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Mehr InfosDiplomarbeit, 2008, 98 Seiten
Diplomarbeit
2,0
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Gang der Untersuchung Lesehinweis
2. Demographischer Wandel
2.1 Erster demographischer Wandel
2.2 Zweiter demographischer Übergang
2.3 Auswirkung des demographischen Wandels
2.4 Herausforderungen für die sozialen Sicherungssysteme
2.4.1 Rentenversicherung
2.4.1.1 Absinken des Rentenniveaus
2.4.1.2 Geburtenrückgang
2.4.1.3 Migration als angedachter Lösungsweg
2.4.2 Krankenversicherung
2.4.2.1 Kostenanstieg im Gesundheitswesen
2.4.2.2 Geriatrisierung des Gesundheitssystems
2.4.3 Pflegeversicherung
2.4.3.1 Steigende Pflegekosten
2.4.3.2 Notstand in der Heimpflege
3. Sozialer Wandel
3.1 Begriffsbestimmung
3.2 Wirtschaftliche Dimension
3.2.1 Erosion der ausreichend entlohnten Normalarbeitsverhältnisse
3.2.2 Hohe Arbeitslosigkeit gefährdet die sozialen Sicherungssysteme
3.2.3 Entwertung durch Separation von Gesellschaft und Arbeitswelt
3.2.4 Negative Folgen beruflicher Individualisierung
3.3 Gesellschaftliche Dimension
3.3.1 Verunsicherung und Überforderung der Gesellschaft
3.3.2 Isolation in der Gesellschaft
3.3.3 Zunahme psychischer Erkrankungen
3.4 Familiäre Dimension
3.4.1 Armutsrisiko durch Familiengründung
3.4.2 Überlastung der Familie durch Flexibilisierung
3.4.3 Verlust der Entlastungsfunktion von Familie
4. Zwischenbilanz
5. Mehrgenerationenwohnen
5.1 Begriffsbestimmung von Mehrgenerationenwohnen
5.2 Wachsende Bedeutung vernetzter Mehrgenerationenbeziehungen
5.2.1 Grenzen der staatlichen Sozialpolitik
5.2.2 Belastung durch isolierte Elternschaft
5.2.3 Soziale Netzwerke als generationenübergreifender Familienersatz
5.3 Faktoren des Entstehens von Mehrgenerationenbeziehungen
5.3.1 Gegenseitige Abhängigkeit als Voraussetzung für Vertrauensaufbau
5.3.2 Humankapital als verwertbares Gut
5.3.3 Ehrenamt als soziales Kapital
5.3.4 Positive Helferrückwirkung bei ehrenamtlichem Engagement
5.3.5 Rückgriff auf bewährte Versorgungsstruktur
5.4 Bedeutung des Nahbereichs für Mehrgenerationen-Beziehungen
5.4.1 Sozialraum als geeigneter Handlungsort
5.4.2 Bedeutung der Nachbarschaft als soziale Ressource
5.4.3 Positive Entwicklung gemeinschaftlicher Wohnformen
5.5 Entstehen von Mehrgenerationenwohnprojekten
5.5.1 Motivation zum Eintritt in Mehrgenerationenwohnprojekte
5.5.2 Chancen des Mehrgenerationenwohnens
5.5.3 Risiken von Mehrgenerationenwohnprojekten
5.6 Ausgestaltung von Mehrgenerationenwohnprojekten
5.6.1 Bauliche Gestaltung und Unterstützungsstrukturen
5.6.2 Bedeutung des Mehrgenerationenwohnens in urbaner Lage
5.6.3 Rechtsformen von Mehrgenerationenwohnprojekten
6. Beispiele aus der Praxis
6.1 „Stadthaus statt Haus“ Aachen
6.2 Hermine-Kölschtzky-Haus Oldenburg
7. Resümee
Literaturverzeichnis
Ehrenworterklärung
Anhang
Fragebogen zum Mehrgenerationenwohnen in Aachen
Fragebogen zum Mehrgenerationenwohnen in Oldenburg
Abb. 1: Erster demographischer Wandel 1
Abb. 2: Belastungsquotient Berufstätiger 1
Abb. 3: Haushalte nach Haushaltstypen in Tsd. 1
Abb. 4: Rangfolge der Unterstützergruppen 1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In den letzten Jahren sind der demographische Wandel und seine negativen Folgen für die Zukunft der Gesellschaft und ihrer sozialen Sicherungssysteme in Deutschland zunehmend thematisiert worden. Seit Jahren sinkt die Geburtenrate in Deutschland auf den mittlerweile weltweit nahezu einmaligen Stand von 1,33 Kindern je Frau[1], bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung der Bevölkerung. Auf dieses Phänomen sowie auf die dadurch drohenden gesellschaftlichen und sozialen Konsequenzen haben Bevölkerungswissenschaftler schon seit Langem hingewiesen. Inzwischen ist unübersehbar geworden, dass Deutschlands Bevölkerungszusammensetzung, wie auch die anderer Industrienationen, in eine bedrohliche Schieflage geraten ist und die sozialen Sicherungssysteme dadurch in absehbarer Zeit in eine große Finanzierungskrise geraten. Dadurch wird in Zukunft die Unterstützung und Betreuung kranker, alter und pflegebedürftiger Menschen schwerer zu realisieren sein, da einem sinkenden Anteil junger Menschen eine steigende Zahl älterer und hochaltriger- und damit oft pflegebedürftiger Menschen gegenüberstehen wird.
Auch andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen, die sich unter dem Oberbegriff des „sozialen Wandels“ zusammenfassen lassen, bestimmen die Überschriften aktueller Studien und Literatur. Diese Veränderungen haben eine globale Dimension und gehen in Deutschland einher mit sinkenden Sozialleistungen und Erwerbs- und Familieneinkünften, zunehmender Arbeitslosigkeit, Kinderarmut und einer allgemein wachsenden Verunsicherung weiter Teile der Bevölkerung. Flexibilisierung, Individualisierung und Separation in der Gesellschaft führen viele Menschen in die Isolation, während die Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche fortschreitet und permanente Hektik den Alltag der Menschen bestimmt. Familiäre Beziehungen, die dem Einzelnen früher Zuwendung und Halt geboten haben, dünnen aus oder zerbrechen, während eine zunehmend empfundene Überforderung verstärkt psychische Erkrankungen hervorruft.
