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Mehr InfosDiplomarbeit, 1991, 167 Seiten
Diplomarbeit
Alice-Salomon Hochschule Berlin (Sozialarbeit / Sozialpädagogik)
2,0
Einleitung
Historischer Abriss der Heimerziehung
Mittelalter
13. bis 16. Jahrhundert
17. und 18. Jahrhundert
Der Waisenhausstreit (ca. 1770 - 1820)
Entwicklung der privatorganisierten Anstaltserziehung im 19. Jahrhundert
Entwicklung der öffentlichen Jugendfürsorge im 19. Jahrhundert
Reformbestrebungen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Weimarer Republik
Die Heimerziehung im 3. Reich
Situation nach dem 2. Weltkrieg
Die Entwicklung seit 1966
Reformperspektiven
Expertengespräche mit Mitarbeitern der Familien- und Heimpflege des Jugendamtes
Expertengesprächsauswertung
Kriterienkatalog der Experten
Konkretes Beispiel der Gesprächsauswertung
Evaluationsvorschlag für gute Heimerziehung
Untersuchungsdesign
Das Untersuchungsdesign gliedert sich in folgenden Evaluationsetappen
Zusammenfassende Evaluation (Auswertung)
Heimbeschreibung der Heilpädagogischen Schüler- und Lehrlingsheime Ulmenhof und Birkenhof
Heimbeschreibung des St. Josef Kinder- und Jugendheim
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Anhang
A) Interview Nr. 2
B) „Vom Großheim zur Wohngruppe“
C) Heimbericht 1970
Erklärung
Unser Vorhaben ist ein erster Versuch. Mit dieser Arbeit legen wir eine Vorstudie über das Thema vor:
Die Qualität der Heimerziehung in Berlin - Begründung und Entwurf eines Evaluationsverfahrens von stationären Erziehungshilfen.
"Bisher gibt es nur wenige Studien über Kriterien guter Heimerziehung."[1]
Darüber hinaus gibt es eine große Abwehr im Berufsfeld und möglicherweise in der Pädagogik überhaupt, sich mit der Frage auseinanderzusetzen: „Was ist gute Heimerziehung?"[2]
Dabei ist es außerordentlich wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, was gute Heimerziehung ist und wie Kinder und Jugendliche untergebracht werden.
Die Heimerziehung steht in der Öffentlichkeit unter starkem Beschuss. Und es wird insbesondere durch Träger ambulanter Dienste, wie z. B. Kindertagesstätten, Jugendfreizeitheime, die Meinung vertreten, Heimerziehung sei das viele Geld überhaupt nicht wert. Ein zentraler Kritikpunkt scheinen überhaupt die Kosten zu sein. Ein Platz im Heim kostet pro Tag etwa 150,- DM bis 250,- DM [Umgerechnet ca. 75,- € bis 125,- €][3]. (Es kommt auf den Pflegesatz an.) Diese Kosten liegen weit über denen für ambulante Dienste.
Darum wird gefragt, ob nicht präventive Hilfen in der Pädagogik einer Heimunterbringung vorzuziehen seien.
Eine andere Kritikergruppe sind die „Nutzer" (Eltern der Heimbewohner und frühere Heimbewohner). Diese „Nutzer" stehen häufig im Widerstand mit den Heimen. Sie haben oft das Gefühl, dass bei einer Herausnahme des Kindes/Jugendlichen der Erziehungsauftrag an das Heim delegiert wird, ihnen also weggenommen wird. Doch oft wollen sie sich auch nicht mit ihrer eigenen Problematik auseinandersetzen, warum sie nämlich im Erziehungsauftrag versagt haben. Sie sehen die Erzieher im Heim als Konkurrenz.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Notwendigkeit, sich mit den Fragen einer Qualitätskontrolle der Heimerziehung auseinanderzusetzen. Ein solches Unternehmen stößt aber auf eine Reihe von Schwierigkeiten z. B.: Was sind Kriterien für ein „gutes" Heim? Wie können wir die Qualität von Heimen messen?
Bei anderen Berufszweigen, wie im Gaststättengewerbe, scheint eine Evaluation vergleichsweise einfacher zu sein. So z. B. gibt es Gaststättenführer mit Aussagen über die Qualität (z. B. Qualität der Speisen, Ambiente usw.). Warum scheint dieses bei Heiminstitutionen unmöglich? Es ist offenbar sehr schwierig, offen über Erfolge der Heimerziehung zu sprechen, um die Qualität von Heimen festzustellen (Erfolgskontrolle).
Wir wollen zunächst einen Überblick über die historische Entwicklung der Heimerziehung geben. Anschließend folgt eine Erörterung von Kriterien für gute Heimerziehung, die über die Reformperspektiven in der Heimerziehung Auskunft geben.
Um uns nicht nur auf die gängige Literatur zu verlassen, haben wir im Rahmen unserer Pilotstudie Expertengespräche durchgeführt. Das Ziel ist, ein Konzept zu entwickeln, wie man einen Qualitätskatalog für die Evaluation von Heimen erstellen kann.
Am Schluss der Arbeit wollen wir Beschreibungen von zwei Heimen geben, die uns bei den Expertengesprächen häufig genannt wurden.
Die Frage nach der Qualität der Heimerziehung lässt sich nicht im unmittelbaren Zugriff auf die gegenwärtige Heimerziehung beantworten, stehen doch alle sozialpädagogischen Überlegungen in einem sich entwickelnden konzeptuellen Kontext, der wiederum auf vielfältige Weise mit den weiteren gesellschaftlichen Verhältnissen verwoben ist.
Historische Entwicklungslinien der Heimerziehung zu skizzieren, kann deutlich machen, worauf es in der Heimerziehung in bestimmten Entwicklungsetappen jeweils ankam.
Wir charakterisieren die wesentlichen Etappen in der Moderne und setzen in der Zeit des späten Mittelalters an.
Die Fürsorge für die Findel-, Waisen- und Armenkinder geschah im Mittelalter prinzipiell im Rahmen der allgemeinen Armenversorgung. Ausgesetzte, verlassene, familien- und sippenlose Kinder und die Kinder der Armen, deren materielle Lebensgrundlage nicht gesichert war, wurden in Findel- und Waisenhäusern untergebracht. Diese waren meist in das Hospital integriert, einer Fürsorgeeinrichtung für jene, die sich nicht einmal mehr durch Betteln ernähren konnten.
Die Hospitäler wurden organisatorisch von der Kirche, finanziell durch Stiftungen und Spenden der Gläubigen, die Ablass begehrten, unterhalten. Im Jahre 1041 wurde in Laibach (heute Ljubljana, Jugoslawien) das erste deutsche Findel- und Waisenhaus gegründet. Weitere folgten in Einback, Meinungen, München, Köln und Nürnberg (1368).
Im ausgehenden Mittelalter, als die Zahl der Armen wuchs, wurden die Findel- und Waisenhäuser zunehmend der weltlichen Obrigkeit unterstellt. Da für die Armen ein sozialer Aufstieg undenkbar erschien, gab es in diesen Anstalten weder Formen planvoller Erziehung noch einer Berufsausbildung. Die Armenkinder wurden möglichst früh "verarmt", d. h. in Pflegefamilien gegeben und mit sechs oder sieben Jahren wieder ins Waisenhaus zurückgenommen und dort nur solange geduldet, bis sie selbstständig „nach dem Almosen" gehen konnten. Die Tagesordnung in diesen Häusern war streng geregelt: Arbeit, Hausarbeit und notdürftiger Unterricht, der im Wesentlichen aus religiösen Unterweisungen bestand.
Die Armenspitäler und Stiftungen waren aus der Hand der Kirche von der weltlichen Obrigkeit übernommen worden. Die Pflegebezirke wurden dezentralisiert und von ehrenamtlichen Pflegern betreut. Die Begriffe Armut und Arbeit bekamen innerhalb der damaligen Sozialethik einen anderen Zusammenhang. War Armut im hohen Mittelalter als gottgewollt und gottgefällig und damit gewissermaßen positiv beurteilt worden, so wurde sie nun in zunehmendem Maße als ein Verschulden des Einzelnen aufgrund dessen geringer Arbeitswilligkeit verstanden und verurteilt. 1445 wurde die Armenversorgung deutlich als eine Aufgabe der Gemeinden gekennzeichnet. Neben der Almosenverteilung wurde die Arbeitsbeschaffung zur Aufgabe der weltlichen Obrigkeit.
