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Mehr InfosWissenschaftliche Studie, 2008, 94 Seiten
Wissenschaftliche Studie
Leuphana Universität Lüneburg (Angewandte Kulturwissenschaften, Sprache und Kommunikation)
EINLEITUNG
I.MELANCHOLISCHEREINBLICK
I.1 Melancholie als Diskurstradition
I.1.1 Drei wertneutrale Melancholieauffassungen
I.1.2 Die pathologische Kategorie der Melancholie
I.1.3 Ästhetisierte Melancholie
I.2 Ein Melancholiebegriff
I.2.1 Beobachtungen am Zustand der Melancholie
I.2.2 Eine Perspektive der Melancholie
II.GELEBTEMELANCHOLIE
II.1 Melancholie des Tango
II.1.1 Melancholische Momente der Protagonisten des Tango
Soziokulturelle Gegebenheiten in der Metropolis Buenos Aires
um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert
Tango-Texte
Melancholie des Bandoneons
II.1.2 Melancholischer Tango
II.2 Melancholie der Modernen Gesellschaft Europas
II.2.1 Eine Stimmungsskizze der Gesellschaft das Melancholische Gestimmtsein
II.2.2 Befindlichkeiten in der Metropole Berlin
während der ersten Tango-Rezeption
II.2.3 Gesellschaftliche Stimmungen während der zweiten Tango-Rezeption
III.DERTANGOINEUROPA –MELANCHOLISCHEBLICKWECHSEL
III.1 Analyse der Tangorezeption in Europa
III.1.1 Tango der gesellschaftlichen Melancholie
III.1.2 Parallele Momente des Tango und der Modernen Gesellschaft
EXKURS: Die Tango-Tanzenden und ihr Tanz
III.1.2 Tango der Moderne
Glückssuche, Trost, Trugbild oder Flucht
III.2 Momentaufnahme des Pathologischen Symptoms
IV. EINÄSTHETISCHERBLICKAUFDENTANGO
Verwendete Literatur
Die Moderne Gesellschaft in Europa tanzte, sofern sie der Anziehungskraft des Tangos erlegen war, einen melancholischen Tango.
Diese Ausgangsthese fasst den in Europa getanzten Tango als Ausdruck eines melancholischen Gestimmtseins in Europa auf. Der Tango besaß in Europa in den 10er und 20er Jahren sowie in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine besonders hohe Beliebtheit. Für diese Jahre sind gesellschaftliche Stimmungen zu beobachten, die sich mit der Rezeption des Tangos in Verbindung bringen lassen. Melancholie stellte, so die Annahme der Autorin, das Bindeglied zwischen europäischer Moderner Gesellschaft und dem Tango dar.
In den Beschreibungen der Melancholie, des Tangos und der europäischen Modernen Gesellschaft werden sich Ähnlichkeiten zeigen. Es handelt sich um jene Parallelen, die in ihrer Analyse zu Erkenntnissen über die Gesellschaft und deren Gestimmtsein[1] führen. Die vorliegende Arbeit ist der Versuch, diese Parallelen des Tangos und der Modernen Gesellschaft zweier zeitlich begrenzter Epochen der europäischen Tangorezeption zu erfassen und zu beschreiben. Die Melancholie als ein körperlicher, geistiger und seelischer Zustand sei Leitfaden der Arbeit, Auswahlkriterium für behandelte Themenkomplexe, Kritik der Moderne und zugleich Teil einer Antwort für die Suche nach einem möglichen Umgang mit ihr. Die Melancholie, in ihrer Eigenschaft des Wahrnehmens der Welt in einer anderen Weise als die alltägliche, wird den Blick auf das Gestimmtsein der beiden Lebenswelten Tango und Moderne Gesellschaft öffnen. Es werden die melancholischen Elemente beider Lebenswelten dargestellt, und in ihnen jene Momente gesucht, in denen sich Elemente beider Lebenswelten kreuzten. Die Kreuzungspunkte werden Aspekten des Melancholischen zugeordnet werden können. Sie werden zu einem Teil faktisch belegt, zum anderen Teil auf metaphorischer Ebene veranschaulicht.
Es geht in dieser Analyse um die Melancholie verschiedener Welten: Die Welt des Tangos und die Welt der europäischen Modernen Gesellschaft. Welt steht im geschichtlich-hermeneutischen Weltverständnis für die Grundauffassung der Wirklichkeit des menschlichen Lebens in ihr und mit ihr. Die Welt kommt in dieser Definition im menschlichen Handeln zum Ausdruck und ist durch sie hindurch zu erschließen.[2] Durch den Tangotanz ist es möglich, die Welt der ihn tanzenden Gesellschaft, zumindest in Teilaspekten, zu erfassen, indem die Ordnungsprinzipien sowie die Realitätswahrnehmung der in der jeweiligen Welt Lebenden aufgezeigt werden. Diese Analyse kann sowohl für die Welt des Tangos als auch für die Welt der Modernen Gesellschaft vorgenommen werden. Als beiden Welten zugrunde liegendes Ordnungsprinzip und zugleich als Wahrnehmungsperspektive ihrer Wirklichkeiten wird in den folgenden Ausführungen die Melancholie herausgearbeitet werden.
Im ersten Kapitel wird es um eine Annäherung an den Begriff der Melancholie gehen. Um den angenommenen melancholischen Zustand im Tango als auch in der europäischen Gesellschaft - ein melancholisches Gestimmtsein - heraus stellen zu können, werden zunächst Konzepte der Melancholie und Melancholiediskurse in Hinblick auf eine mögliche Analyseperspektive hin betrachtet. Beginnend in der Antike über das Mittelalter bis zu Modernen Diskursen weisen diese Konzepte die Kategorien des Wertneutralen, Pathologischen und Ästhetischen auf. Mittels dieser Einordnung können jene Aspekte erfasst werden, die für ein relevantes Melancholieverständnis präsent geblieben sind. Zum Abschluss des ersten Kapitels wird sich auf ein Melancholieverständnis festgelegt, das beide Lebenswelten Tango und europäische Moderne Gesellschaft erfassen kann.
Im zweiten Kapitel geht es im ersten Teil um Aspekte der Welt des Tangos. Es wird herausgearbeitet, welche Elemente der Melancholie und in welcher Form sich im Tango wieder finden. Es wird im zweiten Teil dargestellt, inwiefern sich die europäische Moderne Gesellschaft überhaupt als eine melancholische erweist und worin die Besonderheiten der so genannten Postmodernen Moderne in Bezug auf Melancholie bestehen.
