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Mehr InfosMagisterarbeit, 2005, 136 Seiten
Magisterarbeit
1,0
1 Einleitung: Anspruch und Realität des Daily Talks
2 Herkunft und Öffentlichkeitsinteresse des Daily Talks
2.1 Ursprung des Fernsehtalks
2.2 Zur Themenauswahl des Daily Talks
2.3 Die unterhaltende Darstellung von Informationen und zwischenmenschlichen Konflikten
2.4 Talkshows als Spiegelbild und Katalysator kultureller Identität
2.4.1 Kollektive Selbstvergewisserungen
2.4.2 Medienvermittelte Identität
2.4.3 Stereotype Rollendarstellung
2.4.4 Die öffentliche Verhandlung des Privaten
2.5 Talkshows: Inszenierungen angewandter Demokratie?
3 Künstlichkeit mit Alltagscharakter: Die Inszenierung einer Talkshow
3.1 Die spezifische Mehrfachadressierung der Talkshowsituation
3.2 Die Rolle der Akteure
3.2.1 Die Gesprächsteilnehmer
3.2.2 Der Gesprächsleiter
3.2.3 Das Studiopublikum
3.2.4 Der Experte
3.2.5 Die Fernsehzuschauer
3.2.6 Redaktion und Regie: Spontaneität nach Drehbuch
3.2.7 Der Verhaltenskodex der Talkshows
4 Die Verhandlung von Beziehungen im Daily Talk
4.1 Beziehungskommunikation
4.1.1 Die verschiedenen Aspekte einer Äußerung
4.1.2 Illokution vs. perlokutive Effekte: Komplikationen der Beziehungs-kommunikation
4.2 Das Grice´sche Kooperationsprinzip (KP)
4.2.1 Sprecherintentionen erkennen
4.2.2 Para- und nonverbale Kommunikation
4.3 Selbstmitteilung und Fremdbeurteilung durch Sprechakte
4.3.1 Der Beziehungsaspekt in Searles Klassifikation
4.3.2 Kennzeichen des Daily Talk: das Nicht-Kooperationsprinzip
4.3.3 Kooperative und nicht-kooperative Verhaltensweisen
4.3.3.1 Dissens als Folge unkooperativen Verhaltens
4.3.3.2 Kooperative und unkooperative Zurückweisungen
4.3.3.3 Vorwurf und Rechtfertigung
4.3.4 Das Image
4.3.4.1 Imagezuweisung und –ablehnung
4.3.4.2 Selbstmitteilung durch Wertungen
4.3.4.3 Kommunikative Störfälle
4.3.4.4 Der verbale Vernichtungszug: Destroyer
4.4 Die Pathologie der Talkshowkommunikation: Imagearbeit durch Herabsetzung des anderen
4.4.1 Aggressionen und sprachliche Diskrimination
4.4.2 Imagearbeit des Formats auf Kosten seiner Gäste
Fazit und Ausblick. Der Überdruss am Nicht-Kooperationsprinzip und die Abkehr vom Konfro-Talk
Literaturverzeichnis, Abbildungsverzeichnis
Anhang: Formatbesonderheiten, Transkripte „Code of Conduct“ der Talkshows
Während einer TV-Sendung ist zwar noch nie ein Mord geschehen, wohl aber schon einige Male nach einer Sendung. Weil etwa ein Homosexueller in den USA bei Jenny Jones geoutet wurde, hatte dieser den ‚Verräter’ später erschossen.
Jetzt ist in New York abermals aufgrund einer Aufzeichnung von „Forgive and Forget“ mit Robin Gives kurz vor der Live-Ausstrahlung ein weiblicher schwangerer Gast umgebracht worden. [...] Der Titel des Daily Talks lautete „You’re 17, Quit having babies“. (Haupt 2000: 2)
Das Format des Daily Talks, das in den neunziger Jahren von den USA nach Deutschland importiert wurde, bringt teilweise Aggressionen in den beteiligten Akteuren hervor, die schlimmstenfalls sogar letale Folgen haben können. Zwar sind in Deutschland Mordfälle dieser Art nicht bekannt. Doch so manch verbaler Ver-nichtungszug endet auch hier in physischer Gewalt. Woher stammen diese Ag-gressionen? Werden sie von diesem Format gefördert?