1526 erschien eine erste systematische Abhandlung über das Fürsorgewesen (Johannes L. Vives: Ober die Unterstützung der Armen). Das Ziel war hier nicht Unterstützung im Einzelfall, sondern Aufhebung der Armut durch ein planvolles Fürsorgesystem: strengste Arbeitspflicht und individuelle Hilfezuweisung. Arbeitsunwilligkeit war streng zu bestrafen und zwar mit Zwangsarbeit, die in besonderen Arbeitsanstalten durchzuführen war und gleichzeitig das Element der Strafe, Besserung und Abschreckung enthielt. Diese Vorstellung, insbesondere des Erziehungs- und Besserungsgedankens, lief der Blutgerichtsbarkeit des 16. Jahrhunderts schon entgegen. Die Entfaltung der Haus-, Manufaktur- und Fabrikindustrie forderte unbeschädigte, disziplinierte Arbeiter. Durch die Menschenverluste im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert (Dreißigjähriger Krieg) verringerten sich im Folgenden die Todesstrafen; Arbeitszwang und Freiheitsentzug traten als Hauptstrafen in den Vordergrund. So entstanden seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Zucht- und Arbeitshäuser in ganz Europa. In den Jahren 1596/97 wurde in Amsterdam ein Zucht- und Arbeitshaus gegründet, das später Vorbild für viele deutsche Zuchthäuser geworden ist.
In Deutschland wurden ab 1604 in Bremen, Lübeck und Hamburg ähnliche Häuser errichtet.
In den Jahren und ersten Jahrzehnten nach dem Krieg wurden zur Versorgung der zahllosen Kinder in vielen deutschen Städten neue Waisenhäuser gegründet. Die Privatpflege nahm dabei in ihrer Bedeutung beständig ab, wurde aber auch weiterhin noch durchgeführt. Die Gründe für das zunehmende Obergewicht der Waisenhauserziehung vor der Pflegefamilienerziehung waren:
- die insgesamt nicht zufriedenstellenden Erfahrungen mit den Sozialisationsleistungen der Pflegefamilien;
- die starke Verminderung besonders auch der Landbevölkerung durch den Krieg;
- insbesondere die deutlich stärkere Ausrichtung der Waisenerziehung auf eine Arbeitserziehung hin;
- die ständig zunehmende direkte Verwendung von Waisenkindern in der gewerblich-industriellen Produktion, die den Waisenhäusern nun angegliedert wurde."[4]
Das Christentum spielte nach dem Glaubensstreit der nachreformatorischen Zeit in Bezug auf die Waisen- und Findelhauserziehung wieder eine wichtige Rolle in Form des Pietismus. Es wurden Vorstellungen wie "werktätige Herzensfrömmigkeit" und "praktisches Christentum tätiger Nächstenliebe" verbreitet.
1679 gründete Philip J. Spener in Frankfurt ein kombiniertes Armen-, Waisen- und Arbeitshaus. Die Textilarbeit der Anstalt wurde bereits im Schichtdienst organisiert. Dem Arbeitshaus angeschlossen war ein Verbesserungshaus für Arbeitsscheue und "böse Buben". Im Jahre 1695 gründete der Pietist August H. Francke in Glauche eine einklassige Armenschule. Aus ihr entwickelten sich Waisenanstalten, Bürgerschule, Lateinschule und Pädagogium (eine Erziehungsanstalt für die Kinder des Adels und reicher Bürger), sowie ein Lehrerseminar. Aber nur selten konnten begabte Kinder der Armenschule die Lateinschule besuchen. Franckes Grundprinzipien leiteten sich vom Gedanken der Verderbtheit der menschlichen Natur ab. Ihm zufolge muss der natürliche Eigenwille des Kindes gebrochen werden, um dem Willen Gottes zu folgen. In der Anstalt herrschte strengste Zucht. Dies wurde ergänzt durch frühe Gewöhnung an Arbeit. Das Neue war die planmäßige und rationelle Organisation. Francke finanzierte seine Anstalt durch Spenden, Stiftungen und Kredite, aber auch durch Gewinne, die durch die angeschlossene Buchhandlung, Druckerei und Versandapotheke erzielt wurden.
Im Jahre 1727 besuchten etwa 2300 Kinder und Jugendliche die Anstalt. Das Hallesche Waisenhaus war Vorbild für zahllose Neugründungen im 17. und 18. Jahrhundert.[5]
Ende des achtzehnten Jahrhunderts waren die pietistischen Waisenhausanstalten heftiger Kritik unterworfen. Unmittelbarer Anlass war die erschreckend hohe Sterblichkeitsrate der Anstaltskinder (nicht selten mehr als 25%). Die Philanthropen, die sich als die Erziehungstheoretiker des aufsteigenden Bürgertums an liberalen Harmonievorstellungen orientierten, nach denen das Glück des Einzelnen Vorbedingung für das Glück aller sei, kritisierten hart die brutalen Arbeitsbedingungen und die dumpfe Religiosität der Waisenhäuser. Sie wandten sich nicht prinzipiell gegen die Arbeitserziehung sondern gegen die mangelhaften Erziehungsbedingungen der Waisenhäuser aufgrund ihrer maßlosen Profitgier.
"Die Argumente der Gegner bewegten sich zwar auf recht unterschiedlichen Ebenen - einige gingen die Waisenhausfrage vorwiegend pädagogisch an, andere argumentierten rein volkswirtschaftlich und finanziell, wieder andere wandten sich nur gegen die hygienischen Mängel der damaligen Waisenhausversorgung -, insgesamt aber ging es doch immer wieder um diese acht Punkte:"[6]
Ein schon damals häufiger Kritikpunkt war, dass unterschiedliche Klientelgruppen in einer Institution untergebracht waren, wie Kinder und Erwachsene, Gesunde und Kranke.
Kritisiert wurden auch die unzureichenden hygienischen Verhältnisse, denn die Sterberate der untergebrachten Kinder war hoch.
Viele Kritiker waren von der Notwendigkeit der Kinderarbeit überzeugt, dennoch wurde diese gerügt, dass sie in keinem Verhältnis zur Ausbildung der Fähigkeiten der Kinder für das reale spätere Leben stand.
Durch die zu langen Arbeitszeiten kamen die schulischen Aspekte nicht zur Geltung.
Außerdem waren die Waisenhausschulen zu schlecht, da die Lehrer meist unausgebildet waren und den Schwerpunkt auf die Erwerbstätigkeit legten.
Ein weiterer Kritikpunkt gegen die Waisenhäuser war das zu starke Gewicht der Religion.
Die Individualität war nicht gegeben, da viele Angelegenheiten einheitlich geregelt wurden.
Eine einheitliche Regelung war erforderlich, weil die Waisenhäuser meist nach dem Prinzip der Massenerziehung ausgelegt waren.
Die Waisenhäuser mussten sich dem Kritikpunkt stellen, dass sie nicht in der Lage waren, die Kinder für das spätere reale Leben vorzubereiten.
Ein stark diskutierter Gesichtspunkt waren die hohen Kosten der Waisenhausunterbringung, Eine andere Möglichkeit der Fremdunterbringung wäre viel preisgünstiger gewesen (Privatpflege).[7]
Im Laufe der Auseinandersetzung um die Berechtigung der Anstaltserziehung wurden zahlreiche Waisenhäuser aufgelöst.
Johann Heinrich Pestalozzi (1746 - 1826) wurde einer der bedeutendsten Vertreter der neuen Bemühungen um eine angemessene Theorie der Anstaltserziehung und ihre Verwirklichung.
Arbeitserziehung, die er für nötig hielt, wollte Pestalozzi dem allgemeinen Ziel der Menschenbildung untergeordnet wissen; jede einseitige Arbeit verkrüppelt den Menschen. Mit seinen Gedanken einer allgemeinen Volksbildung befand er sich schon in Übereinstimmung mit den objektiven Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung. Seine für damalige Zeiten utopischen Ideen behielten ihre große Bedeutung für die Entwicklung der Heimerziehung.