Es soll an dieser Stelle bemerkt werden, dass vorliegende Arbeit es nicht leisten kann, den Ursprung als auch die Genese des Tangos aufzuarbeiten. Seine Mythen und Fakten sind zahlreich, vielfältig und widersprüchlich. Entscheidend für den Zusammenhang von Tango, Melancholie und Moderne sind die Aspekte beider Welten, die die melancholischen Kreuzungspunkte bilden.
Die Begründung dafür, warum eine Fortschrittsorientierte Gesellschaft dem Tango und seiner vermeintlichen Melancholie zugetan sein sollte, sei die grundlegende Fragestellung für das dritte Kapitel. Es wird danach gefragt, worin die Anziehungskraft des Tangos auf einen Teil der europäischen Modernen Gesellschaft bestand und was sie wiederum so anfällig für den Tango machte. Als ein wichtiger Aspekt in der Beziehung von Moderner Gesellschaft und Tango wird ansatzweise die eingenommene Position der europäischen Tanzenden gegenüber dem Tango herausgearbeitet.[3] Sie zeigt sich in der Art und Weise, in welcher er rezipiert und verändert wurde sowie in der Bedeutung und in der Funktion, die der Tango für die Moderne Gesellschaft in den Glanzzeiten der Metropolen Paris, Berlin und London sowie in den kleinen Tangogemeinden ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts innehatte.
Nachdem im dritten Kapitel eine Analyse über die Funktion und Bedeutung des Tangos in Hinblick auf seine Rezeption durchgeführt und diese schlussfolgernd der durch die Melancholie gestellte pathologischen Kategorie zugeordnet wurde, führt die Suche nach einem Umgang mit der zu Grunde liegenden Melancholie in diesem Teil zu jenem Lichtblick, den der Tangotanz innerhalb einer gelebten Tangowelt als ästhetische Äußerungsform bietet. Ihn gilt es anzudeuten und in seinen Grundzügen nachzuzeichnen.
Diese Arbeit möchte den melancholischen Ton der Seele erklingen zu lassen, den Körper und Geist des Modernen Menschen melancholisch tanzten.
Die Melancholie ist seit der Antike ein Thema der Philosophie, der Astrologie und der Astronomie, der Theologie, der Medizin, der Psychologie und der Künste bis in die Gegenwart gewesen.
Die Melancholie wird im ersten Teil dieses Kapitels daraufhin betrachtet, inwiefern sie ein Krankheitszustand oder eine Existenzform sein kann. Der melancholische Krankheitszustand beschreibt ein abnormes Verhalten und formt damit den pathologischen Pol eines Melancholiebegriffes. Der melancholische Zustand als eine Existenzform definiert dagegen eine Wahrnehmungsperspektive und Lebenshaltung eines Menschen als Leidender, als Weltabgewandter oder als Erkennender. Diese Existenzformen bilden das Fundament für den ästhetischen Pol des Melancholiebegriffes. Es wird darum gehen, gesellschaftlich verwurzelte Perspektiven auf die Melancholie zu erfassen und jene Aspekte herauszuheben, die im gegenwärtigen Sprechen über Melancholie noch auffindbar sind. Aus den heraus zu arbeitenden Aspekten kristallisiert sich schließlich eine als die in dieser Arbeit angewendete Perspektive von Melancholie heraus, die in der Spannung zwischen dem pathologischen und ästhetischen Pol der Melancholie den Menschen begleitet.
Die Melancholie entzieht sich im Moment des eindeutigen Beschreibens[4], da sie in vielfältigen Erscheinungen und Bedeutungen auftrat und in ihren verschiedenen Auffassungen auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt wurde. Einzelne Erscheinungsbilder, Bedeutungen und Ursachen sind zumeist gegensätzlich und widersprüchlich. Mit Beobachtungen und Positionen aus dem Melancholiediskurs, die nicht aussagen, was Melancholie ist, sondern wie sie wahrgenommen und behandelt wird, wird sich der Melancholie im zweiten Teil dieses Kapitels angenähert[5]. Eine eindeutige Definition wird aus genannten Gründen nicht geleistet werden können.
Es wird gezeigt werden, dass Melancholie bis in die Gegenwart ein relevantes Gestimmtsein der Menschen war. Somit konnte sie potentiell der Motivation zum Tango-Tanzen zu Grunde liegen.
Die ersten drei vorzustellenden Perspektiven auf die Melancholie - die kosmologische, die mythologische und die philosophische - untersuchten und beschrieben Melancholie als ein zunächst wertneutrales Phänomen.
In einer ersten Perspektive wies Melancholie kosmologische Züge auf. Das meint, dass Melancholie als eine Charaktereigenschaft angesehen wurde, die in Verbindung zum Planeten Saturn stünde.[6] Für die Antike und für die frühe arabische Auffassung der Melancholie formulierte Földényi eine ursächliche Verbindung mit dem Himmelskörper:
Wer melancholisch ist, steht unter der Macht des Saturns –
sein Zustand ist demnach nicht die Folge einer Wahl,
sondern Schicksal.[7]
Der melancholische Zustand wird im Zitat als ein nicht selbst gewählter beschrieben. Das Schicksal, das den Menschen ohne sein Wissen und seinen Einfluss, ohne Rechenschaft oder Intentionen Preis zu geben, leitete, brachte den Menschen in die Macht eines Planeten. Wodurch diese Macht ausgeübt wurde und warum ausgerechnet durch den Planeten Saturn, blieb unerklärt. Diese unerklärbare Machtnahme über den Menschen wurde in den Charaktereigenschaften und dem Lebensweg des Betreffenden offenbar.
Der Saturn stand in der frühen arabischen Astrologie und in der Antike für eine langsame Bewegung und für Stillstand, galt als ferner, kalter und düsterer Planet.[8] Langsame und besonnene (Denk-) Bewegungen innerhalb einer distanzierten, zurückgezogenen Lebenshaltung können jedoch gleichzeitig zu Wahrnehmungen und Erkenntnissen führen, die die schnelllebige und Aktionsorientierte Lebensweise nicht zulässt. In der römischen Astrologie nahm der Saturn, in diesem Sinne, in der Achse Saturn-Sonne-Erde die entgegen gesetzte Position zur Erde ein[9] und verwies auf die Relativität der Dinge durch den veränderten Blickwinkel.
