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Mehr InfosBachelorarbeit, 2006, 65 Seiten
Bachelorarbeit
Universität Vechta; früher Hochschule Vechta (Sprachwissenschaft, Anglistik und Germanistik)
1,3
Einleitung
Die Sprache als wesentliches den Menschen auszeichnendes Merkmal ist nicht - wie möglicherweise anzunehmen - dem Menschen von Geburt an mitgegeben, sondern muss sich innerhalb einer Sprachgemeinschaft entwickeln und ist demzufolge bei der Geburt nicht festgelegt. Stattdessen ist der Mensch am Anfang seines Lebens in der Lage, sich jede beliebige Sprache anzueignen und ist bei der Ausbildung seiner sprachlichen Fähigkeiten nicht auf eine einzige Sprache beschränkt. Dies stellt auch Wandruszka fest:
„In seinem Gehirn ist Raum für mehrere Sprachen, die er sich nebeneinander einprägt, die er miteinander in Verbindung bringt, in tausendfachen Quer- und Rückverbindungen.“[1]
Doch nicht die biologischen Voraussetzungen bewirken, dass der Mensch mehrere Sprachen erlernt, sondern die Tatsache, dass er aufgrund des Hineinwachsens in oft sehr unterschiedliche Gemeinschaften die Sprachen jener lernt und auf diesem Weg dazu gelangt, mehrere Sprachen zu sprechen. Nach Wandruszka besitzt jeder die Fähigkeit, verschiedene Sprachen sowohl zu verstehen als auch anzuwenden, sich immer neu anzueignen, aber auch wieder zu vergessen.[2] Sprache zu erlangen ist jedoch kein automatischer Prozess, sondern „ein oft mühevolles, immer unvollkommenes Lernen und wieder Vergessen verschiedener Sprachen“ und entgegen der Vorstellungen Chomskys eines idealen Sprechers, der seine Sprache in einer absolut homogenen Gemeinschaft perfekt beherrsche, geht Wandruszka davon aus, dass der Mensch nie eine vollkommene Beherrschung seiner Sprache erlangt, und bestreitet zudem die Existenz einer völlig homogenen sprachlichen Gemeinschaft.[3]
Wandruszkas Ablehnung einer solchen Vorstellung stößt auf große Zustimmung, denn aufgrund der Tatsache, dass es wesentlich mehr Sprachen als Länder gibt, ist davon auszugehen, dass praktisch in jedem Land zwei oder mehrere Sprachen gesprochen werden. Daher stellt nicht Bi- bzw. Multilingualismus eine Ausnahme dar, sondern Monolingualismus.
„From a global societal perspective, of course, most of the world´s speech communities use more than one language and are therefore multilingual rather than homogenous. It is thus monolingualism which represents a special case.”[4]
Mackey betont, dass Bilingualismus ein Phänomen ist, das den größten Teil der Weltbevölkerung betrifft und auch in monolingualen Gemeinschaften vorkommt, denn auch diese sind nicht homogen, da es gewöhnlich regionale, soziale ebenso wie stilistische Varietäten einer Sprache gibt.[5]
Es existiert also keine gemeinsame einheitliche Sprache, was unter anderem auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zurückzuführen ist, denn auf der ganzen Welt kommen Menschen aus verschiedenen Gründen zusammen, wodurch nicht nur unterschiedliche Wertvorstellungen, Denkweisen, Kulturen und Religionen aufeinander treffen, sondern vor allem auch Sprachen. Durch eine erhöhte Anzahl an Migranten und sprachlichen „Mischehen“ nimmt die Zahl der Menschen, die eine andere Muttersprache als die Sprache des Landes sprechen, zu und so gerät das Thema Bilingualismus mehr und mehr in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses.[6] Diese Entwicklungen ebenso wie längere Aufenthalte im Ausland oder Flucht aus dem Ausland stellen Eltern vor die Frage, ob sie ihre Kinder mit zwei Sprachen aufwachsen lassen sollen oder nicht.[7]
Während diesem Thema in der Bundesrepublik Deutschland früher ein geringes Interesse galt, da es kaum sprachliche Minderheiten gab und Deutschland dementsprechend zum größten Teil monolingual war, so hat sich die Sprachenvielfalt durch die gesellschaftlichen Entwicklungen stark verändert, was dazu führte, dass sich das wissenschaftliche Interesse zunehmend auf das Phänomen des Bilingualismus richtete, jedoch die Anzahl größerer empirischer Untersuchungen bis heute noch sehr begrenzt bleibt.[8] Doch nicht nur der Zuwachs ausländischer Migranten regt die Diskussion an, sondern vor allem auch die Kritik am Bildungssystem, das bisher vor allem Veränderungen im schulischen und universitären Bereich vorsah, seit der PISA-Studie jedoch auch den Blick auf den Vorschulbereich richtet. Wissenschaftler sowie Bildungspolitiker wollen die Kinder nun bereits in frühen Jahren mehr fördern und haben dies auch auf der sprachlichen Ebene vor.[9] Diese frühe Förderung von Kindern bereits vor der Einschulung kann in Anbetracht der heutzutage in der Arbeitswelt gestellten Ansprüche nur von Vorteil sein, denn aufgrund der zunehmenden Globalisierung geraten die sprachlichen Fähigkeiten immer stärker in den Mittelpunkt und werden bereits vielfach vorausgesetzt.