Als Reaktion auf die Waisenhausmiserie, die staatliche Zurückhaltung darauf und vielfach unter Berufung auf das pädagogische Werk Pestalozzis, entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sogenannten Rettungshäuser. Sie unterschieden sich von den Waisen-, Armen- und "Corrections"-Anstalten dadurch, dass der Eintritt der Kinder und Jugendlichen nicht durch armenpolizeiliche Einweisung, sondern freiwillig erfolgte, und infolgedessen der persönlichen Freiheit der Zöglinge größerer Spielraum zugestanden werden konnte. Industriearbeit wurde abgelehnt, da man in der Industrialisierung die Ursache von Verarmung und Not erblickte. Stattdessen betrieb man Landwirtschaft und gewerbliche handwerkliche Arbeit wie Schreinerei, Schlosserei, Schmiederei, u.v.a. Für die (1820 - 1850) breitete sich zu einer umfangreichen Reformbewegung aus.
Vielfach unter Berufung auf die pädagogischen Ideen Pestalozzis wurden besonders in Süddeutschland zahlreiche Rettungshäuser zur Aufnahme von leidenden, entwurzelten und unerzogenen Kindern gegründet. Im norddeutschen Raum, wo die Erweckungsbewegung wesentlich weniger stark verbreitet war und der Krieg weit schlimmere Folgen hinterlassen hatte, fasste die Rettungshausidee langsamer und erst später Fuß. Neben dem pietistischen Einfluss waren es hier auch die Moralpredigten Kants und Fichtes sowie insbesondere der mächtige Eindruck der Befreiungskriege sowie Einflüsse aus England, die zur Gründung kleiner Vereine vor allem gebildeter Frauen führten, die sich auf der Grundlage der sich nun entwickelnden vaterländischen Gesinnung mitverantwortlich für das Volksganze fühlten, karitativ arbeiteten und so auch die Errichtung und Unterhaltung von Rettungshäusern vorantrieben.[8]
Friedrich Fröbel versuchte, in einem neuen und umfassenden Erziehungsbegriff den Funktionsverlust der Familie durch eine neue Institution, den Kindergarten, auszugleichen. Dieser stellte die unterste Stufe in einem neu organisierten System der Jugenderziehung dar. Allerdings wurde auch weiter unter dem Mantel der Wohltätigkeitsanstalten maßlose Kinderausbeutung betrieben.
Im Jahre 1833 gründete Johann Heinrich Wichern das Rauhe Haus bei Hamburg. Es war eines der bekanntesten Rettungshäuser und eine der berühmtesten Erziehungsanstalten des 19. Jahrhunderts. Wichern war evangelischer Theologe. Er begriff seine Aufgabe als "Bewahrung der Kinder vor den schändlichen Einflüssen der Gesellschaft und deren Errettung aus der Sünde". Seine pädagogischen Prinzipien waren familienähnliche und individualisierende Erziehung auf der Basis der Freiwilligkeit. Durch sinnvolle und wertvolle Arbeit sollten die Kinder zur Arbeit erzogen und auf ihren späteren Beruf vorbereitet werden. Die Anstalt betrieb Familienfürsorge und nachgehende Betreuung für die Entlassenen.
Im Jahre 1840 gründete Wichern die ersten Heimerzieherschulen, Vorläufer der späteren Diakonen- und Diakonissenanstalten.
Im Jahre 1848 wendete er sich gegen das Kommunistische Manifest sind gründete im gleichen Jahr die sogenannte Innere Mission als Abwehr gegen den Kommunismus. Seine Erzieher kamen aus den Reihen der christlichen Jünglingsvereine, die 1830 gegründet worden waren. Wicherns Bestrebungen bildeten im Grunde den politischen Hintergrund des bürgerlichen Reformeifers der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Wichern hatte schon damals erkannt, dass eine Massenerziehung nicht viel Sinn hat. Er legte seine Arbeit darauf aus, das Familienprinzip herauszuheben. Das Rauhe Haus, welches er gründete, wurde nach seinem damals neuen Konzept wie folgt ausgestattet. Die Institution war nicht wie sonst eine Einheit, sondern bestand aus mehreren kleinen Häusern, welche in einem Halbkreis angeordnet waren. Sein Konzept der Fremdunterbringung war familienähnlich ausgelegt. In jedem Haus wohnte mit den Untergebrachten ein "Bruder", heute würde man sagen, "innewohnender Erzieher". Für damals war Wichern sehr fortschrittlich. Er legte Wert auf eine koedukative Lebensform und begrenzte die Anzahl der Untergebrachten auf 12 für jede Einheit.[9]
Wichern war Realist genug, um zu erkennen, dass sein Konzept die Herkunftsfamilie nicht ersetzen konnte. Er legte viel Wert darauf, eine Erziehungsberatung durchzuführen, ob und inwieweit eine ambulante Hilfe nicht greifen würde. Nur in den Fällen, in denen es aussichtslos erschien und eine Trennung erforderlich war, kam es zur Unterbringung. Trotz allem war es wichtig, den Kontakt zu den Herkunftsfamilien aufrechtzuerhalten. Ziel war die Rückführung der Kinder in die Herkunftsfamilien.
Auffallend bei1 Wichern ist, dass seine "Familien" reine "Vaterfamilien" waren.[10]
Anfang des Jahrhunderts wurden die privaten Initiativen wohlwollend vom liberalen Staat unterstützt, der sich nur auf das Eingreifen bei äußersten Missständen beschränkte. In der Folgezeit wurde er durch die weitere soziale Entwicklung und besonders durch die unzureichenden Möglichkeiten der freien Fürsorge zu breiterem und planvollerem Eingreifen gezwungen. Im Jahre 1839 wurde das "Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" verabschiedet: Verbot gewerblicher Arbeit für Kinder unter neun Jahren sowie für Jugendliche unter sechzehn Jahren, die noch keinen dreijährigen Schulunterricht genossen hatten, ausgenommen diejenigen, deren Lernen neben gewerblicher Arbeit in Fabrikschulen sichergestellt war. In weiteren Gesetzen wurde die Nacht- und Sonntagsarbeit für Neun- bis Zwölfjährige verboten, die Arbeitszeit für Jugendliche auf zwölf und später auf zehn Stunden reduziert, schließlich die Fabrikarbeit für alle schulpflichtigen Kinder untersagt. Diese gesetzlichen Bestimmungen konnten jedoch auf vielfältige Weise hintergangen werden.
Im Jahre 1840 wurde in Preußen durch Verordnung die staatliche Pflegestellen- und Beaufsichtigungserlaubnis eingeführt und durch freiwillige Helfer kontrolliert (notwendig wegen des Zunehmens der sogenannten Engelmacherei). Eine staatliche Maßnahme zur Jugendhilfe stellte auch die Entwicklung des Jugendstrafrechts dar.
Im Jahre 1876 wurde die gesetzliche Grundlage für die Unterbringung von Jugendlichen außerhalb der Familie, die Zwangserziehung, gelegt. Sie ist der Vorläufer der modernen Fürsorgeerziehung, die seit den Landesausführungsgesetzen zum BGB von 1900 angeordnet werden kann, wenn erstens Straftaten vorliegen, zweitens die elterliche Erziehung versagt hat und drittens Verwahrlosung eingetreten ist oder einzutreten droht. Sie wird seit 1908 von den neu errichteten Jugendgerichten strafrichterlich und vormundschaftsrichterlich angeordnet.
"In den Anstalten - den Waisen- und Rettungshäusern - war der fortschrittliche Anstoß, der vom Waisenhausstreit und der Rettungshausbewegung ausgegangen war, bald wieder vergessen. Zwar war die Forderung, den Familiencharakter auch in der Anstaltspflege zu betonen, wohl gehört worden, tatsächlich aber blieb man von Organisationsformen und Gruppengrößen wie in Wicherns Rauhem Haus weit entfernt; dort, wo man schließlich >familienartige< Strukturen einführte, blieben die Gruppen immer noch unübersichtlich groß."[11]
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte für die arbeitende Bevölkerung durch die weitere Industrialisierung eine Verschlechterung ihrer Lebenssituation. Die herkömmliche freie Sozialarbeit wies sich zunehmend als hilflos gegenüber den anwachsenden Problemen. In den 80-ziger Jahren wurde ein umfassendes Sozialversicherungswerk verabschiedet: Krankenversicherung, Unfallversicherung, Invaliden- und Altersversicherung als Pflicht für den Arbeitnehmer. Der Staat (unter Bismarck) musste sich auch in dieser Form gegen die Sozialdemokratie absichern, wobei der Glaube an einen über allen Interessen stehenden, neutralen und sozialen Staat gefördert wurde, besonders auch im Bereich der Sozialarbeit.