Das Zusammenspiel der kommunikativen Spezifika des Daily Talks trägt zu derlei kommunikationsfeindlichen emotionalen Zuständen bei. Sie resultieren in der Äuße-rung typischer Sprechakte, die weitreichende Kosequenzen für die beteiligten haben können.
Da der Daily Talk in den neunziger Jahren seinen Höhepunkt erlebte und danach das Interesse wieder abebbte, beschäftigen sich die meisten Forschungsarbeiten mit den großen Gesprächsrunden der sogenannten „Bekenntnisshows“. Mittlerweile werden diese jedoch immer mehr vom Typ des „Konfro-Talks“ abgelöst, wo zwei Streitparteien ihren Konflikt vor Publikum austragen (vgl. Kap. 2.1). Dabei werden sensible Themen aus dem Privat- und Intimbereich gewählt (vgl. Kap. 2.2), die möglichst unterhaltsam dargeboten werden. In Kapitel 2.3 wird auf die möglichen Gefahren einer solchen Vorgehensweise hingewiesen.
Die Banalität der Themen sowie die Selbstentblößung der Gäste hat viele Autoren zur Frage nach der Motivation von Gast und Zuschauer veranlasst. Doch bisher fehlt eine befriedigende Analyse, denn die Motive der Gäste auf Exhibitionismus und die Motive der Zuschauer auf Voyeurismus zu reduzieren, erscheint zu simplifizierend. Vielmehr spielen kollektive und individuelle Identitätsbildungsprozesse eine Rolle, wie in Kapitel 2.4 näher erläutert wird. Daraus resultiert die Frage, ob Talkshows einen Beitrag zur soziopolitischen Meinungsbildung leisten können (vgl. Kap. 2.5).
Durch ihre Redundanz wirken die Themen trotz ihrer Intimität und Affektbeladenheit längst nicht mehr sensationell. Um dennoch eine akzeptable Einschaltquote sichern zu können, greifen die Produzenten der Daily Talks zu dramaturgischen, teils theatralischen Mitteln. Dies ist besonders bei den privaten Anbietern RTL und Sat.1 zu beobachten, während die öffentlich-rechtliche ARD sich mit „Fliege. Die Talkshow“ weiterhin am Typ der Bekenntnisshow orientiert. Der Umfang dieser Arbeit lässt nur die detaillierte Untersuchung eines Typs zu, weshalb ausschließlich solche Formate berücksichtigt werden, die den Typ des „Konfro-Talks“ integriert haben.
Als institutionelle Form der Kommunikation hat der Daily Talk einen festen Ablauf, insbesondere einen festen Gesprächsverlauf und festgelegte Rollen für die Teilnehmer (vgl. Kap. 3). Indem Gäste an einer Talkshow teilnehmen, lassen sie sich auf deren Spielregeln ein. Doch gerade diese Spielregeln verhindern eine fruchtbare Diskussion.
Verschiedene Standpunkte, die sich in der Gesellschaft finden, sollen in einer Talkshow präsentiert werden. Deshalb werden den Gästen pointierte Rollen zugewiesen. Gestaltet sich der Gesprächsverlauf in den meisten Alltagsgesprächen kompromissorientiert, äußern die Teilnhemer im Daily Talk immer wieder Sprechakte, die den Streit aufrechterhalten und so die Unvereinbarkeit ihrer Positionen betonen. Da sie dabei teils ihre Beiträge nicht aneinander ausrichten, teils einander bewusst täuschen und belügen, scheinen sie sich entgegengesetzt zu Grices Kooperations-prinzip zu verhalten, dessen Ziel ja der optimale Informationsaustausch ist (vgl. Kap. 4.1, 4.2).