Jedoch ist die Spracherwerbs- und Kindersprachenforschung noch nicht sehr lang Gegenstand der Forschung. Nicht Sprachwissenschaftler, sondern Mediziner und Philosophen beschäftigten sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts erstmals mit diesem Bereich. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die kindliche Sprachfähigkeit schließlich aus linguistischer Sicht betrachtet, wobei sich die Forschungen zu diesem Zeitpunkt vor allem auf Selbsterfahrenes oder auf die Beobachtung der eigenen Kinder stützten. Inzwischen gibt es viele Veröffentlichungen zum Spracherwerb bei Kindern, welche sich auf viele verschiedene Aspekte beziehen, wodurch das Forschungsfeld erweitert wurde und die Disziplinen Linguistik, Psychologie, Pädagogik, Neurobiologie, Soziologie sowie Didaktik mit einbezogen wurden.[10]
Den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit zum Thema „Bilingualismus in der frühen Kindheit“ bildet der frühe Zweitspracherwerb bei Kindern vom Zeitpunkt der Geburt bis zum Eintritt in die Schule. Dabei soll die Entwicklung der Zweisprachigkeit im institutionellen Rahmen jedoch nicht vollkommen außer Acht gelassen werden.
Im ersten Kapitel soll der Begriff „Bilingualismus“ diskutiert und versucht, definiert zu werden. Die Begriffe Sprachkompetenz und Sprachgebrauch werden bei der Frage nach einer Definition eine große Rolle spielen und bilden die Basis zweier Ansätze zu diesem Phänomen. Des Weiteren soll dargestellt werden, welche Sprecher als ‚bilingual’ zu bezeichnen sind und es wird der Versuch unternommen, die bilingualen Sprecher zu klassifizieren.
Das darauf folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Sprachentwicklung. Es setzt sich mit den Vorgängen im Gehirn sowie mit der Frage, ob sich bei bilingualen Sprechern andere Abläufe im Gehirn abspielen als bei monolingualen Sprechern, auseinander. Weiterhin soll beantwortet werden, ob es so etwas wie ein optimales Alter gibt und in diesem Zusammenhang wird die Theorie der ‚kritischen Periode’ diskutiert.
Das dritte Kapitel wird den größten Teil der Arbeit ausmachen, da es sich umfassend mit dem bilingualen Zweitspracherwerb des Kindes beschäftigt. Dabei soll zuerst der Erstspracherwerb zum Vergleich, aber auch als Grundlage für den Zweitspracherwerb thematisiert werden, bevor der natürliche Bilingualismus im Rahmen der Familie sowie der künstliche Bilingualismus in einer Institution in den Mittelpunkt rücken und jene Faktoren, die sowohl die natürliche als auch die künstliche Form des Zweitspracherwerbs beeinflussen, angeführt werden. Im Anschluss daran wird das Phänomen des Code-switchings, das häufig bei zweisprachigen Erwachsenen sowie Kindern beobachtet wird, dargestellt.
Inhalt des letzten Kapitels soll der frühe Zweitspracherwerb in der öffentlichen Diskussion sein, wobei zuerst die weit verbreiteten positiven sowie negativen Urteile und Vorurteile aufgezeigt werden und im Anschluss daran die Weiterentwicklung des bilingualen Kindes hinsichtlich der Schulzeit und des Erwachsenenalters im Mittelpunkt steht.