Trotz der neuen sozialpolitischen Gesetze wurde die Armenpflege und -versorgung weiterhin von der privat organisierten Wohlfahrt getragen. Die großen Verbände der freien Wohlfahrt entstanden, wie Innere Mission, Caritas - Verband der katholischen Kirche - und 1906 der Allgemeine Fürsorgeerziehungstag zur Förderung der Kooperation von freien und öffentlichen Stellen. Die Erweiterung der Aufgaben erforderte sowohl die Einstellung hauptamtlicher Kräfte als auch deren planmäßige Ausbildung. 1905 wurde in Hannover die erste christlich-soziale Frauenschule gegründet, 1908 die erste soziale Frauenschule in Berlin. 1919 gab es dann schon 26 solcher Ausbildungsstätten. Wesentlich war hier, dass männliche durch weibliche Berufsträger verdrängt wurden, eine Folge der allgemeinen Einbeziehung der Frau ins Berufsleben und der Anstrengungen der politischen Frauenemanzipationsbewegung. Allerdings verschoben sich hier die politischen Ziele bald zugunsten eines älteren Rollenbildes. Die Fürsorgerin übererfüllte gewissermaßen die Rollenerwartung an die idealistische, mütterliche, selbstlose und dienende Frau.
Im Jahre 1922 wurden im katholischen Kloster Oberzell bei Würzburg und 1923 in der evangelischen Diakonie in Teltow bei Berlin Kurzkurse für Heimerzieher angeboten. 1925 wurden staatliche Heimerzieherschulen in Potsdam und Düsseldorf gegründet.
Die Auseinandersetzungen zwischen der öffentlichen Wohlfahrt und den privaten Organisationen führte zu deren Zusammenschluss in großen Spitzenorganisationen, die sich in der "Liga für freie Wohlfahrtspflege" zusammenschlössen, mit Ausnahme der Arbeiterwohlfahrt. Diese Verbände galten nun als repräsentative Empfängerinstanzen für staatliche Subventionen. Sie standen im Gegensatz zu den Bemühungen der politisch organisierten Arbeiterklasse für Öffentlichkeit und Entkonfessionalisierung von Fürsorge und Jugendhilfe.
1922 wurde von SPD und Zentrum gegen die Stimmen der sozialistischen und kommunistischen Parteien das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (JWG) verabschiedet, 1923 das Reichsjugendgerichtsgesetz. Darin wurde das Recht des Kindes auf Erziehung festgelegt. Der Haupterzieher blieb aber nach wie vor die Familie. Das Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Fürsorge wurde rechtseinheitlich geregelt, die unterschiedliche Behandlung der verwahrlosten und der kriminellen Jugend wurde durch die Trennung dieser beiden Gesetze festgelegt. Im Verlaufe der zwanziger Jahre gab es anhaltende Reformbewegungen innerhalb des Jugendfürsorgebereiches für Heime und Erziehungsanstalten. Sie hingen mit der bürgerlichen Jugendbewegung zusammen (Wandervögel) und waren das Werk kleinerer Gruppen oder einzelner engagierter Pädagogen.
Der Lindenhof unter Karl Winkler hatte folgende pädagogische Prinzipien:
Abbau autoritärer Heimstrukturen, Einführung von Selbstverwaltungsorganen der Jugendlichen, Beseitigung aller gefängnisähnlichen Einengung, Herstellung von engen Kontakten mit der Außenwelt und Sicherung einer angemessenen Berufsausbildung. Winkler stieß bei den zuständigen Behörden auf heftige Ablehnung und musste den Lindenhof 1921 verlassen.
Die Jugendlichen reagierten mit Solidaritätskundgebungen in Berlin. Im Laufe der nächsten Jahre, entstand eine Reihe von Reformheimen.
Ende der zwanziger Jahre gründete die "Gilde Sozialer Arbeit" einen "Arbeitskreis zur Reform der Fürsorgeerziehung", der dem Erfahrungsaustausch und der Entwicklung neuer Konzeptionen dienen sollte.
Die problematischen Bedingungen in vielen der übrigen Heime führten von 1928 - 1932 zu einer Reihe von schweren Heimrevolten, welche die Aufmerksamkeit der liberalen Öffentlichkeit auf diesem Bereich lenkte.
"Ende der zwanziger Jahre konnte sich schließlich der Gedanke einer gewissen Humanisierung der Heimerziehung - zumindest bei den evangelischen und freien Trägern - langsam durchsetzen; besonders die Kinderheime zeigten sich einer familienartigen Organisationsform gegenüber nach und nach etwas aufgeschlossener. Doch diese bescheidenen Erfolge wurden ab 1933 durch die faschistische Machtübernahme schnell wieder zunichte gemacht."[12]
Im Jahre 1933, nach der Machtübernahme, begann der NS-Staat mit der Vereinheitlichung und Gleichschaltung der Einrichtungen der öffentlichen Erziehung. Der damaligen Regierung war klar, dass sie die Arbeit der freien Träger nicht sofort übernehmen konnte. Daher vermittelte der Staat den Anschein, dass er die Arbeit der freien Träger respektierte. Jedoch später setzte die Regierung den freien Trägern Schranken. Wer sich den Zielen des Staates widersetzte, wurde bei der Verteilung von Unterzubringenden nicht weiter berücksichtigt.
Bei der Verteilung der Unterzubringenden wurden Kinder und Jugendliche berücksichtigt, die den damaligen Ansprüchen genügten. Die Ansprüche wurden definiert als: erbgesund, förderungswürdig und erziehbar (arisch).[13]
"Das Dritte Reich hatte mit seiner Gleichschaltung der Erziehungsinstitutionen und ihrer Ausrichtung auf eine >>völkische<<, rassistische und enthumanisierende Erziehungsideologie nicht nur keine Weiterentwicklung der Einrichtungen der öffentlichen Ersatzerziehung gebracht, sondern - mit dem gänzlichen Verzicht auf familienartige Gruppierungen und mit der geplanten Einführung der >> Bewahrung << - die Situation jedenfalls in den Heimen weiter verschlechtert. ... Nach Kriegsende - und nachdem die erste chaotische Phase nach der Kapitulation ... überstanden war - setzten die Anstalten und Heime daher mit der fachlichen Diskussion bestenfalls dort ein, wo diese Anfang der 30er Jahre abgebrochen war"
Seit den 50-ziger Jahren kam es zu einer sehr bewussten Familie fördernder Politik, deren Bedeutung an der Errichtung eines besonderen Familienministeriums sichtbar wurde. Auf pädagogischer Ebene entwickelte sich eine umfangreiche Diskussion über den Wert der Familie und der familienanalogen Erziehung.
Der Wille zur Reform, den viele in der öffentlichen Erziehung Engagierte in der Nachkriegszeit mitbrachten, stieß allerdings meist sehr schnell an enge materielle Grenzen. Besonders aber waren zahlreiche Einrichtungen der öffentlichen Jugendhilfe im Krieg ganz oder teilweise zerstört worden, während zugleich Hunderttausende von Kriegswaisen und familienlosen Kindern auf Unterbringung und öffentliche Versorgung angewiesen waren. Geschultes Personal und Finanzmittel waren jedoch außerordentlich knapp, denn zunächst wurden alle verfügbaren Finanzmittel im Produktionsbereich und im Bereich der Infrastruktur eingesetzt. So überließ der Staat den Bereich der öffentlichen Erziehung nur zu gerne den in seinen Augen >>bewährten<< freien Trägern "
Andreas Mehringer (geb. 1911) übernahm 1945 das zum größten Teil zerstörte Münchner Waisenhaus. Er wusste, "dass die >>alte Anstalt<< hier nicht wieder neu entstehen durfte. Nach zahlreichen Auseinandersetzungen mit dem Stadtrat hatte er seine Konzeption durchgesetzt: Was sich schon in früheren Jahrhunderten (Pestalozzi, Rettungshausbewegung, Falk, Wichern ...) bei der Lösung des >>Massenproblems<< in der Anstaltserziehung bewährt hatte, sollte auch hier verwirklicht werden: das Familienprinzip.