Der Planet Saturn ist als am nächtlichen Himmel langsam ziehender Himmelskörper zu sehen. Dem Melancholiker ordnen sich bis in die Gegenwart ebenso die Nacht, das Dunkle, das Langsame und Grüblerisch-Sinnende zu. Der Schicksalsglaube symbolisiert die unerkennbare Ursache des melancholischen Zustands und das Ausgeliefertsein ihm gegenüber. Dieses Empfinden von Ohnmacht wohnt der Melancholie noch immer inne.
Mythologisch untermauert wurde die kosmologische Verbundenheit des Saturns mit der Melancholie in der griechischen Mythologie von den Gestalten Kronos und Chronos. Es formte sich damit eine zweite Perspektive auf die Melancholie heraus.
Kronos war die griechische Entsprechung für Saturn. Er verschlang seine Kinder aus Angst vor dem Fluch, dass sie ihn stürzen würden.[10] In der Kritik der Moderne fand sich das Bild des Kronos in der Metapher des gesellschaftlichen Ereignisses oder der Entwicklung wieder, die ihre eigenen Kinder verschlang. Chronos, der Zeitgott, repräsentierte als personifizierte Zeit eine Schicksalsmacht.[11] Chronos versinnbildlichte sich in ‚ Schnitters Tod’[12], der die Lebenszeit des Menschen, ohne dass der Mensch es kontrollieren konnte, beendete.
Der Saturn wurde als symbolische Fusion der Götter Kronos und Chronos ambivalent bewertet. Er versinnbildlichte zugleich Herrschaft und Macht als auch die Entmannung und den verbundenen Machtverlust. Er stand in seiner Funktion für den Landbau für Kultivierung und Wachstum; seine Entmannung und das Verschlingen seiner Kinder versinnbildlichten dagegen Unfruchtbarkeit und Tod. Ebenso symbolisierte Chronos gleichzeitig das Vergehen von Zeit und die Vergänglichkeit des Menschen.[13]
Diese Zuschreibungen der Ohnmacht, Dunkelheit, Langsamkeit und Ambivalenz in Bezug auf den Saturn rechtfertigten, ihn mit der Melancholie in Beziehung zu setzen[14] und blieben charakteristisch für die Auffassungen von Melancholie. Ebenso ließen sie sich in der Kritik der Modernen Gesellschaft als auch in der Funktion des Tangos in Europa wieder finden, wie in späteren Kapiteln nachzuvollziehen sein wird.
Die Antike stellte des Weiteren die leitende Frage danach, warum überragende Persönlichkeiten melancholische Züge aufwiesen. Dieser Frage folgten Untersuchungen über Ursprung und Wesen der Genialität. Somit gewann Melancholie eine philosophische Perspektive dazu. Melancholie erhielt, wie sie beispielsweise bei Aristoteles in den ‚Problemata Physica’ aufgefasst wurde, ihre Bestimmung als Weg zur Selbsttranszendenz. Sie zeichnete sich nunmehr durch ihre Eigenheit der Langsamkeit und des Anderssein im Gegensatz zum Zustand des gewöhnlichen Menschen aus.[15]
Die Renaissance nahm die Genialitätslehre neu auf. Der Geniebegriff formte sich aus einem heroisch-tragischen Zwiespalt des menschlichen Seins. Der Zwiespalt bestand zwischen einer gesteigerten Selbstbejahung und dem verschärften Selbstzweifel des betreffenden Genies. In der späteren psychoanalytischen Praxis seit Freud, wie es noch weiter unten ausgeführt werden wird, wurden diese zwei Pole mit den Extremen der krankhaften Depression und Manie besetzt. Das Genie der Renaissance gab sich poetisch-seherisch und tiefsinnig-kontemplativ.[16] Es waren Charaktereigenschaften, die den Melancholischen in der ästhetischen Melancholieauffassung als ein Mensch mit besonderen Eigenschaften im vor allem mentalen Bereich ebenso eigen waren.
Ficino und Dürer, Vertreter der Renaissance, benannten erstmals den ‚homo melancholicus’ . Jener war veranlagt zu und gefeit gegen die Melancholie. Er war einerseits als denkendes Wesen in der Melancholie gefangen. Aber er war auch, und das ist der neue Aspekt im ‚homo melancholicus’ , im Besitz der Energie, die eigene Schwermut zu überwinden.[17]
Melancholie gehörte nunmehr zur Konstitution des neuzeitlichen Individuums.
Dieses Individuum verfiel, nach Kierkegaards Ansicht, der Schwermut[18]. Es konnte der Mittelmäßigkeit seines einem höheren Sinn entleerten Lebens nicht entrinnen. Der Sinn war bis dahin durch traditionelle Bindungen und Glaubensätze gegeben. Der Sinnverlust in Form eines Gottesverlustes rückte in den Mittelpunkt. Das Individuum konnte um den verlorenen Glauben aufgrund des für ihn entschwundenen Sinnes nicht trauern. Es suchte dennoch nach Sinngebungen. Aus diesem Paradox entwickelte sich die Schwermut.[19]
Heidegger deutete die Melancholie ontologisch als eine ,Existenz im Leeren’ , in der sich die Auflösung des Weltbezugs und der Zerfall der Identität offenbarten.[20] Dieser Leerraum jedoch schuf die Möglichkeit zur neuen Erkenntnis.[21] Der Melancholiker konnte nach dieser Zuschreibung als ein besonderer Mensch gelten: denkend und selbstbewusst trug er einen zu besetzenden Leerraum für eine differente[22] Lebensauffassung in sich.
Die Versuche, die Melancholie als krankhaft zu definieren, bezogen sich auf eine fehl funktionierende Komponente des Menschen. Es handelte sich um die körperliche Komponente, auf der die Lehre der Körpersäfte beruhte; es ging um die geistige Komponente, wie es innerhalb der Psychiatrie untersuchte wurde; oder es ging darum, dass die Melancholie seelisch bedingt sei, wie die von der Theologie unterstellte Verworfenheit des Menschen bezeugte.
Die Verurteilung der Melancholie hatte ihre Wurzeln in der Antike. Sie beruhte auf der Lehre der Körpersäfte von Aristoteles. Die melancholische, als krankhaft-falsch bezeichnete Mischung der Körpersäfte entwickelte sich zur melancholischen Naturveranlagung innerhalb der vier humoralen Charaktertypen.[23] Das Beschreiben der Unausgeglichenheit des Melancholikers aufgrund einer Temperaturschwankung von warm (fröhlich/überschwänglich) und kalt (schwermütig) findet sich in der von Freud beschriebenen Melancholie und Manie als Pole eines Temperaments wieder. Die Unmöglichkeit des genauen Deklarieren und Nachweisen des für die Melancholie in diesen Lehren verantwortlichen schwarzen Gallensaftes erhielt sich in der Nicht-Fassbarkeit einer Ursache für die Melancholie aufrecht.