Die Frage, was unter dem Begriff „Bilingualismus“ genau verstanden wird, ist nicht ohne Weiteres zu beantworten, da in der Fachliteratur bisher keine einheitliche Definition festgelegt werden konnte. Es existieren zwar zahlreiche Auslegungen, jedoch zeichnen sich diese häufig dadurch aus, dass sie entweder zu ungenau sind oder sich widersprechen. Einigkeit scheint Lambeck zufolge nur darin zu bestehen, dass es sich bei der Zweisprachigkeit um einen Zustand handelt, „der dadurch gekennzeichnet ist, dass mehr als eine Sprache in Erscheinung tritt.“[11] In eine ähnliche Richtung gehen Andersson & Boyer, die jedoch bereits die Begriffe der Kenntnis und des Gebrauchs der zwei Sprachen mit einbeziehen, indem sie erklären, dass „the only agreement among its various users is that it refers to the knowledge and use of two languages by the same person.“[12] Durch die Voraussetzung, dass jeder bilinguale Sprecher die Sprache sowohl verstehen als auch anwenden können muss, ist diese Aussage nicht mehr so allgemein wie die von Lambeck und wie später zu sehen ist, stimmen nicht alle darin überein, dass jede zweisprachige Person beide Tätigkeiten beherrschen muss.
Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung und Erforschung dieses Begriffes liegen darin begründet, dass zahlreiche Ansichten vorliegen und demzufolge allgemeine Uneinigkeit über den Gegenstand selbst herrscht. Diese unterschiedlichen Auffassungen von Bilingualismus kommen dadurch zustande, dass viele verschiedene Disziplinen bei der Forschung dieses Gegenstands involviert sind, die das Phänomen Bilingualismus jeweils von ihrem eigenen Standpunkt und Forschungsbereich aus betrachten. Aufgrund dessen kann es zu widersprüchlichen Ansichten der einzelnen Disziplinen kommen, was bei der Bestimmung des Begriffes zu Verwirrung führen kann. Saville-Troike beschreibt dieses Problem folgendermaßen:
„One explanation for the difficulties in circumscribing the field of bilingualism is the multidisciplinary nature of the aspects involved. The various disciplines involved in analysing the phenomenon, be they linguistics, psychology, sociology or pedagogy, approach it from their own particular vantage point, leading at times to an appearance of confusion, though in fact this is not necessarily the case. Nevertheless, the term bilingualism covers a diverse series of programmes.”[13]
Wie bereits bei Saville-Troike erwähnt, spielen die Disziplinen Linguistik, Psychologie, Soziologie ebenso wie die Pädagogik eine Rolle bei der Erforschung von Zweisprachigkeit. Dadurch, dass die einzelnen Disziplinen Bilingualismus aus ihrer Sicht betrachten, vernachlässigen sie die anderen, was dazu führt, dass bei allen irgendein Aspekt fehlt. So erstellt der Linguist beispielsweise Theorien über die Beeinflussung der Sprache und sprachliche Interferenzen, lässt jedoch soziologische Aspekt wie die Beeinflussung der Sprache durch die Umwelt außen vor. Ebenso verhält es sich mit den anderen Disziplinen, die sich lediglich auf ihr Gebiet konzentrieren und die anderen dabei außer Acht lassen, was zu vielen unterschiedlichen Ansichtsweisen dieses Phänomens führt.[14]
Auch Romaine stellt fest, dass sich die einzelnen Disziplinen vor allem auf ihren Forschungsbereich beziehen und dass „in each of these disciplines, however, bilingualism is too often seen as incidental and has been treated as a special case or as a deviation from the norm.“ Romaine betont, dass jede einzelne Disziplin zwar dazu beiträgt, dass das Phänomen Bilingualismus besser verstanden wird, jedoch könnte Zweisprachigkeit nur vollkommen erfasst werden, indem man sich die Wechselwirkungen der Disziplinen vor Augen führt.[15]
Es gibt prinzipiell zwei Forschungsrichtungen, die aus den unterschiedlichen Disziplinen entsprungen sind: die Psycholinguistik und die Soziolinguistik.[16] Während sich die Psycholinguistik auf der Ebene des Individuums bewegt und dementsprechend bei der Erforschung von Bilingualismus in erster Linie darauf achtet, wie gut der Einzelne die Sprache beherrscht, beschäftigt sich die Soziolinguistik mit Bilingualismus als ein gesellschaftliches Phänomen, bei dem die Benutzung der Sprache ihrer sozialen Funktion entsprechend im Vordergrund steht. Demzufolge steht bei dem psycholinguistischen Ansatz die Sprachkompetenz des Individuums im Zentrum, während bei dem soziolinguistischen Ansatz der Sprachgebrauch den Mittelpunkt der Forschung einnimmt.[17] Bilingualismus muss demnach von zwei verschiedenen Standpunkten aus gesehen werden und zwar einmal aus Sicht des Individuums und zum anderen aus gesellschaftlicher Perspektive, denn „bilingualism exists within cognitive systems of individuals, as well as in families and communities.“[18]