Mittlerweile wird diese Thematik öffentlich kommuniziert und es setzt ein Fragen nach dem richtigen Weg, diesen Phänomenen wirkungsvoll zu begegnen, ein. Als ein möglicher Lösungsansatz ist unter anderem der Aufbau von unterstützenden sozialen Netzwerken im Umfeld von Mehrgenerationenwohnprojekten in den Fokus von Politik und Verwaltung geraten. Diese sollen den Einzelnen entlasten und generationenübergreifend Zuwendung und Schutz bieten sowie die Unterstützung und Pflege im Alter sicherstellen. So hat zum Beispiel die niedersächsische CDU das Mehrgenerationenwohnen in ihr neues Regierungsprogramm für die Jahre 2008 bis 2013 aufgenommen und will diese Wohnform durch gezielte Förderung von Modellprojekten unterstützen (REGIERUNGSPROGRAMM CDU: 70). Auch viele Kommunen bekunden ein großes Interesse an Mehrgenerationenwohnprojekten zur langfristigen Finanzierbarkeit ihrer finanziellen Verbindlichkeiten.
In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit das Mehrgenerationenwohnen ein passender Ansatz ist, um eine mögliche Lösung für die vielfältigen Probleme zu bieten, die der demographische und soziale Wandel auslöst. Ein Überblick über die beiden Bereiche des demographischen und des sozialen Wandels soll zeigen, welche derzeitigen und prognostizierbaren Auswirkungen die Menschen in Deutschland betreffen, wenn keine wesentlichen Änderungen eintreten.
Vor dem Hintergrund der Folgen des Wandels wird erarbeitet, in welcher Form das Mehrgenerationenwohnen einem Lösungsanspruch gerecht werden kann. Wer kann in welcher Form vom Mehrgenerationenwohnen profitieren? Wo liegen die Stärken und wo die Schwächen, bzw. Begrenzungen dieser Wohnform? Ist damit das Mehrgenerationenwohnen ein wirkungsvoller Ansatz, der es lohnt, weiterverfolgt zu werden oder handelt es sich bei dieser Form des auf Gegenseitigkeit ausgelegten Unterstützungsrahmens letztendlich um eine sozialromantische Utopie, die zwar in die Köpfe von Sozialplanern, jedoch nicht den Alltag der Menschen einziehen kann?
In dieser Arbeit wird zunächst auf das Themenfeld des demographischen Wandels eingegangen. Es beschreibt die Veränderung von Bevölkerungsstrukturen und –zahlen durch Geburten, Sterbefälle und Wanderungsbewegungen. Die Auswirkungen des Wandels auf die umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme in Deutschland werden darauf folgend thematisiert. Anschließend wird der Bereich des sozialen Wandels beleuchtet, der Veränderungen im Normen- und Wertesystem einer Gesellschaft beschreibt. Aufgegliedert in die gesellschaftliche, wirtschaftliche und familiäre Dimension werden die Auswirkungen des Wandels für die Menschen in Deutschland aufgezeigt. Eine Zwischenbilanz fasst die Ergebnisse zusammen.
Im Abschnitt ‚Mehrgenerationenwohnen’ wird eine Erläuterung zur Wohnform des Mehrgenerationenwohnens gegeben und auf die Bedeutung der Entwicklung generationenübergreifender Netzwerkbeziehungen für die Gesellschaft eingegangen. Anschließend werden Faktoren zur Entstehung von Mehrgenerationenbeziehungen entwickelt, der Nutzen dieser Beziehungen unter den Bedingungen des demographischen und sozialen Wandels herausgearbeitet und auf das Wohnumfeld des Menschen, als historisch gewachsenem Vernetzungsort bezogen.
Im darauf folgenden Abschnitt werden die Mehrgenerationen-Netzwerkbeziehungen und den Vernetzungsort zum Mehrgenerationenwohnen zusammengefasst. Hierbei wird auf die Motivation der Interessenten für Mehrgenerationenwohnformen eingegangen, auf die Chancen dieser Wohnform mit Blick auf die aufgezeigten Probleme und ihrer Risiken sowie auf Ausgestaltungsmerkmale. Am Beispiel zweier bereits existierender Mehrgenerationenwohnprojekte soll das Thema greifbar gemacht werden. Die Arbeit schließt mit einem Resümee ab.
Da die Themenbereiche des demographischen und insbesondere des sozialen Wandels aktuell in der Öffentlichkeit diskutiert werden und viele Artikel der Tagespresse darauf eingehen, wurde auch im Rahmen der Diplomarbeit auf diese Artikel Bezug genommen und sie in die Arbeit einbezogen.
Lesehinweis
Für allgemeine Personenbezeichnungen wurde in dieser Arbeit aus Gründen der Lesbarkeit in der Regel die männliche Ausdrucksform gewählt. Sie schließt jedoch gleichermaßen die weibliche Form mit ein. Die Leserinnen und Leser werden dafür um Verständnis gebeten.
Der demographische Wandel ist in den letzten Jahren in das Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt. Er beschreibt die Geburten, Sterbefälle und Wanderungsbewegungen von Menschen eines Landes, die zur Veränderung der Größe und Zusammensetzung seiner Bevölkerung führen (ESENWEIN-ROTHE 1982: 1f.). Um die Hintergründe für die wachsende Bedeutung dieses Themas für die verschiedenen Generationen zu erklären ist es notwendig, eine Erläuterung des demographischen Wandels zu geben und seine Folgen, insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme, aufzuzeigen.