Im Jahre 1951 wurde Mehringers Waisenhaus als familiengegliedertes Heim mit 12 alters- und geschlechtsgemischten Gruppen (zunächst 15 Kinder), die mit einer festen Betreuerin und einer Praktikantin in einer abgeschlossenen >>Familienwohnung<< im Heim wohnen sollten, bezogen, ... Auf der Basis dieses zunächst erfolgreichen Versuchs und mit der von Pestalozzi entliehenen Devise, auch dem familienlosen Kind das >> Heiligtum der Wohnstube<< zu schaffen, begann Mehringer - und mit ihm einige andere -eine Kampagne für die Umstrukturierung der immer noch meist altersgruppenspezifischen oder altersgruppenorganisierten Heime. Ziel war, Heime mit alters- und geschlechtsgemischten Gruppen zu schaffen, in denen nicht mehr als zehn bis zwölf Kinder leben sollten. Das Altersgefälle in den Gruppen sollte etwa dem einer großen Familie entsprechen, also Säuglinge und auch noch Lehrlinge umfassen."[14]
"Der tatsächlichen Verwirklichung des Familienprinzips innerhalb der bestehenden Heime stellten sich aber ganz erhebliche Schwierigkeiten entgegen, Schwierigkeiten, die vorher in allzu idealistischer Weise und aufgrund unzureichender politischer Analyse des Feldes Heimerziehung übersehen worden waren. So ist es nicht verwunderlich, dass sich trotz aller -in vielen Fällen sicher auch erfolgreichen - Bemühungen zwanzig Jahre nach Kriegsende die Situation der Heimerziehung weiterhin als traurig darstellte."[15]
Seit den Revolten Anfang 1970 - nach den sozialen sechziger Jahren -ließen sich nun zahlreiche Veränderungen im Bereich der Heimerziehung beobachten: Erstens nahm aufgrund der unüberhörbaren Kritik an der Heimerziehung besonders seit dieser Zeit die Zahl der in Fürsorgeerziehung (FE) eingewiesenen Kinder und Jugendlichen rapide ab; die Zahl der in freiwilliger Erziehungshilfe (FEH) untergebrachten Kinder nahm bis 1975 deutlich ab. Ebenso wie bei den im Rahmen der Hilfe zur Erziehung (§§ 5,6 JWG) untergebrachten Kindern schien sich allerdings hier nach jahrelangem Absinken wieder eine leichte Zunahme der Einweisungen in Heimerziehung abzuzeichnen. Der Rückgang der Zahl der Heimkinder war insgesamt so drastisch, dass manche Heime bereits geschlossen wurden oder um ihr Oberleben kämpften. Zweitens wurden die innere Differenzierung der Heimerziehung und ihre Ausrichtung auf therapeutische und heilpädagogische Aufgaben deutlich vorangetrieben. Drittens nahmen sich verstärkt nicht nur die Praktiker, die die Gunst der Stunde nutzen wollten, sondern auch zahlreiche Wissenschaftler dieses seit Jahrzehnten vernachlässigten Gebietes an. Die Schwerpunkte der Diskussion haben sich dabei deutlich verlagert. In den frühen, hauptsächlich von Verbänden, Behörden und kritischen Praktikern veröffentlichten Analysen, Memoranden und Stellungnahmen, die häufig die grundsätzlichen Fragen nach den Funktionen von Heimerziehung in einer kapitalistischen Gesellschaft unbearbeitet und die sozio-ökonomischen Gründe, die zur Einweisung der Heiminsassen führten, unberücksichtigt ließen, wurde insbesondere folgendes verlangt: Eine stärkere wissenschaftliche Erforschung des Feldes der Heimerziehung, bessere Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Erzieher, die Verkleinerung der Gruppengröße, eine stärkere Demokratisierung der Heime, das Erstellen einer genaueren Diagnose vor Aufnahme eines Kindes in ein Heim, die Ausarbeitung individueller Erziehungspläne, eine bessere schulische Förderung und berufliche Ausbildung der Heimkinder sowie neue Konzepte für Hilfen im Vorfeld der Heimerziehung und für die Arbeit mit den Eltern.[16]
Im Laufe der Geschichte wird deutlich, dass man sich - beginnend im Mittelalter - Gedanken über Fremdunterbringung machte. Dabei standen bestimmte Leitkonzepte jeweils im Vordergrund. Grundsätzlich lässt sich verfolgen, dass in der Vergangenheit oft die moralischen, religiösen und wirtschaftlichen Aspekte eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Fremdunterbringung in einer " Massenanstalt" wurde oft mit finanziellen Argumenten begründet.
Am Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden neue pädagogische Konzepte entwickelt, die auch noch heute eine Rolle spielen (Pestalozzi, Wichern beispielsweise). Durch die ganze Geschichte lässt sich aber eines verfolgen: Viele Pädagogen arbeiteten auch mit einer politischen Perspektive, oft im Zusammenhang größerer gesellschaftlicher und politischer Bewegungen, um ihr Interesse durchsetzen zu können, was heute - so unsere These - häufig vernachlässigt wird. Das kann man ganz deutlich an der Arbeit z. B. von Wichern nachvollziehen. (Er wandte sich offen gegen das Kommunistische Manifest (1848) und trat zugleich für eine neue Form gesellschaftlicher Solidarität ein.)
Heute müssen wir, so scheint es, wieder dazu übergehen, die pädagogische Arbeit in den einzelnen Hilfeangeboten auch in ihrem politischen Zusammenhang zu sehen, gewissermaßen neu zu politisieren. Damit gewinnen wir ein neues Verständnis, wie Lebenszusammenhänge und Erziehung im sozialen Rechtsstaat kritisch gestaltet werden können.
Im Zwischenbericht der Kommission Heimerziehung gibt es ein Kapitel, welches sich mit der Pädagogik und Therapie im Heim beschäftigt.
"Die pädagogische Qualität des Heimes ist ein komplexer Begriff mit einer Fülle von Bedingungsfaktoren."[17]
Es ist daher sehr schwierig, zu definieren, welche Kriterien ein Heim, welches als gut anzuerkennen ist, erfüllen muss. Jedoch scheint es Erkenntnisse zu geben über klare Vorstellungen, die besagen, was ein Heim leisten muss, um den "Erziehungsauftrag" ausführen zu können.
In der Literatur zur Einführung in Theorie und Praxis der Heimerziehung wird z. B. klar definiert, was ein Erzieher zu leisten hat.
Der Bericht stellt das Typische für die Arbeit im Heim dar. Einige der Berufsmerkmale fallen beim Erzieher auf.
Diagnostische Fähigkeiten und Erfahrungen werden vom Erzieher verlangt. Er müsste imstande sein, ein Kind zu verstehen, Schwierigkeiten zu erkennen, und ein Hilfeangebot zu erstellen.
Der Erzieher muss Kenntnisse sozialer Prägemechanismen vorweisen können. Er müsste in der Lage sein, eine Anamnese des Kindes zu erstellen, um die Entwicklung des Kindes verstehen zu können.
Der Heimerzieher muss offen sein für moralische Probleme. Er sollte seine Wertvorstellungen reflektieren, damit er sich im Klaren ist, welche moralischen Normen er dem Kind auferlegt. Er sollte dabei nicht neutral sein, sondern muss deutlich Stellung nehmen.
Er ist auch für die Gesundheit und das leibliche Wohl des Untergebrachten verantwortlich. Dazu ist es notwendig, auf die Entwicklung des Körpers zu achten. Auch die psychische Entwicklung ist zu berücksichtigen.
Eine schulische Hilfe sollte selbstverständlich sein. Der Heimerzieher muss dabei nicht unbedingt das Fachwissen haben, aber er sollte in der Lage sein, Probleme zu erkennen, um anschließend Hilfen von außerhalb miteinzubeziehen.
Einem Jugendlichen ist bei der Berufsfindung Unterstützung zu gewähren. Dabei muss der Erzieher im Heim in der Lage sein, den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu überschauen. Er muss bei der Hilfe zur Berufsfindung auch die reelle Berufsreife des jungen Erwachsenen berücksichtigen können.