Bei der Erforschung von Sprache standen zu Anfang vor allem das Individuum und dessen kognitiven Prozesse im Vordergrund, so dass sich die Forschung insbesondere auf psycholinguistische Aspekte bezog. Erst später rückte der Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft und somit die Soziolinguistik ins Zentrum der Forschung. Aus diesem Grund gibt es auch weniger Literatur, die sich aus soziologischer Sicht mit dem Thema Bilingualismus beschäftigt als aus psychologischer Sicht.[19]
Ebenso wie es zwei unterschiedliche Ansätze zu diesem Phänomen gibt, so unterscheiden sich auch die Begrifflichkeiten. Während viele keinen Unterschied in der Bezeichnung machen, wenn es um die individuelle bzw. die gesellschaftliche Zweisprachigkeit geht, so nimmt Fishman hier eine Unterscheidung in Bilingualismus und Diglossie vor, wobei sich der erste Begriff auf die Psycholinguistik bezieht und der zweite im Bereich der Soziolinguistik verwendet wird.[20] Ebenso wie Fishman unterscheiden auch Hamers & Blanc auf diesen beiden Ebenen zwischen psycholinguistischem und soziolinguistischem Ansatz. Im Gegensatz zu Fishman bezeichnen Hamers & Blanc jedoch Bilingualismus als Zustand einer linguistischen Gemeinschaft, während sie den psychologischen Zustand des Individuums als Bilingualität bestimmen.[21] Aufgrund der Tatsache, dass der Begriff Bilingualismus zweimal unterschiedlich benutzt wird und dies lediglich zu Verwirrung führen könnte, wird im Folgenden keine weitere Unterteilung vorgenommen, sondern einheitlich der Begriff Bilingualismus verwendet.
Wie bereits zuvor erwähnt, bezieht sich dieser Ansatz auf die Sprachkompetenz der bilingualen Sprecher, wobei vor allem zwei extreme Positionen aufgezeigt werden.
Die idealtypischen Definitionen stammen vor allem von Bloomfield und Braun. Bloomfield geht davon aus, dass ein bilingualer Sprecher in beiden Sprachen vollständige Sprachkompetenz, die der eines monolingualen Sprechers gleichzusetzen sei, besitzen muss und definiert Bilingualismus demnach als „the native-like control of two languages.“ Bloomfield fordert also einen „perfekten bilingualen Sprecher.“[22]
Ähnlich wie Bloomfield, fordert auch Braun von einem bilingualen Sprecher „active, completely equal mastery of two or more languages.“ Doch bei der Betrachtung dieser Definitionen wird schnell deutlich, dass nach dieser Auslegung kaum jemand als bilingual bezeichnet werden kann, da bilinguale Sprecher mit einer vollständigen Sprachkompetenz in beiden Sprachen sehr selten vorkommen, d.h. wenn sie überhaupt existieren.[23]
Auch Zydatiß geht davon aus, dass diese Vorstellung eines bilingualen Sprechers, der muttersprachliche Kompetenz in beiden Sprachen vorweisen kann, in der Regel nicht der Realität entspricht, sondern immer eine Sprache besser beherrscht wird als die andere.[24] Der Ablehnung einer solchen Vorstellung schließt sich auch Skutnabb-Kangas an:
„The results of various investigations do in fact show that it is quite difficult to find bilinguals who would maintain that they have a complete command of two languages, or are able to use two languages well for all purposes.”[25]
Entgegen dieser Vorstellung von Bloomfield und Braun, liegen Definitionen vor, die die Gegenposition einnehmen und von einer minimalen Kompetenz ausgehen, um einen Sprecher als bilingual bezeichnen zu können. Vertreter dieser Ansicht sind unter anderem Haugen und MacNamara. Mit seiner Definition eines bilingualen Sprechers als „one who knows two languages“[26] hält Haugen seine Bestimmung dieses Begriffs sehr allgemein, doch schränkt seine Vorstellung eines bilingualen Sprechers noch insofern ein, dass er den Beginn der Zweisprachigkeit an dem Punkt festlegt „when the speaker of one language can produce complete meaningful utterances.“[27]