Der erste demographische Wandel wird als Modell der Entwicklung von Geborenen- und Sterbezahlen von einem hohen, hin zu einem niedrigen Niveau dargestellt. Dieses Modell wird von Bevölkerungswissenschaftlern in fünf so genannte ‚Transformationsphasen’ aufgeteilt: Die erste beschreibt eine hohe Geburtenrate bei hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit, so dass sich die Bevölkerungszahl eines Landes auf einem etwa gleichbleibend niedrigen Niveau hält. Die zweite Phase zeigt eine sinkende Säuglingssterberate[2] bei noch gleichbleibend hoher Geburtenhäufigkeit, die zu einem schnellen Anwachsen der Bevölkerungszahl führt. In dieser Zeit entsteht dadurch, dass weniger Kinder sterben und damit im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung viele Kinder vorhanden sind, eine so genannte „mortalitätsgeleitete“, also sterbegeleitete Verjüngung der Bevölkerung (MARSCHALCK 1984: 122f., DINKEL 1989: 62).
In der dritten, in der Regel um zwei bis drei Generationen verschobenen Phase, passt die Bevölkerung die Geburtenzahl der gesunkenen Sterbezahl an. Aus der nun wieder sinkende Anzahl an Kindern folgt ein langsam einsetzender ‚fertilitätsgeleiteter’, also geburtsgeleiteter Alterungsprozess in der Gesamtbevölkerung, da die frühere kinderreichere Generation altert und weniger Kinder nachfolgen. Dieser Alterungsprozess beschleunigt sich ab der vierten Phase, wenn die Geburtenrate weiter abnimmt und in der fünften Phase unter das Ersatzniveau der Elterngeneration sinken kann, während gleichzeitig die Lebenserwartung in der Gesamtbevölkerung steigt, weil die Menschen zunehmend älter werden. (ebd.).
Im allgemeinen Schema des ersten demographischen Übergangs ist diese Bevölkerungsentwicklung graphisch dargestellt:
Erster demographischer Wandel
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: ENGELS 2005: 2
Die Graphik zeigt im vereinfachten 5-Phasen-Modell anhand der blauen Linie die Geburten- und anhand der roten Linie die sinkende Sterbeziffer je 1000 Einwohner in Deutschland im Zeitraum von ca. 1800 bis zum Jahr 2050. Im mittleren Bereich der beiden Linien ab ca. 1900 bis ca. 1935 liegt die Phase des Auseinanderdriftens der Geburten- und Sterbeziffern und damit des schnellen Wachstums der Bevölkerung, die anschließend (durch das Absinken und Aufeinanderzubewegen der Linien dargestellt) aufgrund des sinkenden Geburten- und Sterbeverlaufs in einem zunehmenden Alterungsprozess mündet (ENGELS 2005: 8).
Dieser demographische Wandel wurde von Bevölkerungswissenschaftlern als weltweit ähnlich verlaufender Prozess erkannt, der sich in den verschiedenen Regionen der Erde unterschiedlich weit entwickelt hat, aber immer dem selben Muster folgt (BIB 2004: 10-11).
In Deutschland begann sich der demographische Wandel bereits zwischen 1865 und 1900 zu vollziehen. Seit etwa 1865 führte das Sinken der Säuglingssterblichkeit zunächst zu einem Anwachsen der Bevölkerungszahl. Dieser Bevölkerungszuwachs glich sich ab etwa 1900 durch einen Geburtenrückgang von ca. fünf auf etwa zwei Kinder je Frau langsam wieder an (BIB 2004: 9ff., MARSCHALCK 1984: 53).
Die Alterung einer Gesellschaft beginnt also zunächst paradoxerweise mit ihrer relativen Verjüngung. Erst der verstärkte Rückgang der Säuglingssterblichkeit oder eine Erhöhung der Anzahl von Geburten erhöht den Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung und führt so zunächst zur Verjüngung. Diese Kinder rücken langsam in höhere Altersjahrgänge auf und leiten damit durch ihren vergleichsweise hohen Zahlenanteil den Alterungsprozess der Bevölkerung ein, wenn ihnen nicht Jahrgänge gleicher Geburtenhäufigkeit folgen. Da, wie oben bereits erwähnt, demographische Wandlungsprozesse weltweit ähnlich verlaufen und auf diese gesellschaftlichen Verjüngungsprozesse regelmäßig Geburtenrückgänge folgen, verlaufen auch diese Alterungsprozesse weltweit ähnlich (vgl. BIB 2004: 12).
Aufbauend auf das Modell des ersten demographischen Wandels beschreiben die Demographen Dirk van de Kaa (Niederlande) und Ron Lesthaeghe (Belgien) einen so genannten ‚zweiten demographischen Übergang’. Hierbei handelt es sich um eine Beschreibung der Phasen vier bis fünf des demographischen Wandels unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen. Dieser zweite demographische Übergang beschreibt den in den Industriestaaten nach der Zeit des zweiten Weltkriegs beobachteten fertilitätsgeleiteten Bevölkerungsschwund. Demnach markieren zwei Phänomene diesen zweiten Übergang, der ihrer Ansicht nach auf einen geänderten Wertekonsens zurückzuführen ist (vgl. KAA, VAN DE 1987: 5).
Der Lebensstandard hängt in den Industriestaaten entscheidend von der Ausbildung und den beruflich eingesetzten Fähigkeiten des Einzelnen ab. Damit ergeben sich insbesondere für Frauen, die im Schnitt über gute Ausbildungen verfügen, durch eine Ehe und Elternschaft hohe Opportunitätskosten, wie entgangenes Einkommen und eine eigene finanzielle Absicherung. Der finanzielle Nutzen einer gemeinsamen Haushaltsführung ist dagegen nicht nur in einer Ehe, in der tendenziell eher Kinder geboren werden, sondern auch in zeitlich befristeten Beziehungsformen wirksam (vgl. KAA, VAN DE 1987: 6).
Hohen finanziellen Aufwendungen für mehrere Kinder steht ein fehlender finanzieller Nutzen der Absicherung von Altersrisiken durch eigene Kinder gegenüber, denn sie tragen nicht, wie in früheren Zeiten, zur finanziellen Altersversorgung der eigenen Eltern bei. Wird eine emotionale Befriedigung durch eine Elternschaft gewünscht, kann diese auch mit einem oder höchstens zwei Kindern erreicht werden (ebd.).
Aus diesen genannten Gründe entscheiden sich Paare oft gegen eine Elternschaft oder für nur ein oder zwei Kinder. Dies führt zu einem Absinken der Geburtenrate und damit zur relativen Überalterung der Bevölkerung.