Als Erzieher hat man sehr viel mit Menschen zu tun. Flexibilität sollte hier selbstverständlich sein, denn als Pädagoge sollte man in der Lage sein, Beziehungen nicht nur aufzubauen, sondern auch zu nutzen.
Ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit ist eine intensive Elternarbeit. Denn es ist wichtig, daran zu denken, dass der Untergebrachte später wieder zurück in seine Familie soll oder zumindest Kontakt haben wird.
Jedem Erzieher im Heim sollte klar sein, dass er nicht alleine sinnvolle Hilfe für den Untergebrachten leisten kann. Er ist aufgefordert, im Team mitzuarbeiten und mit den Kollegen offen über seine Probleme in der Arbeit zu sprechen.
Ein Heim ist eine größere Institution als eine normale Familie. Daher ist es für den Erzieher im Heim wichtig, die Verwaltung der Institution zu verstehen, um sie auch positiv nutzen zu können. Ihm sollte klar sein, dass sein Arbeitsplatz trotz aller Kollegialität doch noch hierarchisch strukturiert ist.
Es ist selbstverständlich, dass ein Erzieher im Heim sich in den Gesetzen auskennen muss. Er braucht die Rechtskenntnisse zum Schutz für den Untergebrachten und für sich selbst.
Der Beruf des Erziehers bedarf wissenschaftlicher Kenntnisse. Daher ist jeder Pädagoge aufgerufen, sich an Projekten in sozialen Bereichen und Diskussionen zu beteiligen.
Diese zwölf Punkte erheben nicht den Anspruch auf eine vollständige Beschreibung aller Grundvoraussetzungen.[18]
Trotz hohen Engagements der Erzieher hat die Heimerziehung oft ein schlechtes Image. Vielen ist nicht klar, dass Heimerziehung auch eine Möglichkeit der Hilfe sein kann. Durch fehlende Transparenz der Arbeit im Heim ist nicht festzustellen, was dort eigentlich gemacht wird. Um die Heimerziehung in ein positives Licht zu stellen, müsste eine Möglichkeit geschaffen werden, die Arbeit - für den Nutzer erkennbar - als Hilfe darzustellen. Im Zwischenbericht Kommission Heimerziehung und im Heimbericht (1970) wird dargestellt, welche Arbeit im Heim geleistet werden muss, um die Institution Heim als Erziehungshilfe anbieten zu können.
In dem Kapitel "Indikation und Aufgabe" wird die Sichtweise der Nutzer angesprochen. Eltern, deren Kinder aus der Familie gerissen werden, sehen die Herausnahme aus der eigenen Familie als Entscheidung gegen das Herkunftsmilieu.
Durch die Praxis, gravierende Fälle in Heime einzuweisen, schlägt sich der Erziehungsbedarf somit als Bettplatzbedarf nieder. Die Aufgaben der Heimerziehung leiten sich aus Sozialisations- und Erziehungsdefiziten ab.[19]
Durch diese Aussage sehen wir, dass es verschiedene Angebote von Heimerziehung geben muss. Wir können das erweitern, es muss verschiedene Hilfeangebote geben.
"Die Wahl zwischen den unterschiedlichen Formen der Fremdplatzierung ist erschwert worden; für die Indikation ist ein wesentliches Kriterium entfallen. Seit nämlich die professionelle Ersatzfamilie (heilpädagogische Pflegestelle, Sonderpflege) erdacht und ansatzweise erprobt ist, kann - entgegen einer noch verbreiteten Auffassung - auch ein hoher Grad an deviantem Verhalten und der ihm entsprechende Bedarf an professioneller Behandlung nicht mehr Heimerziehung allein indizieren."[20]
Es wird zudem gesagt, dass ein Heim keine "Erziehungs- und Sozialisationsaufgabe besser erfüllen (kann), als dies einer sorgfältig ausgewählten Familie möglich wäre, wenn sie gut beraten und fachlich gestützt wird."[21]
Im Kommissionsbericht wird zudem deutlich, dass Heimerziehung ein starkes Spannungsfeld zwischen Kind und Erzieher birgt, schon dadurch, trotz Engagement des Erziehers, dass der Erzieher in einem Arbeitsverhältnis steht. Die Beziehungen zwischen Kind und Erzieher sind unterschiedlich. Für das Kind sind sie dauerhaft, beim Erzieher bedeuten sie Zuwendung auf Zeit.[22] "Die wesentlichen Beziehungsdifferenzen treffen Kinder und Erzieher dabei existenziell, so dass zwischen ihnen die Gefahr einer Dauerfrustration besteht; auf Seiten des Kindes, weil seine Sicherheits- und Bindungswünsche durch den Erzieher enttäuscht werden, auf Seiten des Erziehers (vor allem des engagierten), weil seine professionell geprägten Handlungsmuster ihm selbst angesichts der Erwartungen der Kinder und seiner eigenen Sozialisationserfahrungen unglaubwürdig werden und Schuldgefühle provozieren."[23]
Eine Lösung dieses Problems kann nur erfolgen, wenn die Hintergründe dieser Beziehungsdifferenzen erkannt und reflektiert werden.
„Diese Reflexion als wesentliche Voraussetzung für die Herstellung glaubwürdiger, ungebrochener Beziehungsstrukturen zwischen Kind und Erzieher hat folgende Aufgaben:
- Herstellen einer gemeinsamen Interaktionsebene zwischen Kind und Erzieher durch tendenzielle Umkehrbarkeit aller Interaktionsmuster;
- Beteiligen des Kindes an allen Entscheidungsvorgängen, die den eigenen Lebensbereich und den der Gruppe betreffen;
- Konfliktsituation und Versagen von Kind und Erzieher ais Chancen der Metakommunikation und damit Vertiefung der Beziehung zwischen Erzieher und Kind;
- Ermöglichen von Transparenz des Erzieherverhaltens für das Kind und - dadurch bewirkt - Verstehen der Bedingungen seines erzieherischen Handelns durch den Erzieher, z. B. durch Supervision."[24]
Man kann Heimerziehung als Feld für Lernprozesse sehen. Lernen kann man hier aber nur durch Reflexion der eigenen Arbeit. Ein Heim sollte die herkömmlichen Maximen wie Verantwortungsbewusstsein, Mitmenschlichkeit, Liebe usw. konkretisieren können. Aus den globalen Zielen müssen Teilziele formuliert und konkretisiert werden.[25]
„Der methodische Ort eines Erziehers ist der eines Organisators von Lernprozessen. Er muss sich darüber klar sein, dass sein Verhalten entscheidendes Medium dieses Lernfeldes ist. Deshalb ist Supervision eine für alle Heimformen durchgängige Forderung."[26]
Qualität von Heimen zeichnet sich auch durch deren Binnenstruktur aus. Die Größe der Heime sollte für alle Beteiligten, vor allem für Kinder und Jugendliche, überschaubar sein. Daraus ergibt sich wie selbstverständlich die Aussage, dass dafür kleine Heime mit kleinen Gruppengrößen erforderlich sind. Normalerweise sorgt für ein solches klares Bezugsfeld die eigene Familie. Durch kleine Einheiten werden Individualität, Intimität, Identität und Integration begünstigt.[27]
Ein weiteres Argument für kleine Einheiten ist die dadurch verminderte Fluktuation von Kindern, Jugendlichen und Personal.
Die Gruppengrößen: Zu den Gruppen, in denen Kinder und Jugendliche längerfristig leben, dürfen nicht mehr als 10 Minderjährige gehören; zu den Gruppen, in denen nur Jugendliche von über 15 Jahren leben, dürfen auf keinen Fall mehr als 12 Minderjährige gehören.
In Heimen, in denen überwiegend schwer geschädigte Kinder und Jugendliche untergebracht sind, darf die Zahl von 6 Minderjährigen pro Gruppe nicht überschritten werden.
Diese hier genannten Platzzahlen sind als maximale Größen zu verstehen.
Nach der Heimreform ging man dazu über, eine sinnvolle Hilfe für den Hilfebedürftigen zu finden.
Früher wurde dort untergebracht, wo gerade ein Platz frei war. Wir sehen hier also die Notwendigkeit des differenzierten Angebotes, denn nicht jedes Heim ist ein Hilfeangebot für jeden Minderjährigen.