MacNamara verlangt von einem Sprecher lediglich die Beherrschung einer der vier Sprachfertigkeiten sprechen, schreiben, lesen, verstehen oder eine minimale Kompetenz in einer der genannten Fertigkeiten, um ihn als bilingual bezeichnen zu können.[28]
Diebold geht mit seinem Begriff incipient bilingualism noch einen Schritt weiter und reduziert die Sprachkompetenz auf ein passives Verständnis der Sprache. Seiner Ansicht nach kann eine Person als bilingual bezeichnet werden, die die Sprache selber nicht beherrscht, aber in der Lage ist, Äußerungen in der Zweitsprache zu verstehen, was unter Linguisten als receptive oder passive bilingualism bezeichnet wird. Diebolds Definition zufolge könnte jede Person als incipient bilingual eingestuft werden, weil wahrscheinlich jeder ein paar Wörter aus einer anderen Sprache kennt.[29]
Zusammenfassend stellt Fantini treffend heraus, dass…
„…the definition of bilingualism ranges all the way from the extreme of ‚equal mastery’ to the opposite pole in which individuals have at least some knowledge (even if only receptive) in at least one skill (even if only reading) in a second language.”[30]
Zwischen diesen beiden dargestellten Extremen gibt es eine ganze Reihe von Definitionen, jedoch kann keine feste bestimmt werden. Festzuhalten sei demnach, dass Bilingualismus ein relatives Konzept ist, denn nach Mackey ist der Zeitpunkt, zu dem ein Sprecher bilingual wird, entweder beliebig oder unmöglich festzulegen.[31] Trotz unterschiedlich ausgeprägter Fähigkeiten und Kenntnisse in den zwei oder mehreren Sprachen kann eine Person je nach Auslegung des Begriffes ‚Bilingualismus’ als zweisprachig angesehen werden oder auch nicht.[32] Kielhöfer & Jonekeit zufolge lässt sich Zweisprachigkeit nicht objektiv bestimmen. Das entscheidende Kriterium sei „das Bewußtsein der Zweisprachigkeit, das individuelle Gefühl, in beiden Sprachen ‚zu Hause zu sein’.“[33]
Zu Beginn der Forschung des Phänomens ‚Bilingualismus’ wurden vor allem psycholinguistische Aspekte in den Blick genommen, jedoch wurde schnell klar, dass etwas Wichtiges fehlte. Da Sprache nur in einem sozialen Kontext, also in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen, auftritt, wurde deutlich, dass der sozialen Umwelt bei der sprachlichen Entwicklung besondere Relevanz zukommt. Aus diesem Grund rückte der soziologische Aspekt immer weiter ins Zentrum der Forschung, denn dieser neue Ansatz war nicht nur zeitlich angebracht, sondern auch notwendig, um das komplexe Phänomen der Zweisprachigkeit besser verstehen zu können. Trotz der Einsicht, dass dieser neue Ansatz von großer Bedeutung sei, blieb der Sprachgebrauch, insbesondere bei bilingualen Kindern, lange Zeit ein relativ unerforschter Bereich.[34]
Im Gegensatz zum psycholinguistischen Ansatz beschäftigt sich die Soziolinguistik nicht mit der Verinnerlichung von Regeln und linguistischen Kompetenzen, sondern mit dem Gebrauch der Sprache in bestimmten sozialen Situationen. Sie fragt danach, wie, wann und wo Sprachen erworben und angewendet werden.
Mackey stellt diesen neuen gesellschaftlichen Aspekt heraus, indem er betont, dass Bilingualismus kein Bereich der Sprache (langue), sondern des Gebrauchs (parole) sei:
„Bilingualism is not a phenomenon of language; it is a characteristic of its use. It is not a feature of the code but of the message. It does not belong to the domain of ‘langue’ but of ‘parole’.”[35]
Des Weiteren definiert Mackey ‘Bilingualismus’ als „the alternate use of two or more languages by the same individual.“[36] Er bezieht sich mit seiner Definition ebenso wie Weinreich auf die abwechselnde Verwendung von zwei oder mehreren Sprachen durch eine Person. Weinreichs klassische auf den Sprachgebrauch bezogene Definition des Begriffs ist der von Mackey sehr ähnlich:
„The practice of alternately using two languages will be called BILINGUALISM, and the persons involved, BILINGUAL.”[37]
Andersson & Boyer beziehen sich zwar auch auf den Sprachgebrauch, stimmen jedoch mit den Ansichten Weinreichs und Mackeys nicht vollkommen überein, da ihrer Meinung nach jemand als bilingual bezeichnet werden könnte, ohne dass er eine der beiden bekannten Sprachen benutzt. Es wird zwar vorausgesetzt, dass die Person beide Sprachen versteht, jedoch wird der aktive Gebrauch nicht unbedingt verlangt.[38] Wie bereits bei dem psycholinguistischen Ansatz erwähnt, handelt es sich dabei um receptive oder passive bilinguals.
