 1965 als Gastarbeiterin in Deutschland nieder. Die Schauspielschule besuchte sie zunächst in West-Berlin und von 1967 bis 1970 in Istanbul. Aufgrund der damaligen türkischen Militärdiktatur kam sie 1976 wieder zurück nach Berlin, arbeitete an ost- und westdeutschen Bühnen als Regieassistentin und Schauspielerin und erlangte in Paris 1978 das Diplom als „Maitre de Théatre“ (Zetzsche 2003:953-955, in: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Band 2). Fortan war Özdamar nicht nur mit Theaterarbeiten beschäftigt, sondern spielte in Filmen wie „Yasemin“ von Hark Bohm und „Happy Birthday Türke“ von Doris Dörrie (Konuk 2001:83). Im Rahmen des Projekts „poet-in-residence“ lehrte die Autorin 2000 an der Universität Essen als Gastprofessorin und gab Einblicke in ihre vielseitigen künstlerischen Werke (Zetzsche 2003:953, in: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Band 2).
Anders als ihre Kollegen Ören und Pazarkaya startete Özdamar ihre literarische Laufbahn knapp 20 Jahre nach ihrer Immigration. 1982 verfasste sie ihr erstes Theaterstück mit dem Titel „Karagöz in Alamania“ („Schwarzauge in Deutschland“), das 1986 am Schauspielhaus Frankfurt uraufgeführt wurde. Karagöz, eine bekannte Figur aus dem türkischen Schattenspiel, wandert mit seinem Esel nach Deutschland und gerät in eine gespaltene Situation. Zum einen kehrt er mit seinem Esel wieder in die Türkei zurück, zum anderen verliert er in Deutschland seine Identität und tauscht seinen Esel gegen ein deutsches Auto. 1990 erschien Özdamar´s Prosaband „Mutterzunge“, der u. a. die Erzählungen „Mutterzunge“ und „Großvaterzunge“ beinhaltet. Darin beschreibt sie die Situation einer türkischen Migrantin, die in Deutschland ihre Muttersprache verliert und versucht, diese Entfremdung durch die Rückkehr zu ihren kulturellen Wurzeln aufzuheben. In ihrem Roman „Das Leben ist eine Karawanserei“ (1992), der mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, greift sie das Thema Migration zwar wieder auf, erzählt jedoch vordergründig das Leben der Ich-Erzählerin, die ihre Kindheit in der Türkei und ihre Jugend in Deutschland verbringt und sich im Konflikt mit der Kultur zwischen Orient und Okzident befindet (Konuk 2001:83-84). Die Protagonistin wird im Roman „Die Brücke vom goldenen Horn“ (1998) als Gastarbeiterin in Berlin gezeigt, die sich gleichzeitig für das Theater interessiert und als Schauspielerin tätig ist. Zudem werden ihre Erfahrungen und Erlebnisse als Reporterin während der 68er Bewegung in der Türkei erzählt. Özdamar gelingt es, das Publikum mit ihrer eigenartigen Erzählart zu faszinieren. Sie denkt auf türkisch, schreibt aber auf deutsch und integriert somit die türkische Sprache in die deutsche
[...]
[1] Oomen-Welke, Ingelore (1994): Brückenschlag. Klett Verlag, Stuttgart. S. 313
[2] Hamm, Horst (1988). Fremdgegangen freigeschrieben. Königshausen und Neumann Verlag, Würzburg S. 29
[3] Hamm, Horst (1988): Fremdgegangen freigeschrieben. Königshausen und Neumann Verlag, Würzburg S. 10
[4] Schaffernicht (1981): Zu Hause in der Fremde. Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude. S. 134/135
[5] Schaffernicht (1981): Zu Hause in der Fremde. Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude. S. 134
[6] Schaffernicht, Christian (1981): Zu Hause in der Fremde. Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude S. 133
[7] AckermannWeinrich (1986): Eine nicht nur deutsche Literatur. Piper Verlag, München. S. 60
Kommentare