Während dieses demographischen Wandels sinkt in Deutschland die Zahl der Lebendgeborenen kontinuierlich auf den mittlerweile weltweit nahezu einmaligen Tiefstand von derzeit 1,33 Kindern je Frau[3] (STATISTISCHES BUNDESAMT [2]). Dies bedeutet für die Zukunft, dass auch die nachfolgenden Generationen zwangsweise kleiner ausfallen, da die hierfür notwendige Müttergeneration bereits ausgefallen ist (STATISTISCHES BUNDESAMT 2007[4]: 10). Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung der Menschen aufgrund des medizinischen Fortschritts beständig weiter an (BIB 2004: 9, MARSCHALCK 1984: 105ff.). Nach Hochrechnungen des Statistischen Bundesamtes wird prognostiziert, dass es dadurch im Jahr 2050 doppelt so viele 60-Jährige, wie Neugeborene geben wird. Die Zahl der hochbetagten Älteren ab 80 Jahren wird sich von heute knapp 4 Millionen auf etwa 10 Millionen im Jahr 2050 erhöhen (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006[2], STATISTISCHES BUNDESAMT 2007[4]: 12f.).
Es ist damit eine Altersverschiebung in der Bevölkerung hin zu den Älteren bis Hochaltrigen zu beobachten, während der Anteil an Kindern und Jugendlichen kontinuierlich abnimmt. Neue unterstützende Ansätze zur Familienplanung werden mit der Zahlung eines 12- bzw. 14-monatigen Elterngeldes seit dem 1.01.2007 sowie im geplanten Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen umgesetzt (BMFSFJ 2007[1]). Im Jahr 2007 hat sich die Geburtenrate erhöht. Ob diese Maßnahmen allerdings ursächlich für die Geburtenerhöhung waren und ob sie langfristig Erfolg haben, wird sich erst in der Zukunft zeigen (STATISTISCHES BUNDESAMT 2007[5]).
Die Abnahme der Bevölkerung hat zur Zeit noch keine negativen finanziellen Auswirkungen, da sich die geburtenstarken Jahrgänge noch zum Großteil gut ausgebildet im arbeitsfähigen Alter befinden und eine steigende wirtschaftliche Belastung bislang durch einen sinkenden finanziellen Einsatz für Kinder und Jugendliche kompensiert wird. So ist aus der angefügten Graphik zu erkennen, dass der Belastungsquotient[4] der im Wesentlichen berufstätigen Altersgruppe der 20 bis 59-Jährigen von 1900 als der Quotient 53 Prozent betrug, bis 2005 sogar auf 45 Prozent gesunken ist. Auch die Prognosen für die Folgejahre bis 2015 gehen von einem weiteren Absinken des Belastungsquotienten auf 44 Prozent aus, bei einer Verschiebung des finanziellen Einsatzes, weg von den Kindern und Jugendlichen, hin zu den Älteren (ENGELS 2005: 8).
Eine Tabelle des Vergleichs der Belastungsquotienten der im Wesentlichen Berufstätigen zu den nichtberufstätigen Altersstufen im Zeitablauf macht dies deutlich:
Belastungsquotient Berufstätiger
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Engels 2005: 8
Aus dieser Graphik wird der Belastungsquotient der Berufstätigen für die Jahrgänge zwischen 1990 und 2015 angezeigt. Demnach wurden um 1900 46 Prozent der wirtschaftlichen Leistungskraft der Erwerbstätigen für die 0 bis 19-Jährigen und lediglich 7 Prozent für die ab 60-Jährigen aufgewendet. Bis zum Jahr 2015 wird sich der prognostizierte Anteil für die junge Generation auf 16 Prozent und für die ältere Generation auf 28 Prozent verschoben haben (ENGELS 2005: 8).
Wenn jedoch zwischen 2010 und 2030 die Altersgruppe der geburtenstarken Jahrgänge ins rentenfähige Alter kommt, wird der Belastungsquotient der dann Erwerbstätigen sich nicht mehr in diesem Rahmen bewegen, sondern in dieser Zeit stark ansteigen und im Jahr 2034 bei etwa 70 Prozent liegen (FUCHS/SÖHNLEIN 2006: 26).
Dieser fertilitätsgeleitete zweite demographische Übergang, der in Deutschland nach einem vorübergehenden Geburtenhoch seit den 1970er Jahren einen kontinuierlich sinkenden Geburtenverlauf zeichnet, ist wesentlich für die derzeitige Diskussion um die Notwendigkeit der Veränderung sozialer Strukturen, zum Ausgleich der finanziellen und sozialen Belastungen.
Verläuft diese Bevölkerungsentwicklung weltweit auch ähnlich, ergibt sich doch in Deutschland, wie in einigen anderen Ländern, eine besondere Situation aus der Koppelung der sozialen Sicherungssysteme an durch die demographische Entwicklung beeinflusste Parameter[5]. Die seit Jahren kontinuierlich sinkenden Geburtenzahlen in Deutschland gefährden das auf einer beständigen Bevölkerungsentwicklung fußende soziale Sicherungssystem von Rente, Krankenversicherung und Pflegeversicherung (vgl. BIRG 2005: 110f.). Gut ein Drittel des Bruttoeinkommens betragen die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam getragenen Lohnabzüge für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zur Zeit. Diese Kosten müssten mit Blick auf den demographischen Wandel bei gleichbleibendem Umlagemodus und Versorgungsstand bis 2050 verdoppelt werden (OPASCHOWSKI 2004: 100).