Bei diesen Definitionen wird ganz deutlich, dass nicht die sprachliche Kompetenz im Zentrum steht, sondern das von der sozialen Umwelt abhängige Anwenden der Sprache. Romaine zufolge zeigt die Tatsache, dass Personen in verschiedenen Situationen unterschiedliche Sprachen oder Varietäten gebrauchen, dass nicht jede Sprache zu jedem Zeitpunkt angebracht ist. Die Wahl der Sprache ist nicht beliebig, sondern hängt von Anforderungen und Bedingungen der jeweiligen Situation ab:
„The fact that speakers select different languages or varieties for use in different situations shows that not all languages / varieties are equal or regarded as equally appropriate or adequate for use in all speech events.”[39]
Ebenso wie Romaine, heben auch Hamers & Blanc hervor, dass die beiden Sprachen unterschiedlich häufig, in unterschiedlichen Bereichen und für unterschiedliche Zwecke angewendet werden:
„When two languages are in contact in the society, they may be used to a different extent, in different domains and for different functions in a state of functional equilibrium.“[40]
Es ist also festzuhalten, dass die Soziolinguistik sich vor allem damit auseinandersetzt, wann und zu welchem Zweck Sprache verwendet wird. Das Bewusstsein, dass Sprache lediglich vollkommen verstanden werden kann, wenn der Sprachgebrauch nicht ignoriert wird, führte zu einem soziolinguistischen Ansatz. Da Kinder Sprache nur erwerben, wenn sie in eine sprachliche Gemeinschaft hineingeboren werden und dementsprechend ohne ein soziales Umfeld die Entwicklung der Sprache undenkbar wäre, wird deutlich, dass der Sprachgebrauch neben der Sprachkompetenz eine erhebliche Rolle beim Spracherwerb darstellt.[41]
Es gibt zahlreiche Definitionen von Zweisprachigkeit, jedoch kann man diese weder nur an der Sprachkompetenz noch lediglich am Sprachgebrauch festmachen. Bilingualismus ist ein Phänomen, das nicht fest definiert werden kann, jedoch kann man sagen, dass es sowohl mit individuellen als auch gesellschaftlichen Aspekten zusammenhängt, so dass zwischen den beiden Ansätzen der Psycho- sowie der Soziolinguistik keine klare Abtrennung möglich ist. Ebenso wie die einzelnen Disziplinen, die sich mit der Zweisprachigkeit auseinandersetzen, beeinflussen sich diese beiden Bereiche gegenseitig. Dieses Thema sollte daher nicht von einem bestimmten Aspekt aus gesehen werden. Stattdessen sollte der Wechselwirkung der unterschiedlichen Ansätze Beachtung geschenkt werden. Im folgenden Verlauf, der sowohl psycholinguistische als auch soziolinguistische Aspekte beinhaltet, soll daher nicht weiter auf die Trennung dieser beiden Ansätze eingegangen werde.
Es ist zwar nicht möglich, eine klare Definition zur Zweisprachigkeit zu liefern, jedoch können die einzelnen bilingualen Sprecher bestimmten Typen zugeordnet werden, die es erleichtern, den Begriff ein wenig einzugrenzen. Aus diesem Grund soll im folgenden Teil versucht werden, die bilingualen Sprecher zu klassifizieren.
Da sich der Versuch, den Begriff Bilingualismus auf eine einheitliche Definition festzusetzen, als unmöglich erwiesen hat, soll die Zweisprachigkeit nun anhand von bestimmten Kategorien eingegrenzt und bilinguale Sprecher so bestimmten Typen zugeordnet werden. Doch auch die Festlegung von bilingualen Typen stellt sich als keine einfache und eindeutige Aufgabe heraus, da es viele verschiedene Beschreibungen von bilingualen Sprechern gibt, von denen einige im Folgenden kurz beschrieben werden sollen. Im Anschluss daran werden zwei Klassen bilingualer Sprecher ein wenig ausführlicher behandelt.