Im Bereich der Psychiatrie suchten Wissenschaftler und Neurologen seit dem 18. Jahrhundert nach Erklärungen für ihre eigene Praxis. Sie führten dazu, dass Melancholie zum Teil als Begriff verbannt wurde. Stattdessen wurde die krankhafte Form der Melancholie als Depression und die gutartige Form der Melancholie als Schwermut bezeichnet. Diese Teilung führte zu einer Kategorisierung vermeintlicher Abnormitäten des Verhaltens. Depression wurde der physiologischen Abnormität zugeteilt, Schwermut hingegen der psychologischen.[24] Die Verbindung zu Krankheit und depressiver Untätigkeit formte sich in dieser Auffassung von ‚Melancholie’ heraus.
Die Kategorisierungen lassen sich in einer Vielzahl an Theorien der Melancholie weiterverfolgen, die die vermeintlichen Ursachen beschrieben oder versuchten, sich wesentlichen Zügen der Melancholie zu nähern.[25] Eine der bedeutsamsten und heute noch relevanten Theorien, die Melancholie als pathologisch betrachten, ist die psychoanalytische nach Freud. Eine Melancholie-Erkrankung definiert sich ihm zu Folge als eine zwangsneurotische Reaktion auf den unbewältigten Verlust eines Objektes. Freud setzte Melancholie in den pathologischen Kontext in Abgrenzung zur Trauer. Beide seien Formen einer Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person, eines Gegenstandes oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion und weisen schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten auf. Das Trauer-Ich verarbeitet den Verlust, den erzwungenen Objektverlust oder den Libidoabzug erfolgreich. Freud schreibt der Melancholie jedoch zu, sie sei durch eine seelische schmerzliche Verstimmung durch eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Unfähigkeit, ein neues Liebesobjekt zu wählen und sich von ihm zu lösen, ausgezeichnet. Dabei sei weder für einen Außenstehenden noch für den Melancholischen deutlich erkennbar, was verloren wurde. Es handelt sich um einen dem Bewusstsein entzogenen Objektverlust. Freud wertet ihn als einen krankhaften Zustand.[26] Freuds Auffassung über Melancholie wird in der Analyse der Funktion des Tangos Bedeutung erlangen. Dafür ausschlaggebend sind der unbewusste Objektverlust und die darauf folgende Unfähigkeit, ein neues Bezugsobjekt zu finden.
Aus theologischem Denken heraus wurde Melancholie ebenfalls verurteilt. Die abendländische Kultur hatte, der These Hohmanns folgend, unter Einfluss des Christentums bewirkt, dass das Melancholische aus lebenswichtigen Bereichen verdrängt und mit dem Makel des Kranken und Untüchtigen behaftet wurde.[27] Der Begriff der Acedia[28] war im Mittelalter programmatisch. Vertretend für viele ihrer Prediger sei Thomas von Aquin genannt. Acedia stand für Gottesfurcht als eine Übersteigerung der Gottesnähe. Sie drückte sich in der Empfindung einer Sinnlosigkeit seiner selbst gegenüber der Allmacht eines Gottes und daraus folgend eine Handlungshemmung und ein Zweifel an der Existenz aus. Verbunden mit einer Trostlosigkeit über das menschliche sündhafte Dasein wurde sie zur Todessünde, die sowohl geistig-emotionale (Zweifel, Müßiggang) als auch körperliche Symptome (Trägheit, Fahle) aufwies.[29]
In den christlichen Kontext eingebettet findet sich das Mutter- und Todmotiv, das Lambrecht erläutert. Es ist interessant für im zweiten Kapitel folgende Analysen von Tango-Texten, weil das Motiv der Mutter und des Todes in ihnen ebenfalls auftauchte. Der Mensch ist, führt Lambrecht aus, zu Lebzeiten zweierlei: post-natal und prä-mortal, nicht mehr im Mutterleib und noch nicht im Grab. Grundmodell dieser Erfahrung ist das Genesis I, des Menschen Verweis aus dem Paradies: Der Sündenfall des Sehens der Welt durch den verbotenen Genuss des Apfels wurde zur Sünde wie auch das differente Sehen der Welt im Moment der Melancholie im christlichen Wertekontext als Sünde galt.[30] Als Adam sündigte, verwandelte sich die Melancholie in die Schwärze der Gottlosigkeit.
Das Christentum verstärkte die negative Wertung der Melancholie. Es verurteilte den Müßiggang und das Nichtstun. Die Müßiggänger und Nichtstuer wendeten sich von der christlichen Welt ab und gefährdeten diese Ordnung mit ihrem dadurch sichtbar werdenden Zweifel am Glauben. Mit dieser Zuschreibung gab die christliche Lehre der Melancholie ungewollt ihre wichtige Funktion der dem System nicht konformen Erkenntnis und erneuernden Kraft.
Mit der Moderne entstand eine zum pathologischen Konzept der Melancholie entgegen gesetzte Kategorie. Melancholie wurde als ein ästhetischer Zustand beschrieben und erhielt eine existentielle Dimension. Ihr wurde eine vorhersehende und reflektorische Eigenschaft zugesprochen, da das Individuum im melancholischen Zustand in Distanz zu sich selbst treten und aus dem Alltagsverlauf ausscheren konnte. Das transzendierende Moment der Melancholie wird in dieser Möglichkeit des Aufbrechens der Wirklichkeit deutlich.
Den Beginn der Ästhetisierung der Melancholie legt Lepenies in das Nachmittelalter bzw. in die Neuzeit. Es wurde möglich, Melancholie einer Person als Stimmung zuzuschreiben und sie auf Objekte wie Landschaften, Räume, Töne und Farben zu übertragen. Erst eine Auffassung der melancholischen Stimmung führte zu einer Vorstellung der Melancholie als ein Gefühl. Das Gefühl wiederum entstand aus einem ambivalenten Empfinden aus Lust und Einsamkeit, Freude und Trauer, zumeist mit grüblerischer Vertiefung verbunden.[31]
Die Melancholie gewann zunächst in Form des Ennuis an Bedeutung. Angelehnt an einen Diskurs der Ordnung entstammt die Ansicht:
L’ennui naquit un jour de l’uniformité[32] –
der Ennui entstammt der Uniformität ;
Der Ennui wurde als eine melancholische Langeweile verstanden, die in der adligen Gesellschaft um sich griff. Innerhalb der durch den Hof gesetzten und kontrollierten Ordnung an Hierarchien, Verhaltensweisen und Ansichten entstand eine uniforme Hofgesellschaft. Ihr waren keine von der festgesetzten Ordnung abweichenden Handlungen erlaubt. Die immer gleichen Aktivitäten und Diskurse verursachten Langeweile, die zugleich Raum ließ, um sich der Fragwürdigkeit des Sinns der Hofordnung bewusst zu werden. Melancholie in dieser Kategorisierung verkörperte durch ihr Potential an Hinterfragung des Systems eine Gefahr für den (absolutistischen bzw. modernen demokratischen) perfektionierten, effizienten, reibungslos funktionierenden, idealen Staat.[33] Im Zitat wurde somit eine Ursache benannt, der, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt, ein Kern an Gesellschaftskritik inne lag.