Als lohnarbeitszentriertes soziales Sicherungssystem setzt das deutsche Rentensystem auf den Erlös aus der Arbeitskraft abhängig Beschäftigter. Bei der Einführung der dynamischen Rente 1957 war der angenommene ‚Normalfall’, der der Berechnung von Rentenansprüchen zugrunde lag, das ‚Normalarbeitsverhältnis’ als Haupteinnahmequelle nahezu der gesamten Bevölkerung in Deutschland. Dieses Normalarbeitsverhältnis bedeutet hier das „vollzeitige, kontinuierlich und dauerhaft ausgeübte sowie sozial- und arbeitsrechtlich erfaßte [sic] Beschäftigungsverhältnis“ (BLESES/VOBRUBA 2000: 6). Nur dieses Arbeitsverhältnis berechtigt seither den Leistungserbringer und im Regelfall seine Angehörigen zu späteren ausreichenden Leistungsansprüchen, unabhängig vom individuellen finanziellen Bedürfnis. Alle anderen Personen im rentenfähigen Alter waren und sind von diesem Leistungssystem ganz oder teilweise ausgeschlossen und erst bei überprüfter Bedürftigkeit nach dem Verbrauch sämtlicher über ein geschütztes Vermögen hinaus liegenden Werte und nach der Überprüfung der Einkommenslage ihrer Lebenspartner und Kinder[6] auf eine Altersgrundsicherung auf Sozialhilfeniveau[7] verwiesen. Dies traf bislang insbesondere auf Mütter und Alleinerziehende zu, die aufgrund ihrer Erziehungsleistung nicht in ausreichendem Maße am Erwerbsleben teilnehmen konnten (vgl. BIRG 2005: 120ff.).
In Zukunft wird der Anteil an Grundsicherungs-Empfängern voraussichtlich zunehmen, denn der angenommene ‚Normalfall’, der dem Rentensystem zugrunde liegt, ist ein „politisches Konstrukt, das in Rechtsform gegossen wurde“ (vgl. BLESES/VOBRUBA 2000: 4). Es orientiert sich nicht mehr an der heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität. Die Verhältnisse, unter denen 1957 die Rente eingeführt wurde, änderten sich bereits Mitte der 70er Jahre. Wirtschaftliche Stagnation, anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die Ausweitung von (Teilzeit-) Beschäftigungen im Niedriglohn- und Prekärlohnbereich[8], die drastisch zugenommen haben und die Erosion der ‚intakten Normalfamilien’ mit im Familienverband lebendem männlichen Familienernährer, der für Familientätigkeiten zuständigen Ehefrau und ihren Kindern lösten die Verhältnisse seit Einführung der dynamischen Rente ab (STATISTISCHES BUNDESAMT 2004, BLESES/VOBRUBA 2000: 26ff.).
Dies führt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu einem weiteren Ausschluss der Schwächeren in der Gesellschaft, die es erst gar nicht schaffen, sich durch langfristige Beschäftigungsverhältnisse mit ausreichender Entlohnung (Grund-) Versorgungsansprüche aus diesem Rentenversicherungskonstrukt zu erwirtschaften. Von den negativen Folgen dieses Wandels sind insbesondere Frauen betroffen (HAUER 2004: 1477). Hinzu kommen die Auswirkungen der bereits vorgenommenen Rentenkürzungen, die linear zum erzielten Erwerbseinkommen vorgenommen wurden, und so bereits heute zu deutlich niedrigeren Renten von ehemaligen Geringverdienern führen. Für diese wachsende Zahl an Hilfebedürftigen wird es wichtig, sich alternative Selbsthilfe- und Unterstützungsformen zu sichern, die dem abzusehenden Trend zur zukünftigen Altersarmut entgegenwirken (HANS-BÖCKLER-STIFTUNG 2007, BLESES/VOBRUBA 2000: 26ff.).
Bereits Wilfrid Schreiber, auf dessen Rentenentwurf die Einführung der ‚dynamischen Rente’ 1957 zurückging, hatte ein Absinken der Gesamtbevölkerung und eine Steigerung des Lebensalters durch den medizinischen Fortschritt erkannt und eine Anpassung der Renten auf diese Entwicklung in seinen Entwurf einbezogen (SCHREIBER 1955: 31).[9] In seinem generationenbasierten Konzept forderte er daher unter anderem, gleichzeitig mit der Altersrente eine Kindheits- und Jugendrente einzuführen, die ab dem 35. Lebensjahr vom Kind als Leistungsempfänger gestaffelt nach eigenem Familienstand und Kinderzahl zurückzuzahlen sei. Hiermit hoffte er, fortlaufend Anreize zur Familiengründung zu schaffen, um dem demographischen Prozess der Bevölkerungsschrumpfung entgegenzuwirken und so das Sozialsystem in dieser Form als Dreigenerationen-Modell langfristig zu erhalten (vgl. SCHREIBER 1955: 35f.).
Dieser Argumentation folgte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer bei der Einführung des neuen Rentensystems nicht. „Kinder“, so seine irrige Annahme, „kriegen die Leute immer“ (BORCHERT 2005: 40, SCHMID 2000). Hier sah er keinen Handlungsbedarf . Als Ende der 1970er Jahre Demographen vor den Folgen des Geburtendefizits für die sozialen Sicherungssysteme warnten, erklärte Albrecht Müller, Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt, dass die Rentenversicherung aufgrund des demographischen Wandels in etwa 20 Jahren umfinanziert werden müsse. Zum Gegensteuern zur demographischen Entwicklung sah jedoch auch er zu seiner Zeit keinen Handlungsbedarf (HÖHN 2007: 81).
Ein kontinuierlich steigender Bundeszuschuss soll seither die Finanzierbarkeit der Renten erhalten[10] und durch Rentenbeitragsstabilität die Erhöhung der Lohnnebenkosten dämpfen. Dieser Zuschuss aus Steuermitteln beträgt als mittlerweile größter Einzelposten im Gesamthaushalt des Bundes derzeit bereits 78,39 Mrd. Euro (BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES 2006, SIEMS 2006). Als ‚Lohnersatzleistung’, wie sie von Konrad Adenauer gedacht war, wird der umlagefinanzierten Rente daher vor dem Hintergrund der demographischen Alterung nur noch eine begrenzte Lebensdauer attestiert. An ihre Stelle soll in Zukunft wieder, wie vor 1957, eine Grundrente treten, die durch private Vorsorgeleistungen aufzustocken ist (STRENGMANN-KUHN 2004: 2).