Wie bereits bei dem psycholinguistischen Ansatz beschrieben wurde, können bilinguale Sprecher nach ihrer relativen Fähigkeit, die beiden Sprachen anzuwenden, klassifiziert werden. Dabei reicht die Spanne der unterschiedlichen Typen von Sprechern, die aufgrund des Verstehens einzelner Begriffe oder Äußerungen einer fremden Sprache als bilingual bezeichnet werden, bis zu jenen Sprechern, die beide Sprachen perfekt und in gleichem Maße beherrschen. Am Anfang dieser Reihe steht der Begriff des incipient bilingual, den Diebold eingeführt hat, um die anfängliche Begegnung zwischen zwei Sprachen zu beschreiben. So kann eine Person Diebold zufolge bereits als bilingual bezeichnet werden, wenn sie lediglich einzelne Wörter oder Äußerungen in der zweiten Sprache verstehen kann. Dies führt weiter zu dem bereits ebenfalls zuvor erwähnten receptive oder passive bilingual, der zwar in der Lage ist, eine zweite Sprache entweder in gesprochener oder geschriebener Form zu verstehen, von dem jedoch nicht verlangt wird, dass er die Zweitsprache selber spricht oder schreibt. Der aktive Gebrauch der Sprache wird also nicht gefordert.[42] Den Gegenpart des receptive bilingual stellt derjenige Sprecher dar, der die zweite Sprache aktiv nutzt, d.h. dass diese Person die beiden Sprachen nicht nur versteht, sondern auch spricht und möglicherweise schreibt. Dieser Typ wird productive bilingual genannt.[43] Am Ende dieser Reihe steht der balanced bilingualism bzw. equilingualism, der eine ausgeglichene Beherrschung beider Sprachen vorsieht. Sprecher dieses Typus wenden ihre zwei Sprachen gleich gut an und sind in beiden Sprachen annährend mit monolingualen Sprechern gleichzusetzen. Diese Form des Bilingualismus ist dem ambilingualism ähnlich, der sich vom equilingualism darin unterscheidet, dass zu keinem Zeitpunkt und in keiner Situation die eine Sprache bei dem Gebrauch der anderen Sprache auftaucht. Im Gegensatz zum ambilingualism können equilinguals daher von monolingualen Sprecher unterschieden werden.[44] Die bisher genannten Klassen bilingualer Sprecher haben sich vor allem auf die unterschiedlichen Fähigkeiten in Hinsicht auf die Sprachkompetenz bezogen.
Eine weitere Unterscheidung bezieht sich auf die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten in Abhängigkeit von dem relativen Status der beiden Sprachen in der Gesellschaft. Je nachdem wie die zwei Sprachen im sozialen Umfeld angesehen sind, können unterschiedliche Formen des Bilingualismus entwickelt werden. Wenn die beiden Sprachen in der Gesellschaft geschätzt werden, so wirkt sich dies positiv auf die kognitive Entwicklung der Sprachen aus. Das positive Ansehen der Sprachen stellt also eine Bereicherung dar und führt bei bilingualen Sprechern im Vergleich zu monolingualen Sprechern zu einer größeren kognitiven Flexibilität. Diese auf die kognitive Entwicklung bezogene Art der Zweisprachigkeit wird als additive bilingualism bezeichnet. Auf der anderen Seite ist es jedoch auch möglich, dass sich die kognitive Entwicklung verzögert, wenn eine der Sprachen in der sozialen Umgebung des Kindes abgewertet wird. Es kommt zu einem Wettbewerb der zwei Sprachen, bei der das geringe Ansehen der einen Sprache dazu führen kann, dass diese kaum oder gar nicht mehr gesprochen wird und sich zudem negativ auf die sprachliche Entwicklung auswirken könnte. Dieser Typ wird subtractive bilingualism genannt.[45]
Nachdem dieser kurze Überblick über mögliche Klassifizierungen bilingualer Sprecher gegeben wurde, wobei dies jedoch nicht alle Typen sind, werden zwei Klassen ein wenig genauer beschrieben. Dabei handelt es sich zum einen um den kompositionellen und koordinierten Bilingualismus und zum anderen um den frühen und späten Bilingualismus.