Die Melancholie wurde in der Bezeichnung des Spleen[34] jedoch zunächst Mode im Elisabethanischen England und in Italien der gleichen Epoche. Der schwermütige Gemütszustand wurde zum Zeichen einer individuellen, aber auch imaginierten Genialität. Es zählte nicht mehr das, was einer dachte, sondern dass es aus tiefster – möglicherweise vorgegebener - Traurigkeit entsprang.[35] Der melancholische Zustand entsprach einer extravaganten oder neurotischen Ader.[36] Melancholie und Schwermut wurden in der Auffassung als Spleen auf eine bloße Stimmung reduziert und verflachten zur Attitüde oder zum Image.
Der Aufklärerische Geist des 18. Jahrhunderts erklärte die Melancholie zur verbotenen Gemütsverfassung. Es bestand kein Bedarf an schwermütigen Dissidenten und manischen Fanatikern, die die vernünftige Ordnung und neuen Zeitmaßstäbe störten. Der Grund der Ablehnung lag darin, dass Melancholische von der gesellschaftlichen Ordnung abwichen. Sie entzogen sich der bestehenden funktionierenden Ordnung und gefährdeten sie sogar. Ihr Nichts-Tun degradierte sie zum Unnützen innerhalb eines Systems, das effizientes Handeln, Konformität und Funktionieren einforderte.[37] Das oben beschriebene Ordnungsorientierte Denken der Hofgesellschaft und das Melancholieverbot vereinten sich an dieser Stelle und begleiteten den Modernen Menschen.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts verband sich Melancholie mit gesteigerter Selbsterfahrung und gesteigerter Empfindsamkeit.[38] Ihre Ursache fanden sie in einer Weltflucht durch Innerlichkeit und Natursuche. Sie waren Kennzeichen der Liebes- und Todessehnsucht der Romantik, ebenso wie die romantische und ideale Verklärung des Deutschen Idealismus, der Klassik und der Romantik.[39] Die romantische Schwermut stand schließlich für eine Reaktion auf die einsetzende beschleunigte Modernisierung der Gesellschaft.[40] Vergänglichkeit und das Empfinden von Leere im schnellen Rhythmus der neuen Zeit waren Ausdrücke einer subjektiven Kritik an der Gesellschaft. Sie begann in der als sinnentleert empfunden Neuzeit und reichte bis zu Modernen Lebens-Rhythmen der industrialisierten Moderne.
Im 19. Jahrhundert trat ein anderes melancholisches Phänomen ans Licht der Welt. Der melancholische Einzelgänger, der als ein Exilant in seiner eigenen Welt zu bezeichnen war: der Dandy und der Flaneur. Beide verdankten ihre Existenz der Modernen Welt und sagten ihr doch den Kampf an; sie waren Heroen einer untergehenden aristokratischen oder individualistischen Vergangenheit. Der Spleen , der ihnen eigen war, wandelte sich innerhalb der Melancholie zur Protestform gegen die industrielle Gesellschaft.[41]
Der Melancholie wurde in der Modernen Gesellschaft der verschiedenen Epochen unterschiedlicher Umgang zuteil. Sie wurde glorifiziert und verboten, als auch als Gesellschaftskritik und als eine Form der Weltabgewandtheit funktionalisiert. Melancholie wurde als eine Lebensperspektive beschrieben, indem sie die Weltwahrnehmung und Weltdeutung sowie die Reaktion darauf bestimmte.
Die Entwicklung der Melancholieauffassung mündete im Verlauf des 19. Jahrhunderts in das Modell der ‚Ästhetischen Empfindung’ . Melancholie wurde nicht mehr nur als reiner Gemütszustand, sondern als Perspektive des Weltwahrnehmens verstanden. Diese Weltwahrnehmung galt als eine ästhetische Erfahrung – im Sinne eines Empfindens -, in der in spezifischer Weise der Melancholische die ihn umgebende Welt erkannte.[42]
Die Tendenz zur Ästhetisierung von Verzweiflung und Schwermut, die häufig gebrauchte diskursabhängige Synonyme für Melancholie waren, war in der expressionistischen Dichtung bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts kennzeichnend. Die Glorifizierung melancholischer Innenwelten diente der Distanzierung und Bearbeitung der eigenen Trauer.[43] Es war eine Trauer um die Sinnlosigkeit und Konstruiertheit des eigenen Daseins. Sie sollte mittels des ‚ ästhetischen Therapeutikum’’[44] einer expressionistischen Dichtung ertragen werden können. Ihre charakteristischen neuen Stilmitteln, d.h. neue Sinntragende Ausdrucksformen, sollten das leisten.[45]
Aus dem beschriebenen Ästhetischen Modell kann geschlossen werden, dass die Melancholie nicht mehr nur als Gefühlszustand oder pathologisches Phänomen interessierte, sondern als ein Erkenntnismedium. Es ging primär um den Erfahrungsgehalt, der aus der melancholischen Verstimmung resultierte, geschuldet jenem different wahrnehmenden Blick. Diesem Blick wird sich im folgenden Kapitelabschnitt gewidmet. Die sinnlichen und emotionalen Eindrücke, so ist aus dem Konzept der ‚Ästhetischen Empfindung’ zu schließen, die den Menschen in seinen melancholischen Momenten erreichen, trägt er in die Bewusstseinssphäre der Reflexion hinein. Dort wird sich mit ihnen mittels der Vernunft auseinandergesetzt. Aus dem Zusammenspiel der sinnlichen Wahrnehmung und deren Reflexion eröffnet sich dem Menschen der Horizont der differenten Erkenntnis.