Viele Heiminstitutionen sind aus wirtschaftlichen Gründen darauf angewiesen, Minderjährige aufzunehmen, ohne genauer zu schauen, ob und inwieweit die Hilfe der Institution wirklich Hilfe bedeutet. Heime, die sich auch einmal eine Nichtbelegung leisten können, weil es pädagogisch sinnvoll ist, können gute Heime sein.
Oft wird behauptet, dass kleine Heime unrentabel arbeiten. Durch eine bessere Identitätsfindung von Kindern und Erziehern, ist die Leistungs-bereitschaft jedoch größer. Gruppen übergreifende Spezialkräfte sind im Verhältnis zwar teurer, aber durch die erhöhte Leistungsbereitschaft wird wieder eingespart. Sehr deutlich wird dieser Sachverhalt beim Vergleich von Krankheitsfällen in kleinen und großen Heimen.
So der Kommissionsbericht: „Die Gruppe soll eine Lebensgemeinschaft sein, kann aber keine Schicksalsgemeinschaft sein."[28]
„Jede Gruppe muss über einen in sich abgeschlossenen Wohnbereich verfügen, zu dem neben den Wohn-Schlafzimmern mindestens ein gemeinsames Aufenthaltszimmer, eine Teeküche, ein Mitarbeiterzimmer und eigene sanitäre Anlagen gehören."[29]
Jeder Gruppe soll, soweit irgend möglich, wirtschaftliche Autonomie zugebilligt werden.[30] In der Familie sorgen die Eitern für Ernährung, Kleidung, Taschengeld usw. Eine Beziehung ist hier also möglich. Im Heim sollte man ähnlich verfahren. Die Versorgung muss dezentralisiert werden, da ein Heimbewohner auch diese Form von Beziehungen zum Erzieher braucht. Es ist nicht sinnvoll, Versorgungsvorgänge von anonymer Instanz bewältigen zu lassen. Wie soll denn sonst ein Heimbewohner lernen, mit Geld umzugehen oder Lebensmittel pfleglich zu behandeln. - Wenn der Heimminderjährige den Geber nicht kennt, kann keine Verantwortlichkeit dem Geber gegenüber gebildet werden.[31]
Ein Heim sollte dem Untergebrachten möglichst realitätsnah die wirtschaftlichen Zusammenhänge zeigen. - In den Familien lernen Kinder sehr schnell, dass Geld erst verdient werden muss, um es anschließend ausgeben zu können. Versorgung kostet Geld, man muss Prioritäten setzen, um sein Guthaben sinnvoll ausgeben zu können. Im Heim kann dieser Lernprozess nicht erfolgen, da die verwaltungstechnischen und finanztechnischen Aufgaben noch immer in den Büroräumen der Institution stattfinden, wo auch kaum ein Erzieher, geschweige denn ein Jugendlicher, die Möglichkeit hat, in diesen Bereich Einblick zu finden. Es wird dem Jugendlichen eine falsche Realität vermittelt.[32]
Fluktuation ist ein wichtiger Aspekt bei der Bewertung der Qualität von Heimerziehung. Hierzu der Zwischenbericht der Kommission Heimerziehung: Fluktuation ist schon immer ein sehr schwer zu lösender Faktor der Heimerziehung. Oft sind nur Bindungen und Beziehungen auf Zeit möglich. Durch den Wechsel eines Mitarbeiters oder Kindes/Jugendlichen können sich ganze Strukturen der Gruppe verändern. Ein weiteres Problem der Fluktuation ist, wie man mit aus der Maßnahme entlassenen Kindern oder Jugendlichen umgeht. Sie verlieren mit der Entlassung nicht nur ihre Rechte, sondern auch entstandene Bindungen mit Erziehern. - Den Beziehungen im Heim scheinen oft die Perspektiven für die Zukunft zu fehlen. Bei Kindern, die in Familien aufwachsen, tritt dieses Phänomen nur im Bekanntenkreis auf, wie z. B. mit Lehrern. Diese Kinder haben noch eine andere recht stabile Perspektive durch ihre Familie.
Die Fluktuation der Heimminderjährigen scheint ein Krebsgeschwür der Heimerziehung zu sein. Trotz dieser formulierten Erkenntnis scheint eine Lösung sehr schwierig zu sein. Es gibt eine Menge Faktoren, die dieses Problem begünstigen, wie „Gesetze und Rechtsprechung, die die Interessen der Eltern mehr berücksichtigen als die der unmündigen Kinder." Dies ist nur ein zitiertes Beispiel aus dem Zwischenbericht Kommission Heimerziehung. Unter diesem Abschnitt wird noch "der Mangel an einer sorgfältigen Auswahl des individuell geeigneten Platzes für ein Kind, also die Verteilung von Kindern nach zufällig freien Plätzen" erwähnt.[33]
Es kann von Vorteil sein, einen freigewordenen Platz nicht belegen zu müssen, um möglicherweise die Fluktuation gering zu halten. Die Fluktuation zu messen, scheint eine notwendige Aufgabe zu sein. Es wird gegenwärtig sogar von einer zukünftigen Verpflichtung der Heime und Jugendbehörden gesprochen, der Heimaufsichtsbehörde gegenüber Angaben über sämtliche Aufnahmen, Abgänge, Einstellungen und sogar Notaufnahmen machen zu müssen.
Die Fluktuation der Mitarbeiter in den Heimen wird begünstigt durch die Vielzahl der Mitarbeiter selbst. Der Wunsch nach Weiterbildung bleibt nicht aus. Unzufriedenheit mit der Arbeitssituation (Entscheidungsmöglichkeiten, Standort des Heimes, mangelnde fachliche Beratung, Arbeitszeiten wie z. B. Schichtdienst) führt oft zum Stellenwechsel.[34]
Wir kommen jetzt zu dem Aspekt der Supervision und Fortbildung. Es ist für jeden Erzieher notwendig, Möglichkeiten der Supervision oder Fortbildung zu bekommen. Supervision ermöglicht ihm, die Probleme zu erkennen, die er in seiner Arbeit mit den Kindern und Mitarbeitern hat. Nur aus Problemen, die man erkennt, kann man lernen. Dem Erzieher wird die Möglichkeit gegeben, sein Verhalten zu korrigieren.
Bei der Fortbildung verhält es sich ähnlich: Die Ausbildung des Erziehers bleibt unfertig, wenn keine dauernde Fortbildung erfolgt. Fortbildung dient zur Sicherheit und Reflexion der eigenen Arbeit. Sie verhindert eine institutionelle Isolation und berufliche Verengung.[35]
Der geografische und soziografische Standort eines Heimes hat große
Bedeutung für die Verfolgung der Ziele.
Schon seit Jahren wird die Wahl der Standorte bemängelt, trotz alledem wird die Kritik anscheinend nicht ernst genommen. Die Existenzberechtigung für Heime trotz falscher Wahl des Standortes scheint nicht gefährdet zu sein. So können sich die Nachteile auf Kinder/Jugendliche nahezu unbegrenzt auswirken.
Eine falsche Standortentscheidung scheint jedoch für Heimmitarbeiter schwer auszuhalten zu sein, so dass sie ihre Kriterien für Heimerziehung der Standortbegebenheit anpassen. Es ist aber sinnvoll, den Standort der Problemlage anzupassen.
Der Zwang eines Heimes, alles selber zu veranstalten und zu organisieren, ist vorgezeichnet, wenn der Standort außerhalb eines sozialen Umfeldes liegt. Ein Heim wird außerhalb einer Stadt oder am Stadtrand gebaut. Es ist hier vorauszusehen, dass der Kontakt zu anderen Kindern/Jugendlichen und Familien erschwert wird. Die Folge ist, dass Heimminderjährige nur sich selbst als Umgang mit Menschen zu haben. Der Umgang mit anderen Familien und Menschen ist für einen Heimbewohner von größter Bedeutung, wenn er "Normalität" erfahren soll. Auch innerhalb einer Stadt kann dieses auftreten, wenn ein Heim innerhalb eines Industriegeländes gebaut wird, abgeschnitten von jedem sozialen Umfeld.