Stattdessen verfolgen sie spezifische unkooperative Strategien (vgl. Kap. 4.3), die ihren Ursprung im Bedürfnis einer positiven Selbstdarstellung der Gäste haben. Viele der alltäglichen Strategien zur Imagepflege werden von den Produzenten der Daily Talks unterbunden. Deshalb bleibt nur ein enges Repertoire an vornehmlich negativen Strategien übrig, durch das die Gäste ihre Person als wertvoll präsentieren können. Die daraus resultierenden kommunikativen Störfälle werden zwar von den anderen Interaktanten markiert, doch reagieren die „Täter“ nicht mit Entgegen-kommen, wie es bei einem Alltagsgespräch üblich wäre. Dadurch wird ein konstruk-tiver Gesprächsverlauf verhindert.
Die Strategien der Akteure des Daily Talks werden anhand von Transkript-Exzerpten exemplarisch belegt. Insgesamt sollen sie die These des Nicht-Kooperationsprinzips im Daily Talk stützen. Dies führt dazu, dass die Akteure ihr positives Image nur durch die Herabsetzung der anderen fördern können (vgl. Kap. 4.4).
Somit mündet diese Untersuchung in eine Diskussion über Medienethik und den Anspruch des Daily Talks. Wie sehr dürfen medienunerfahrene Gäste instrumen-talisiert werden, mit welchem Erfolg wird es getan und was sind dabei die Botschaften an den Fernsehzuschauer? Die Erkenntnisse aus dieser Diskussion sollen in Kapitel 5 zu einer abschließenden Bewertung des Daily Talks führen und neue Möglichkeiten und Potentiale dieser und ähnlicher Formate aufzeigen.
Die Ursprünge der Talkshows liegen im präelektronischem Zeitalter, nämlich in der spezifischen Tradition von Öffentlichkeit in den USA. Die direkte Beteiligung des Volkes an der Justiz, das Wahlbeamtentum, die emotionalen und personen-bezogenen Wahlkämpfe sowie die öffentlichen religiösen Schuldbekenntnisse waren Grundlage und Voraussetzung für dieses Sendeformat (vgl. Plake 1999: 39 ff.).
In den USA ist die Rede als öffentliche Veranstaltung üblich:
Die Talkshow entstand als Form der Unterhaltung in den USA, weil sowohl die gesellige Kommunikation wie auch das Confrontainment, die Selbstbehauptung in der Auseinandersetzung mit anderen, in dieser Gesellschaft eine besondere Bedeutung haben. (ebd.: 40)
Das Fernsehen hat dort somit lediglich vorhandene Strukturen aufgegriffen und weiterentwickelt. Der Druck zu kostengünstigen Produktionen mit hoher Einschalt-quote begünstigte diese Entwicklung. So wurde im Mai 1950 der erste Vorläufer der Gattung Talkshow, das „Broadway Open House“ vom NBC ausgestrahlt. In den fünfziger und sechziger Jahren etablierten sich dann die Talkshows in den USA ; besonders bekannt wurde die „Tonight Show“ von NBC, die ab 1958 ausgestrahlt wurde.
Nachdem das ZDF am 1.4.1963 den Sendebetrieb aufgenommen hatte, entstand eine rudimentäre Form der Konkurrenz um den Zuschauer, die die Inhalte und die Art ihrer Darstellung wichtiger werden ließ. Aus dieser Wettbewerbssituation heraus erfolgte eine Orientierung an den USA, wo das Fernsehen schon kommerzialisiert war und als Dienstleistung wahrgenommen wurde. Informationen über öffentliche Angelegenheiten wurden popularisiert und das neue Format der Talkshow „vervoll-ständigte die Palette der Möglichkeiten, Politik dem Zuschauer nahezubringen“ (ebd.). Diese Entwicklung vollzog sich gemeinsam mit der Entstehung eines öffentlichen Diskurses mit der Elterngeneration in den sechziger Jahren. In der Bundesrepublik Deutschland wurde ab dem 4.3.1973 mit „Je später der Abend“ die erste deutsche Talkshow, moderiert von Dietmar Schönherr, in das Programm der ARD genommen. Zunächst lief sie im dritten Programm, wurde jedoch wegen allgemeiner Beliebtheit im Dezember desselben Jahres in das erste Programm geholt[1].