Die allegorische Verbindung des melancholischen Blicks und des differenten Wahrnehmens und Erkennens wird in der fragenden Gleichsetzung deutlich, die Hillebrand in seiner Zarathustra-Interpretation vornimmt:
Bin ich ein Wahrsager? Ein Träumender? Trunkener?[46]
Nietzsche spricht vom Wahrsagenden, der in den Zeichen Bedeutungen sehen kann, die den Nicht-Wahrsagenden verborgen bleiben. Er spricht vom Träumenden, der sich der materiellen, positivistischen Bedeutungs- und Ordnungssphäre entzieht und in den Möglichkeiten lebt. Er spricht vom Trunkenen, der die genannte Sphäre im Rausch, mittels äußerer Einflüsse (Alkohol und Narkotika), ebenfalls verlässt und in seiner konfusen Wahrnehmung von Sinnzusammenhängen neue Deutungen ersinnt. Sie sind drei Verkörperungen eines Zustandes, der der Zeit entrückt und der alltäglichen, zumeist erdrückenden (höfischen, kapitalistisch-rationalen, ideologischen, religiösen) Ordnung entsagt. Földényi erweitert den Kreis dieser different Sehenden auf den Melancholiker, wie auch auf den Philosophen, den Wahnsinnigen und den Liebenden[47]. Sie betrachten, Földényi zu folge, von einem Standpunkt der Welt- und Selbstwahrnehmung aus, der sie von systemischen Einflüssen unabhängige Erkenntnisse erkennen lässt, weil sie sich dem rational-ordnenden System durch den emotionalen Affekt entziehen können.[48]
Melancholie tauchte ganz gleich ihrer Stellung in der oder zur Gesellschaft in den unterschiedlichsten Diskursen auf. Das verlieh ihr die Bedeutung eines Grundzugs des Menschen und seines Bezugs zur Welt[49], der sich in der körperlichen, mentalen oder seelischen Verfassung des melancholischen Menschen offenbarte. Der Körper war von der Melancholie gezeichnet, die sich in einer spezifisch melancholischen Körperhaltung des Langsamen, Verhaltenen und Gebückten zeigte.[50] Diesem melancholischen Körper war einerseits die pathologische Kategorie der körperlichen und mentalen Krankheit zugeordnet. Andererseits wurde ihm ein positiv besetztes ästhetisches Konzept der Möglichkeit des Wahrhabens neuer Erkenntnisse zuerkannt, verbunden mit dem Habitus des Genies und einer intellektuellen Haltung.[51] Die seelische Verfassung des melancholischen Menschen dagegen äußerte sich in Existenzbezogenen Formen der Resignation und Verzweiflung, aber auch in Stimmungsbezogenen Phänomenen wie Langeweile, Nostalgie und Traurigkeit angesichts der Vergänglichkeit und Relativität der Dinge und Werte.[52]
Die Melancholie wurde aus ihrem Diskurs und ihrer Entwicklungsgeschichte heraus wertenden Kategorien zugeteilt. Es waren jene Aspekte zu erfassen, die sich im in der Moderne aktuellen Melancholiebegriff wieder finden lassen und deshalb für die Analyse der Tangorezeption in der Moderne bedeutsam sind.
Es werden im Folgenden wesentliche beobachtbare Grundzüge eines relevanten Melancholiebegriffes verdeutlicht. Es handelt sich dabei um die Melancholie als ein Stimmungszustand, um die mit der Melancholie verbundene Zeit und um Ausdrucksformen der Melancholie.
Auf Basis dieser Umschreibung wird anschließend eine Perspektive der Melancholie erarbeitet, die den ästhetischen und pathologischen Pol der Melancholie einschließt. Ausgehend von beiden Polen sind Potentiale der Melancholie erkennbar und Formen des Umgangs mit der Melancholie ableitbar. Die zu erarbeitende Melancholieauffassung wird für vorliegende Arbeit die Basis bilden.
Möchte man sich der Melancholie beschreibend nähern, muss man sich auf Teilaspekte von ihr beschränken, da sie sich einer umfassenden eindeutigen Definition entzieht. Sie soll hierfür als ein Stimmungszustand betrachtet werden, da Melancholie als Stimmung verstanden als solche beschreibbar sowie in der Definition von Halder als eine das gesamte Welt- und Selbsterleben umfassende und durchdringende Gemütverfassung definiert wird und somit dem Begriff der Lebenswelt Tango und Moderne Gesellschaft entsprechen kann. Diese definierte Gemütsverfassung bleibt dabei, nach Halder, meist ohne klares Bewusstsein der genauen ‚Ursache’.[53] Die Stimmung Melancholie ist eine Traurigkeit ohne Ursache.[54] Das bedeutet, dass Melancholie keine rational-vernünftige Ursache besitzt, die sie dem modernen naturwissenschaftlichen System konform als Phänomen erklären könnte. Und doch scheint ihre Ursache in diesem System, dass es nicht erklären kann, zu liegen.
Das grundlose, kaum zu steuernde, innere Geschehen, gleich einer kommenden und gehenden gegenstandslosen Traurigkeit, verursacht ein Leiden, das darin besteht,
keine substantielle Beziehung zur Welt zu haben
und nur mit sich befasst zu sein.[55]
Zitierter Engelhardt sieht den Grund für die melancholische Stimmung darin, dass der Melancholische weder Sinn noch Ursache dafür findet, in der Welt zu sein. Um an dieser Beziehungslosigkeit nicht kaputt zu gehen, zieht er sich zurück und verbleibt in dieser eingegrenzten Perspektive. Dieses Bild des Melancholikers entspricht dem des Weltabgewandten, der sich in den Möglichkeiten der Welt verlieren würde. Der pathologische Aspekt der Melancholie wird hier betont und vergisst darüber die mögliche positive Bedeutung des Zurückgezogenseins auf sich selbst. Der Mensch ist, entgegen den die Melancholie verurteilenden Perspektiven, nicht verloren, denn:
Das Ich ist in der Melancholie bei sich.[56]
Heidbrink drückt die Ambivalenz des Zurückgezogenseins aus. Das zugrunde liegende Leiden und jene Selbstbezüglichkeit sind miteinander verbunden. Das Subjekt kann aus seiner Rückgezogenheit das Leiden daran überwinden, indem er ein In-sich-Ruhen darin entwickelt. Deshalb erscheint der melancholische Zustand innerhalb der Suche in der Moderne nach spiritueller Einheit und Erfahrung ein womöglich anzustrebender. Immerhin gewährleistet er, was im Melancholie-Diskurs zumeist als negativ gewertet wird: dass sich der Mensch außerhalb der alltäglichen Routine und Ordnung befindet, deren Werte und Normen, Anforderungen und Verpflichtungen für ihn nicht mehr absolut gültig sind.