Die Probleme der Rentenfinanzierung werden damit nicht aktuell gelöst, sondern belasten zukünftige Generationen. Mit der Begründung, dass die künftige Rentnergeneration durch den weitgehenden Verzicht auf Kinder Vermögen für die eigene Altersvorsorge bilden könne, wird der heutigen Arbeitnehmerschaft zusätzlich zur Versorgung der jetzigen Rentnergeneration die Eigenvorsorge für ihr Alter zugewiesen und die finanziellen Belastungen derjenigen ignoriert, die eigene Kinder großziehen (vgl. OPASCHOWSKI 2004: 164).
Auch eine Erhöhung der Einwanderungszahl, wie sie zum Erhalt des deutschen Rentensystems in seiner bisherigen Form vorgeschlagen wurde, kann die Erosion dieses Systems nicht stoppen. Nach Berechnungen der Vereinten Nationen bedürfte es einer jährlichen Zuwanderungsrate von 3,4 Millionen Einwanderern, um den Altersquotienten zumindest auf dem Niveau des Jahres 1995 zu stabilisieren. Diese enorm hohe Zahl an zugewanderten Arbeitnehmern müssten in das deutsche Gesellschafts- und Leistungssystem integriert und im arbeitsfähigen Alter in den Arbeitsmarkt in ausreichend entlohnte ‚Normalarbeitsverhältnisse’ aufgenommen werden, um überhaupt Rentenbeiträge leisten zu können. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt besteht jedoch kein genereller Mangel, sondern ein Überhang an potenziellen Arbeitnehmern (SINN 2005: 79ff.).
Gut ausgebildete Fachkräfte mit Migrationshintergrund, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt grundsätzlich gefragt sind, bleiben nicht selbstverständlich in Deutschland, sondern wandern zum Teil wieder in ihre Heimatländer aus. So ziehen wegen der positiven wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen vermehrt gut ausgebildete Deutsch-Türken in die wirtschaftlich erstarkenden Metropolen des türkischen Westens. Dieser Trend könnte sich bei ausländischen Fachkräften verstärken, wenn sich aufgrund des demographischen Wandels in Deutschland die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse verschlechtern (THUMANN 2006).
Nicht nur ausländische Fachkräfte, sondern zunehmend auch junge deutsche Fach- und Spitzenkräfte verlassen Deutschland, während ausländische Spitzenkräfte Deutschland meiden. So hat nach Berechnungen des statistischen Bundesamtes im Jahr 2005 mit 145.000 Auswanderern die höchste Zahl an zumeist jungen Fach- und Spitzenkräften seit 1950 das Land verlassen. Dabei haben Wanderungsbewegungen nach Aussage des Migrationsforschers Klaus Bade ihre eigene Dynamik. Wer als Auswanderer den Daheimgebliebenen positive Rückmeldung gebe, ermuntere weitere zu folgen. Waren es in den früheren großen Emigrationswellen zwischen Mitte des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts schlecht ausgebildete Angehörige der Unterschicht, die eine wachsende Gesellschaft mit hoher Geburtenrate verließen, sind es heute junge, gebildete und hoch motivierte Fachkräfte, die ein Land verlassen, das einen nahezu beispiellosen Tiefstand an Geburten zu verzeichnen hat. Dabei sind es nicht so sehr die Verheißungen des Auslands, die zur Auswanderung animieren, sondern die schlechten Bedingungen im Inland (STATISTISCHES BUNDESAMT 2007[3], THISSEN 2006, MÜLLER 2006).
Dies hat dramatische Folgen für die Wirtschaft, den Staat und die Gesellschaft. Langzeitprognosen zur Berechnung von Wirtschafts- und Sozialleistungen gehen bislang von Zuwanderungssalden von jährlich 200.000 Menschen aus, dem Durchschnitt der Jahre von 1950 bis 2000. Seit 2001 geht die Zuwanderungsrate jedoch kontinuierlich zurück, während die Fortzüge zunehmen. 2005 lag das Nettozuwanderungssaldo bei Ausländern daher nur noch bei 75.000[11]. Zählt man die Wanderungssalden von Ausländern und Deutschen insgesamt, so ergibt sich nur noch ein Gesamtwanderungs-Überschuss von 23.000 Personen[12]. Damit sind alle Langfristprognosen zur Rentenberechnung hinfällig. Deutschland ist nicht mehr nur Einwanderungs- sondern mittlerweile auch wieder Auswanderungsland geworden (STATISTISCHES BUNDESAMT 2007[1], MÜLLER 2006).
Der soziale und medizinische Fortschritt hat dazu geführt, dass auch chronisch Kranke und eine wachsende Zahl von Alterskranken, die es noch vor 100 Jahren nur vereinzelt gab, unter uns leben. Diese Entwicklung birgt finanzielle Belastungen für die ebenso wie die Rente auf einem Umlagesystem beruhenden Krankenkassen, denn gerade in den letzten Lebensjahren steigt der Bedarf an medizinischer Betreuung infolge degenerativer Prozesse stark an (DÖRNER 2004: 2).
Für das Jahr 2004 hat das Forschungsinstitut Prognos in Deutschland Ausgaben im Gesundheitswesen in Höhe von 234 Mrd. Euro ermittelt. Dies entspricht bereits jetzt 10,6 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes (BERKERMANN ET AL. 2007: 5). Bis zum Jahr 2030 prognostiziert das Forschungsinstitut in diesem Bereich ein überdurchschnittliches Wachstum von 2,9 Prozent pro Jahr. Die Gruppe der über 65-Jährigen wird im Beobachtungszeitraum bis 2030 bei einer geschätzten Einwohnerzahl von 81,1 Mio. um 38 Prozent auf 21,8 Mio. zunehmen. Besonders deutlich fällt hierunter die Zunahme über 80-Jähriger aus, die mit den geburtenstarken Jahrgängen der 50er und 60er Jahre ab ca. 2030 einen noch größeren Anteil der insgesamt sinkenden Einwohnerzahl Deutschlands ausmachen. Chronische alterstypische Erkrankungen, wie etwa die Altersdiabetes, deren Ansteigen um etwa drei Millionen Erkrankte prognostiziert wird, werden zu einem weiteren Anstieg der Krankenversicherungskosten führen (BERKERMANN ET AL. 2007: 7).