Waren Talkshows in den siebziger Jahren und Anfang der achtziger Jahre eher personenorientiert und wurden wöchentlich oder monatlich angeboten, etablierten sich in den neunziger Jahren auch täglich angebotene Formate. Jetzt entstand der Druck, ein kostengünstigeres Format zu finden, das täglichen Stoff liefern würde. Nachdem ab den achtziger Jahren die Talkshows verstärkt thematisch zentriert waren, entwickelte sich nun also der Typ der „Bekenntnisshow“ (vgl. ebd.: 33), die von allen Typen das stärkste Wachstum (zeitlich und quantitativ) verzeichnete. Der Vorteil für die Sender liegt hierbei auf der Hand: der Gast von der Straße kostet die Produktion weniger als ein Prominenter, während mit delikaten Themen das Zuschauerinteresse weiter aufrechterhalten werden kann. Im deutschen Fernsehen wurde die erste Daily-Talk-Sendung dieser Art „Hans Meiser“ (RTL), ausgestrahlt am 14.09.1992. Dieser folgte ein regelrechter Boom des Formats mit „Ilona Christensen“ (RTL), „Bärbel Schäfer“ (RTL), „Arabella“ (Pro7), „Andreas Türck“ (Pro7), „Vera am Mittag“ (Sat1), „Sonja“ (Sat1), „Fliege: Die Talkshow“ (ARD), u.a.m.
Mit der Einführung des dualen Systems war „Rundfunk ist nicht mehr so sehr ‚kulturelle Veranstaltung’ als vielmehr ‚Ware und Dienstleistung’“ geworden (ebd.: 47). „Die Konkurrenzsituation bewirkt einen Trend zum Sensationalismus“ (ebd.). Als Folge wurde mit neuen Formaten experimentiert, z.B. mit „dem auf Konflikt angelegten Streitgespräch“, der „Combat Talk Show“ und ebenso Versöhnungs-shows, die alle ihre Vorbilder im amerikanischen Fernsehen fanden.
Beide fügen der ‚klassischen’ Talkshow ein theatralisches Element hinzu. Ging es zuvor um die diskursive Behandlung von Problemen unter Kollegen (wie Mobbing) oder Ehekonflikten wie Eifersucht, so werden zunehmend das Mobbing und der Eifersuchtskrieg von den real Beteiligten praktisch ausgeführt. (Grimm 1998: 69)
Zur Zeit kann man beobachten, wie das Theatralische in den verbliebenen Send-ungen „Vera am Mittag“, „Britt – der Talk um Eins“ und „Die Oliver Geissen Show“ immer mehr die Oberhand gewinnt. Unterstützt wird dies z.B. durch künstlerische Darbietungen, Gewinnspiele etc. Diese Elemente sollen wohl weiter zum Zuschauen animieren, nachdem alle denkbaren Themen nun schon mehr als erschöpfend behandelt wurden. Gelegentlich fertigen die Produktionsfirmen dieser Formate noch Sendungen im Stil der Bekenntnisshow an, allerdings ist dieser Trend rückläufig. „Fliege: Die Talkshow“, das letzte Format, dass vollständig auf den „Konfro-Talk“ verzichtet, soll im September 2005 abgesetzt werden.