Auch große Einrichtungen in kleinen Orten können einen ungünstigen Standort haben, da sie die kleinen Orte mit ihrer großen Heimbewohnerzahl stark überfordern. Der verhältnismäßig kleinen Anzahl von Familien - und damit von Kindern/Jugendlichen - steht eine große Zahl von Heimbewohnern gegenüber. Auch hier scheint es schwierig, "Normalität" zu zeigen. Für Heime in solchen Standorten wird die Situation noch drastischer, wenn es sich ausschließlich um geschlechtsgetrennte Heime handelt. Der hohen Zahl eines Geschlechtes steht eine im Verhältnis geringere Zahl des anderen Geschlechtes gegenüber. Dieses mag für den Leser absurd klingen, aber solch eine Situation kann zur vollständigen Isolierung der Heiminstitution und damit auch der Kinder und Jugendlichen führen, was auch hier nicht dazu beiträgt, "Normalität" zu leben. - Es sind auch viele Fälle bekannt, wo Feindschaften zwischen Ortsbewohnern und Heiminstitutionen zu erkennen sind.[36]
Ein Standortwechsel für das Kind oder den Jugendlichen in die Abgeschiedenheit wird oft damit begründet, dem Bewohner Schonraum zu geben. Im Zwischenbericht wird eine deutliche Aussage darüber gemacht, dass die Möglichkeit des Schonraumes zwar wichtig ist, aber die vielen Heime in sogenannten Schonräumen werden nicht gerechtfertigt, da es nur eine verhältnismäßig geringe Zahl von Kindern und Jugendlichen gibt, die den Schonraum benötigen. Oft wird die Angst der Heimbewohner vor dem Elternhaus als Grund für einen Schonraum angegeben, wobei man sich eher die Frage stellen sollte, ob es nicht sinnvoller ist, dem Kind/Jugendlichen dadurch Sicherheit zu geben, dass die Institution (auch im realitätsnahen Umfeld) seine Sicherheit in der Auseinandersetzung mit der Herkunftsfamilie ist.
Ein Schonraum bedeutet auch, dass diese Maßnahme nur zeitlich begrenzt sein darf. Wenn wir also von Schonraum reden, hat es zur Folge, dass wir auch die Schonzeit meinen. Folglich ist wieder ein Ortswechsel notwendig, nämlich dann, wenn die Schonzeit abgelaufen ist. (Der Heimminderjährige sollte realitätsnah erzogen werden.)
Auch wird die Frage aufgeworfen, ob eine Großstadt ein sinnvoller Standort für Heime sein kann, wo an vielen Ecken Bordells, Spielhallen und Videotheken vorhanden sind. Ein Standort in einer Großstadt kann auch ungeeignet sein, da dort eine große Anonymität herrscht. Der Kontakt zum sozialen Umfeld ist auch hier nicht gegeben.
Der Kontakt zum Elternhaus ist ein wichtiges Kriterium für die Standortwahl. Die Nähe zum Elternhaus entscheidet, ob ein realitätsnaher Umgang mit dem Elternhaus möglich ist.[37]
Die Wahl des Standortes ist auch für die Vielfalt von Ausbildungsmöglichkeiten wichtig, die meist nur größere Orte bieten können. Bei der falschen Wahl, nämlich abgelegen von größeren Orten, sind Heiminstitutionen gezwungen, selber Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen. Das führt wieder zur Isolation der Heimbewohner, selbst wenn die Möglichkeit besteht, Jugendliche und Kinder von außen in die Schulen und Ausbildungsstädten aufzunehmen, da auch hier die Anzahl der Heimbewohner größer ist als die der Jugendlichen und Kinder von außen.[38]
Dieses sind nur einige Aspekte, welche Auswirkungen die Wahl des Standortes auf den Erfolg einer Hilfemaßnahme haben kann.
Bau und Einrichtung von Heimen:
„Den mitunter aufwendigen Bauten in Beton und Glas mit Kleinsthallenbad und Spezialräumen für Schlafen und Essen, für Matsch-Therapie und Malen, für Spielen und Musik wird vorgeworfen, alles andere eher zu sein, als ein Ort, wo Kinder wohnen und das heißt leben können."[39]
Beim Bau des Heimes ist darauf zu achten, dass der Individualbereich berücksichtigt ist.
„
- Positive Statuszuweisung für Kinder bzw. Jugendliche durch Gewährung eines eigenen individuellen Bereiches in kulturell üblicher Form.
- Die räumliche Abgrenzung der individuell genutzten Räume von den von der Gruppe genutzten Räumen und vom Wohnbereich der Pädagogen.
- Wo mehrere Kinder oder Jugendliche zusammenwohnen wollen, sollte das ermöglicht werden. Allerdings ist auch in diesen Fällen auf die Einrichtung von Individualzonen in ein und demselben Raum zu achten.
- Die Einrichtung der Räume muss durch die Bewohner verändert werden können.
- Der Raum muss verschließbar sein und in der Regel nur mit Zustimmung seiner Bewohner betreten werden können.
- Form und Anordnung der Räume soll diese deutlich voneinander unterscheidbar machen (kein Kasernenstil)."[40]
Gruppenbereich:
Der Gruppenbereich ist der gemeinsame Bereich der Kleingruppe. Er fördert Kommunikation, was gerade für Kinder und Jugendliche, die Vereinzelungs-tendenzen haben, notwendig ist.
Der Gruppenbereich sollte Möglichkeiten zur partiellen Versorgung aufweisen; es muss möglich sein, dass Gruppen sich z. B. ein kleines Gericht kochen können.
„Die Gruppenwohnung muss alle jene komplexen Funktionen enthalten, die eine normale Wohnumwelt aufweist. Deshalb sind die räumlichen und einrichtungsmäßigen Voraussetzungen für ungestörten Rückzug, Lesen und Lernen, Schlafen, Kochen und Essen, Hauswirtschaft, Vorratshaltung. Hygiene, Rekreation, Spiel und Freizeit und Gruppenkommunikation zu schaffen."[41]
Der Gemeinschaftsbereich in Heimen, die mehr als eine Gruppe haben, sollte so ausgestattet sein, dass z. B. lernintensive Beschäftigungen oder motorische Betätigungen mit größerem Raumbedarf möglich sind. Dieser Bereich kann die Kontakt- und Übergangsstelle zwischen Institution und Öffentlichkeit sein."[42]
Edukation:
Der Heimbericht geht auch noch auf die Problematik der Trennung der Geschlechter ein. Hierzu ist zu sagen, "die Fähigkeit, Liebe und familiäre Bindungen zu genießen und zu gewähren, setzt auch den ungezwungenen und alltäglichen Umgang zwischen Jungen und Mädchen voraus. Deshalb soll eine Klassifizierung der Heime (Gruppen!) nach dem Geschlecht der Minderjährigen aufgegeben werden. Das gilt auch für Heime mit einem Aufnahmealter über 12 Jahre ..."[43]
[...]
[1] z. B. G. Mager 1982
[2] vgl. N. Luhmann 1988
[3] Ergänzt im Jahr 2008
[4] Vgl. M. Sauer 1979, S. 16
[5] Vgl. M. Sauer 1979, S. 18 ff
[6] M. Sauer 1979, S. 25 f
[7] Vgl. M. Sauer 1979, S. 25 ff
[8] Vgl. M. Sauer 1979, S. 39
[9] Vgl. M. Sauer 1979, S. 50
[10] Vgl. M. Sauer 1979, S. 51
[11] M. Sauer 1979, S. 61
[12] M. Sauer 1979, S. 72
[13] M. Sauer 1979, S. 77
[14] M. Sauer 1979, S. 82-87
[15] M. Sauer 1979, S. 93
[16] M. Sauer 1979, S. 94
[17] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 61
[18] Vgl. H. Kupfer 1978, S. 12 fff
[19] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 54 f
[20] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 55 f
[21] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 56
[22] vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 62
[23] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 63
[24] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 64
[25] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 64 fff
[26] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 67
[27] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 90 ff
[28] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 97
[29] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 98
[30] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 98
[31] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 100
[32] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 101
[33] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 104 f
[34] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 106 f
[35] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 125-131
[36] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 144 ff
[37] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 146 f
[38] Vgl. Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 148 f
[39] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 152
[40] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 153
[41] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 154
[42] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 155
[43] Zwischenbericht Kommission Heimerziehung 1977, S. 161
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