20 Prozent der über 65-Jährigen leiden an einer dauerhaften Erkrankung oder Behinderung. Auch wächst mit dem Alter das Risiko der ‚Multimorbidität’, des Zusammentreffens mehrerer Krankheiten, und damit das Risiko der körperlichen Einschränkung. Zwar gelingt es der Medizin vermehrt, lebensbedrohliche Krankheiten in ältere Lebensabschnitte abzudrängen, daraus ergibt sich jedoch eine „Geriatrisierung des Systems“ (WINTER 2006: 4). So sind 40 Prozent der Krankenhausbetten mit älteren Patienten belegt und fast 50 Prozent der ambulanten Arztkontakte entstehen durch die Gruppe der über 60-Jährigen (WINTER 2006: 3 f). Auch Innovationen im Gesundheitswesen, die zu neuen Behandlungsmöglichkeiten von vormals unbehandelbaren Erkrankungen, oder Auffälligkeiten führen, steigern die Kosten im Gesundheitswesen (BERKERMANN ET AL. 2007: 7).
Die Krankenkassen gelangen daher durch die demographische Verschiebung der Altersstruktur an ihre Kapazitätsgrenzen und werden in Zukunft den bisherigen Qualitätsstandard nicht mehr halten können. Bereits jetzt kommt es zunehmend zu einer Individualisierung der Krankheitsrisiken durch Zusatzversicherungen und Leistungsausgrenzungen (vgl. DÖRING/DUDENHÖFFER/HERDT 2005: 98.). Auch der für 2009 geplanten Gesundheitsfonds, der das bestehende Krankenversicherungssystem ablösen soll, wird nach Aussage des DAK-Vorsitzenden Herbert Rebscher zu einem Rückgang der Qualität der Patientenversorgung führen, der durch private Zusatzleistungen auszugleichen sein wird (vgl. STERN 2008).
Viele soziale Aufgaben, die bislang im Familien- oder Nachbarschaftsverband übernommen wurden, delegierte die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten an hierfür eingerichtete Institutionen der Wohlfahrtspflege, wie Sozialstationen, Pflegedienste, Alten- und Pflegeheime sowie Hospize. Diese Professionalisierung der Pflege führt zu finanziellen Belastungen, die bis dahin für Bedürftige durch kommunale Steuermittel erbracht wurden. 1995 übernahm die neu eingeführte umlagefinanzierte Pflegeversicherung diese Kosten (vgl. EISENBART 2000: 46f.). Mit Blick auf den demographischen Wandel, der zu einer Alterung der Gesellschaft und zur Zunahme der Anzahl Hochaltriger führt, sind die Mittel zur Aufrechterhaltung dieser Institutionen langfristig jedoch nicht mehr gesichert, denn das Risiko, pflegebedürftig zu werden steigt mit dem Alter exponentiell an (KREMER-PREISS/STOLARZ 2003, 6).
Während das Pflegebedürftigkeits-Risiko bei den 60 bis 80-Jährigen bei 3 Prozent liegt, erhöht es sich bei den über 80-Jährigen auf 25 Prozent. Mit der durch die steigende Lebenserwartung zunehmenden Zahl an Hochaltrigen wird daher in Zukunft auch die Zahl der Pflegebedürftigen ansteigen. Insbesondere die Anzahl an Demenzerkrankungen, die bereits heute ca. eine Millionen Menschen betrifft, wird in den nächsten Jahren altersbedingt steigen und mit ihr die entstehenden Pflegekosten und die notwendige Zahl an Pflegekräften (KREMER-PREISS/STOLARZ 2003, 6; JANSEN 2005: 507). Die Betreuung und medizinische Versorgung Demenzerkrankter ist besonders kostenintensiv. So berechnete das Robert-Koch-Institut 2004 für altersdemente Patienten pro Person und Jahr durchschnittliche Kosten in Höhe von 43.767 Euro, die zu 67 Prozent auf die Familien, zu 29,6 Prozent auf die Pflegeversicherung und zu 2,5 Prozent auf die Krankenkassen entfallen (E-BALANCE 2007). Dabei berechtigt nicht die Demenz als solche zu Leistungen der Pflegeversicherung, sondern nur die dabei in der Regel anfallende notwendige Unterstützung bei der Grundpflege zur Körperhygiene, Nahrungsaufnahme, Mobilität oder der hauswirtschaftlichen Versorgung[13] (SOVD 2007).
Zum Jahresende 2005 waren in Deutschland rund 2,13 Mio. Menschen pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes. Hinzu kommt noch einmal fast die doppelte Anzahl derjenigen, die eine hauswirtschaftliche Unterstützung benötigen, um ihren Alltag bewältigen zu können (SOVD 2007). Noch tragen Familien die Hauptlast bei der Versorgung pflege- und unterstützungsbedürftiger Angehöriger. Im Zuge des demographischen Wandels ändern sich die Familienzusammensetzungen und helfende und pflegende Angehörige werden aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung der Pflegebedürftigen selber zunehmend älter und gesundheitlich beeinträchtigt sein. Hier wird die Pflegeversicherung in Zukunft als Ausfallbürge eintreten müssen. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die bisherigen häuslichen Pflege- und Unterstützungspersonen - in der überwiegenden Mehrzahl die Töchter und Schwiegertöchter - vermehrt einer eigenen Berufstätigkeit nachgehen und daher anfallende Hilfe- und Pflegeleistungen nicht mehr selber erbringen können (vgl. BMFSFJ 2002: 44, 217; WINTER 2006: 4, DÖRNER 2004: 2f.).
Durch eine geringere Kinderzahl je Familie und das höhere Lebensalter, das im Schnitt erreicht wird, steigt die Anzahl an hilfe- und pflegebedürftigen Angehörigen je Person. Kamen früher auf einen Bedürftigen mehrere in unmittelbarer Nähe wohnende Angehörige, die sich seiner Unterstützung und Pflege annahmen, so hat sich heute die Situation grundlegend geändert. Da viele Menschen in Deutschland keine- oder nur wenige Kinder bekommen, verteilt sich die Last der Angehörigenfürsorge zukünftig auf eine kleinere Zahl von Personen. Zu dieser Unterstützung sind zudem immer weniger Angehörige überhaupt in der Lage, da die Familien aufgrund der geforderten beruflichen Mobilität oft weit voneinander entfernt wohnen (vgl. BMFSFJ 2002: 217, HONDRICH 2001: 100f.).