Im Folgenden wird auf eine Klassifizierung eingegangen, die sehr häufig angeführt wird und daher auch hier erwähnt werden sollte. Dabei handelt es sich um die am häufigsten diskutierte Unterscheidung, nämlich die von kompositionellem bzw. zusammengesetztem und koordiniertem Bilingualismus, die erstmals so von Weinreich vorgenommen wurde, der noch eine dritte Form von den anderen beiden abgrenzte, die hier jedoch nicht erwähnt wird, da diese weitere Form außer bei Weinreich kaum angeführt wird. Auch Ervin & Osgood, die sich nach Weinreich mit dieser Unterscheidung auseinandergesetzt haben, differenzieren lediglich zwischen kompositionellem und koordiniertem Bilingualismus.[46] Diese Klassifizierung bezieht sich auf die kognitive Organisation der beiden Sprachen. Beim koordinierten Bilingualismus werden die Sprachen in verschiedenen Kontexten gelernt, wie z.B. im Elternhaus und anschließend in der Schule, im Ausland oder bei der Arbeit. Die zweite Sprache wird demzufolge erworben, nachdem sich die Muttersprache entwickelt hat, so dass sich neben dem System der Erstsprache ein weiteres System für die zweite Sprache ausbildet. Koordinierte Bilinguale verfügen folglich über zwei Systeme, die unabhängig voneinander sind. Die Wörter beider Sprachen werden getrennt gehalten und haben je nach Sprache eine eigene spezielle Bedeutung. Im Gegensatz dazu steht der kompositionelle Bilingualismus, bei dem die beiden Sprachen im gleichen Kontext und vor dem Eintritt in die Schule gelernt werden, so dass sich nicht zwei Systeme herausbilden, sondern ein gemeinsames für beide Sprachen. Da die beiden Sprachen annährend zum selben Zeitpunkt ausgebildet werden, lernt das Kind von Anfang an jeweils zwei Wörter für einen Gegenstand oder Begriff. Ein einzelnes Konzept kann also durch zwei Wörter ausgedrückt werden, die aber ein und demselben System entspringen und daher auch nur eine Bedeutung haben. Bei diesem Typ sind die Sprachen voneinander abhängig.[47]
[...]
[1] Wandruszka 1981, S. 313
[2] vgl. Wandruszka 1981, S. 13
[3] vgl. Wandruszka 1981, S. 313
[4] Romaine 1996, S. 8
[5] vgl Romaine 1996, S. 9
[6] vgl. Nauwerck 2005, S. 15
[7] vgl. Kielhöfer/Jonekeit 1983, S.7
[8] vgl. Lambeck 1984, S. 9
[9] vgl. Nauwerck 2005, S. 11
[10] vgl. Nauwerck 2005, S. 15
[11] Lambeck 1984, S. 12
[12] Fantini 1985, S. 13
[13] Saville Troike 1973, S. 93, zitiert nach Baetens Beardsmore 1982, S. 3
[14] vgl. Weinreich 1974, S. 4
[15] vgl. Romaine 1996, S. 8
[16] vgl. Porsché 1983, S. 9
[17] vgl. Lambeck 1984, S. 11
[18] Romaine 1996, S. 8
[19] vgl. Fishman 1977, S. 6/73
[20] vgl. Fishman 1977, S. 73
[21] vgl. Hamers/Blanc 2000, S. 6
[22] vgl. Hamers/Blanc 2000, S. 6
[23] vgl. Fantini 1985, S. 14
[24] vgl. Zydatiß 2000, S. 55
[25] Skutnabb.Kangas 1981, S. 37
[26] Haugen 1956, zitiert nach Fantini 1985, S. 14
[27] Romaine 1996, S. 11
[28] vgl. Hamers/Blanc 2000, S. 6
[29] vgl. Romaine 1996, S. 11
[30] Fantini 1985, S. 14
[31] vgl. Romaine 1996, S. 12
[32] vgl. Fantini 1985, S. 14
[33] Kielhöfer/Jonekeit 1983, S. 11
[34] vgl. Fantini 1985, S. 2
[35] Mackey 1970, S. 554, zitiert nach Fantini 1985, S. 15
[36] Mackey 1957, S. 51, zitiert nach Beatens Beardsmore 1982, S. 2
[37] Weinreich 1974, S. 1
[38] vgl. Fantini 1985, S. 13f.
[39] Romaine 1996, S. 9
[40] Hamers/Blanc 2000, S. 21
[41] vgl. Fantini 1985 S. 2f.
[42] vgl. Romaine 1996, S. 11
[43] vgl. Baetens Beardsmore 1982, S. 16
[44] vgl. Baetens Beardsmore 1982, S. 7-9
[45] vgl. Hamers/Blanc 2000, S. 29
[46] vgl. Klein 1992, S. 24
[47] vgl. Romaine 1996, S. 78f.
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