Mit diesen Zuschreibungen entwickelte sich die melancholische Stimmung zu einem melancholischen Gestimmtsein, die die gesamte Lebenshaltung bestimmte.
Das Melancholische Gestimmtsein bevorzugt die Nacht und die Dunkelheit.[57] In ihr schafft die Lichtlosigkeit Wahrnehmungsumstände, die dem Blick von Innen Anderes sehen lässt. Möglicherweise jenes Verborgene des Tages, was abgestellt und ausgeschlossen in der vermeintlich perfekten Gesellschaft, nun sichtbar wird.[58] Bezüge zu dieser Tageszeit fanden sich bereits in der erläuterten Melancholieauffassung der Verbindung der Melancholie zum Saturn, der als Himmelskörper sichtbar am Nachthimmel zieht. Die Beziehung zur Dunkelheit zeigte sich im Melancholieverbot der Aufklärung. Es forderte:
Im Siegeszeichen von Licht und Sonne haben
Finsternisse jeglicher Provenienz zu verschwinden.[59]
Die Aufklärung, basierend auf dem Konzept des vernunftgeleiteten Daseins erklärte sich selbst zum Zeitalter des Lichts, in dem der Mensch erst wirklich in seinem wahren Glanz strahlen und mittels des Einsatzes seiner Vernunft alles Existierende ans Licht bringen konnte. Dem vernünftigen Denken blieb nichts verborgen. Dem, was dennoch verborgen blieb, wurde seine Existenzberechtigung abgesprochen. Es entsprach der menschlichen vernünftigen Seins-Weise nicht. Die Melancholie, in Assoziation mit dem Dunklen und Düsteren der Unerklärbarkeit ihrer Ursache und Unerfassbarkeit als Phänomen, in ihrem Zusammenhang mit dem schwarzen Gallensaft und ihren metaphorischen Verbindungen zum Nachthimmel, wurde innerhalb der strahlenden Aufklärung nicht toleriert.
[...]
[1] Der Begriff Gestimmtsein soll ausdrücken, dass es sich nicht um einen Stimmungszustand im Sinne einer vorübergehenden Laune handelt. Er steht für eine das gesamte Welt- und Selbsterleben umfassende und durchdringende Gemütverfassung, wie sie sich in der Definition von Halder formuliert findet. (Vgl. Halder: Philosophisches Wörterbuch, S. 310)
[2] Vgl. Halder: Philosophisches Wörterbuch, S. 361/362.
[3] Eine ausführlichere Bearbeitung dieses Aspekts findet der Leser in: Kämpfe: Tango der Metropolen. Bedeutungsveränderungen des Tango auf seinem Weg von Buenos Aires in die europäischen Metropolenkulturen, Hamburg 2007.
[4] Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 25.
[5] Da Menschen Tango tanzen und in der Modernen Gesellschaft leben, wird in dieser Arbeit nur die Melancholie des Menschen behandelt. Melancholische Stimmungen anderer Untersuchungsgegenstände werden außen vor gelassen. In einigen Textpassagen mag der Tango als personifizierte Stimme der Melancholie erscheinen.
[6] Vgl. Földényi: Melancholie, S. 98ff.
[7] Zit. nach: Földényi: Melancholie, S. 100.
[8] Vgl. Klibansky; Panowsky und Saxl: Saturn und Melancholie, S. 209/210.
[9] Vgl. Földényi: Melancholie, S. 49.
[10] Vgl. Klibansky; Panowsky und Saxl: Saturn und Melancholie, S. 211.
[11] Vgl. Klibansky; Panowsky und Saxl: Saturn und Melancholie, S. 211.
[12] Vgl. Lambrecht: Melancholie, S. 22 und 26.
[13] Vgl. Lambrecht: Melancholie, S. 21.
[14] Vgl. Klibansky; Panowsky und Saxl: Saturn und Melancholie, S. 245. Sie führen weiter aus, das In-Beziehung-Setzen rechtfertigend: Der Gegensatz zwischen den äußersten Möglichkeiten des Guten und des Bösen begründet denn auch die tiefste Entsprechung zwischen Saturn und der Melancholie. (ebd.)
[15] Vgl. Heidbrink: Entzauberte Zeit, S. 16.
[16] Vgl. Földényi: Melancholie, S. 153.
[17] Vgl. Heidbrink: Entzauberte Zeit, S. 30.
[18] Inwiefern Schwermut den Begriff der Melancholie ersetzt, wird weiter unten im Text erläutert.
[19] Vgl. Heidbrink: Entzauberte Zeit, S. 52/53.
[20] Vgl. Heidbrink: Entzauberte Zeit, S. 45.
[21] Der philosophische Diskurs wird aufgrund seines Umfangs und seiner Tiefe an dieser Stelle auf genannte Aspekte vereinfacht.
[22] Different wird definiert als ungleich zum alltäglich-gewöhnlichen bzw. zum aktuellen Diskurs. Different kann eine Wahrnehmung, eine Empfindung, eine Erkenntnis oder eine Handlung sein.
[23] Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 16.
[24] Vgl. Földényi: Melancholie, S. 177.
[25] Engelhardt listet eine Reihe von Theorien der Melancholie auf, die versuchen, die zentrale oder zu Grunde liegende Störung herauszuarbeiten, aus der sich alle Phänomene erklären oder ableiten lassen bzw. sich der Melancholie handhabbar zu machen. Wie die vernünftige Wissenschaft im Sezieren eines Zustandes vorgeht, zeigt ein Blick auf genannte Theorien und ihr Melancholiebild: I. biologisch-naturwissenschaftliches Konzept: eine genetisch determinierte, an Hirnstoffwechselstörung gebundene Gemütskrankheit. II. psychoanalytische Modelle: depressive Affekte. III. strukturdynamischer Ansatz: Entgleisen aus einer Struktur. IV. soziogenetische Sicht: Beziehungsstörung. V. rollentheoretische Konzept: hypernormisches Verhalten, daher Schwächung der Ich-Identität. VI. lerntheoretische Ansatz: Selbstentmächtigung. VII. kognitive Störung: Wahrnehmungsveränderungen. VIII. phänomenologisch-deskriptives Verständnis (nach Kurt Schneider): Depression ist wesentlich eine emotionale Störung durch Störung der Vitalgefühle gekennzeichnet, führt bis zur Gefühllosigkeit. IX. phänomenologisch-anthropologisch-daseinsanalytische Konzepte (Husserl, Bergson, Heidegger): Wesensbestimmung und Erfassung der Grundstörung über Grundstrukturen des menschliches Daseins und dessen Abwandlungen ins Krankhafte. Der Zeitaspekt bekam eine große Bedeutung. (Engelhardt, u.a. (Hg.): Melancholie in Literatur und Kunst, S. 18-23)
[26] Vgl. Freud: Trauer und Melancholie, S. 193-212. Der entgegen gesetzte Zustand zur Melancholie ist die Manie (Freude, Jubel, Triumph): der Manische demonstriert seine Befreiung vom Objekt, an dem er gelitten hatte, indem er wie ein Heißhungriger auf neue Objektbesetzungen ausgeht, jedoch bald nach Bewusstwerdung seines Selbstbetruges wieder in die Melancholie zurückfällt.