Bereits jetzt darf die menschliche Zuwendung aufgrund von Personaleinsparungen im sozialen und pflegerischen Bereich immer weniger Zeit in Anspruch nehmen. Dies wird sich in Zukunft noch verschärfen, da die Pflegeversicherung bereits unter den jetzigen Altersverhältnissen seit 1999, vier Jahre nach ihrer Einführung, mehr Geld ausgibt, als sie einnimmt. Von 1999 bis 2006 ist allein die Gruppe der 80 bis 85-Jährigen Leistungsempfänger um 22 Prozent angestiegen ist. Daher wurde bereits vor einigen Jahren eine dringend notwendige Reform der Pflegeversicherung angekündigt, die im Verlauf des Jahres 2008 in Angriff genommen werden soll (GKV NEWSLETTER 2007, SOVD 2007, WINTER 2006: 4).
Aufgrund der Überforderung unterstützender und pflegender Angehöriger gewinnt der Heimsektor für Pflegebedürftige bereits jetzt eine immer höhere Bedeutung. So sind von 1998 bis 2006 alleine mehr als 1000 Pflegeheime mit Zulassung nach SGB XI entstanden und seither kommen jährlich ca. 160 hinzu. Berechnungen gehen von einem weiter steigenden Bedarf von etwa 10.000 Heimplätzen pro Jahr aus, so dass die Zahl der Heimbewohner bis 2020 um mehr als die Hälfte zunehmen wird (vgl. BMFSFJ 2002: 115).
Die Zunahme demenzieller Erkrankungen, die mit einem großen Fürsorgeaufwand verbunden sind, stellt die Pflegeheime vor große Herausforderungen. So gelten 52 Prozent der Heimbewohner als weitgehend desorientiert, mit Auffälligkeiten, wie motorischer Unruhe, depressiven Stimmungslagen, oder Angstzuständen. 96 Prozent sind auf Unterstützung bei der Körperpflege angewiesen und nur 20 Prozent sind noch in der Lage, das Heim selbständig zu verlassen und wieder aufzusuchen. Der Versorgungsaufwand dieser demenziell Erkrankten ist daher immens (vgl. BMFSFJ 2002: 115, DÖRNER 2004: 3, OPASCHOWSKI 2004: 100).
Auch das ursprüngliche Strukturprinzip der Durchmischung der Heimbewohnerschaft mit leistungsfähigeren und leistungsschwächeren Bewohnern, die einander unterstützen könnten, hat sich geändert. Heime werden immer später aufgesucht, und nur dann, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt[14]. Dadurch kommt es in den Pflegeheimen zu eine Konzentration dieser Schwersthilfebedürftigen (DÖRNER 2004: 3, OPASCHOWSKI 2004: 100).
[...]
[1] Im Jahr 2007 hat sich die Geburtenrate in Deutschland stabilisiert. Dies wird mit der Einführung des Elterngeldes Anfang 2007 in Verbindung gebracht. Ob diese Stabilisierung allerdings anhält, wird sich in Zukunft zeigen (vgl. BMFSFJ 2007).
[2] Die Gründe hierfür liegen in einem medizinischen Fortschritt, der Erkenntnis über die Wichtigkeit von Hygienemaßnahmen in der Säuglingspflege und der allgemein besseren Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und gesunden Wohnraumbedingungen.
[3] Zur Reproduktion der Bevölkerung wäre eine Rate von etwa 2,1 Kindern je Frau im gebärfähigen Alter notwendig.
[4] Der Belastungsquotient zeigt, in welcher Höhe die noch nicht, bzw. nicht mehr Berufstätigen durch die wirtschaftliche Leistungskraft der Erwerbstätigen mitgetragen werden müssen. Er errechnet sich aus der Summe aus Jungend- plus Altenquotient und gibt die Belastung der Erwerbstätigen durch den zu versorgenden Bevölkerungsanteil wieder (Fuchs/Söhnlein 2006: 26).
[5] Bei diesem Umlagesystem, das auch Bismarck-Modell genannt wird, werden Beiträge aus dem Lohneinkommen im Sinn einer Versicherung erhoben. Den Gegensatz hierzu bildet das Beveridge-Modell, das eine Grundsicherung aus Steuermitteln vorsieht (vgl. DÖRING, DUDENHÖFFER, HERDT 2005: 6f).
[6] §43 (2) SGB XII, wenn ihr vermutetes Jahreseinkommen über 100.000 € liegt
[7] Dieser Betrag belauft sich auf durchschnittlich 347 € zuzüglich als angemessen anerkannter Warmmiete vgl. §§ 41 und 28 ff. SGB XII.
[8] Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung geht bei seiner Definition des Niedriglohns „von den Abweichungen vom durchschnittlichen Bruttoverdienst aus. Danach gelten Löhne und Gehälter, die lediglich zwischen 50 und 75 Prozent des Durchschnitts betragen, als Prekärlöhne. Jeder Lohn, der nicht einmal die Hälfte des Durchschnittsbruttolohns erreicht, ist ein Armutslohn. Armuts- und Prekärlöhne zusammen bilden den Bereich der Niedriglöhne“ (HAUER 2004: 1476).
[9] diesen Zeitraum verortete er zwischen 1965 und 1980 (SCHREIBER 1955: 18, 26)
[10] Eine Rentenkürzung wurde durch die Einführung einer Schutzklausel im SGB VI, §68a vorerst ausgeschlossen.
[11] Hier sank der Wanderungsüberschuss um 22% gegenüber dem Vorjahr.
[12] Dieser Wanderungsüberschuss sank um 71% gegenüber dem Vorjahr.
[13] §14 SGB XI 1) Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.
[14] Der Altersdurchschnitt der Heimbewohnerschaft liegt bei 82,7 Jahren (BMFSFJ 2002: 115)
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