[27] These nach Hohmann (Hg.): Melancholie, S. 46.
[28] Heidbrink übersetzt Acedia mit Sorglosigkeit abgeleitet von a-hedia (Heidbrink: Entzauberte Zeit, S. 19), bei Lambrecht findet sie sich mit Trägheit übersetzt (Lambrecht: Melancholie, S. 33).
[29] Vgl. Heidbrink: Entzauberte Zeit, S. 19.
[30] Vgl. Lambrecht: Melancholie, S. 178/179; Vielerlei Zeugnisse finden sich im philosophisch-theologisch-poetischen Abendland: Goethes Faust, Hiob und der Prophet Jeremias, in der griechischen Kultur, in der alttestamentarischen Welt, in der Aufklärung vertreten durch Lessings Briefe.
[31] Vgl. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, S. 319-321.
[32] Zit. nach: Földényi: Melancholie, S. 201.
[33] Vgl. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, S. 32/33.
[34] Ursprünglich war der Begriff spleen ein leicht getöntes Synonym für Melancholie, das auf den griechischen Namen der Milz, splen (das schwarze Galle erzeugende Organ), zurückgeht. Im Elisabethanischen Zeitalter Englands nahm der Spleen geradezu das Ausmaß einer Mode an, weshalb man ihn auch als Elisabethanische Krankheit bezeichnete. (Vgl. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, S. 34)
[35] Vgl. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, S. 34.
[36] So ist es in der Redewendung - eine Person habe einen kleinen Spleen - auch heute noch gebräuchlich.
[37] Vgl. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, S. 176.
[38] Vgl. Engelhardt, u.a. (Hg.): Melancholie in Literatur und Kunst, S. 10.
[39] Vgl. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, S. 338/339.
[40] Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 52.
[41] Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 34.
[42] Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 126.
[43] Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. XXII.
[44] Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. XXII.
[45] Das Hinwenden zu Innerlichkeit und die Problembearbeitung in Form eines ‚ästhetischen Therapeutikums’ fanden sich seit der zweiten Rezeptionswelle des Tangos in so genannten Tangotherapien für gestörte Paarbeziehungen und verlorenes Selbstbewusstsein wieder. Vgl. dazu beispielsweise diesbezügliche Anzeigen und Berichte in den Ausgaben der Tango Danza.
[46] Zit. nach: Hillebrand: Ästhetik des Nihilismus, S. 92/93.
[47] Gleich dem Liebenden, der wie ein im Entstehen befindliches Kunstwerk ist und herausgehoben wird aus dem Alltag, um neu zu sein. (Földényi: Melancholie, S. 276) Sie stehen im Grenzbereich zwischen Sein und Nicht-Sein und außerhalb der Zeit. (ebd., S. 36)
[48] Freud erklärt diesen Vorgang für den Melancholiker wie folgt: In einigen Selbstanklagen scheint er uns gleichfalls recht zu haben und die Wahrheit nur schärfer zu erfassen als andere, die nicht melancholisch sind […] und wir fragen uns nur, warum man erst krank werden muss, um solcher Wahrheit zugänglich zu sein […] Wir sehen bei ihm [dem Melancholiker], wie sich ein Teil des Ichs dem anderen gegenüberstellt, es kritisch wertet, es gleichsam zum Objekt nimmt. Der Verdacht, dass die vom Ich abgespaltene kritische Instanz sich auch in anderen Verhältnissen selbständig erweist, bestätigt sich: das Gewissen gilt als Bewußtseinszensur und Realitätsprüfung. (Freud: Trauer und Melancholie, S. 201 )
[49] Vgl. Fragmente, S. 7.
[50] Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 49.
[51] Vgl. Thomas: Logik des Zufalls, S. 257.
[52] Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 49.
[53] Vgl. Halder: Philosophisches Wörterbuch, S. 310.
[54] Oft zitiert, z.B. Klibansky; Panowsky und Saxl: Saturn und Melancholie, S. 319. Nach Heidbrink spürt der Mensch im melancholischen Zustand eine eigentümlich selbstbezügliche Bewegung […] er ist ihrer nicht Herr. Ein tiefer oder äußerer Grund läßt sich zumeist nicht ausmachen […] (Heidbrink: Entzauberte Zeit, S. 101/102)
[55] Zit. nach: Engelhardt, u.a. (Hg.): Melancholie in Literatur und Kunst, S. 9.
[56] Zit. nach: Heidbrink: Entzauberte Zeit, S. 104.
[57] Vgl. Engelhardt, u.a. (Hg.): Melancholie in Literatur und Kunst, S. 13. Engelhardt führt aus: es sei der Morgen – in der Melancholie – fürchterlich, er muß nicht sein. (ebd.) Trakl beschreibt in Gedichten zwischen 1910 und 1912 die Melancholie des Abends. Ausserdem arbeitet er mit dem Motiv der atra hora - Stunde des melancholischen Grams . (Vgl. Benzenhöfer, in: ebd., S. 214-227) Martínez schreibt der nächtlichen Stunde ebenfalls Besonderheit zu: La noche es la hora de las sociedades secretas y cada transeúnte como un afiliado a esa secta de los que no se acuestan a las diez. – Die Nacht ist die Stunde der geheimen Gesellschaften und jedes Passanten, der jener Sekte derer angehört, die sich nicht um zehn schlafen legen. (Martínez: Radiografía de la Pampa, S. 219) Die Morgenmetapher verweist auf Melancholie, assoziiert mit Abend, Selbstüberdruss, Müdigkeit, weitestgehend im Sinne einer Welt- und Lebensmüdigkeit. (Vgl. Kruse: Moderne Melancholie und Unio Mystica, S. 208)
[58] Vgl. Fragmente: Melancholie und Trauer, S. 282.
[59] Zit. nach: Lenzen (Hg.): Melancholie als Lebensform, S.14.
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