In den neunziger Jahren orientierten sich alle reichweiten Daily Talks am Modell der Bekenntnisshow. In diesem tritt die Person hinter ihrer Geschichte zurück. Allein die „Perspektive des ‚Falles’“ ist von Interesse (Plake 1999: 36). Der Ablauf wird so festgelegt, dass die jeweils richtige Geschichte zum passenden Zeitpunkt erzählt wird. Obwohl die Bekenntnisshow sehr persönlich ist, ist sie also nicht besonders individuell. Die Gesprächsgegenstände sind fast immer sehr konkret. Wie Plake bemerkt, geht es hier
um die persönlichsten Gefühle, um Sexualität, um Mutterschaft und Vaterschaft, um Süchte und Begierden oder schlicht um den Körper, die physische Ausstattung und die damit verbundenen Empfindungen, also um die auf die biologische Existenz reduzierte Identität. (Plake 1999: 100)
Die Themen sind somit intim und provozieren intensive Affekte. Dies können z.B. Krankheiten oder Eigenschaften in der Nähe der gesellschaftlichen Tabuzone sein. Die Gäste gehen mit ihrem Auftritt ein Risiko ein, denn durch das Bekanntwerden ihrer Geschichte können ihnen soziale Nachteile entstehen. Sie stellen sich der moralischen Bewertung der Öffentlichkeit mit Themen, die häufig Scham- und Peinlichkeitsgrenzen berühren oder auch überschreiten.
Bei der Weiterentwicklung dieses Formats haben die Programmmacher diesen Themenkreis beibehalten, während sie immer mehr zum Typ des Konfrontainments übergegangen sind. Hier werden zwei Streitparteien dazu animiert, ihren zwischenmenschlichen Konflikte öffentlich auszutragen. Pro Sendung werden dann zwei bis vier Konfliktinszenierungen dargeboten. Die enge Themenauswahl orientiert sich an der Darbietung des Privaten und Intimen, das emotional möglichst mitreißend wirken soll.
In den amerikanischen Talkshows ist das Lieblingsthema traditionell die Familie. Fünfzig Prozent der Talkshows drehen sich inhaltlich um Eltern-Kind- oder Ehegattenbeziehungen. Gleich danach folgt der große Themenbereich, den Plake mit ‚interactions about general sexual activities“ einkreist (Plake 1999: 106). In Deutschland zeigen sich ähnliche Trends, wobei der Themenbereich „Ehegattenbeziehungen“ eher in „Lebensabschnittspartnerbeziehungen“ umbenannt werden sollte. Der Themenkreis der Ästhetik, bei dem die äußere Erscheinung der Gäste diskutiert wird, taucht nur im Genre der Bekenntnisshow auf und ist deshalb nur noch selten vertreten. In der folgenden Übersicht der untersuchten Stichprobe ist nur das letzte Thema einer Bekenntnisshow entnommen:
Achtung – heute trennen sich unsere Wege, oder...
Lügenfalle. Heute tappst du rein.
Abschussrampe – das lass ich mir nicht länger bieten.
Hinterhältige Lästerschwestern
Abgebrühte Fremdgänger
Du liebst mich nicht mehr! Jetzt rechne ich mit dir ab!
Dicke Dinger – ich liebe meine Brüste.
Warum tendieren diese Formate zu derart einseitigen Themenkreisen, obwohl es generell viele weitere Dinge zu besprechen gäbe? Die Überlegungen Bourdieus, die er generell zum Medium Fernsehen angestellt hat, könnten bei dieser Fragestellung erhellend wirken. Seiner Ansicht nach wirkt Konkurrenz im Journalismus homogeni-sierend, dies gilt wohl auch für Talkshowthemen. Die Einschaltquote als „verborgener Gott des Presseuniversums“ (Bourdieu 1998: 33), der „Markt als Legitimationsinstanz“ (ebd.:36) erfordert eine Art politischen Konformismus. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer soll auf Dinge gelenkt werden, die jeden interessieren, aber niemanden schockieren oder gar die Gesellschaft spalten. Konsens wird hergestellt, ohne aber wirklich Wichtiges zu berühren.
Das Gesetz ist altbekannt. Je breiter das Publikum ist, auf das ein Presseorgan oder überhaupt ein Kommunikationsmedium zielt, je stromlinienförmiger muß es sich verhalten; es muß alles kontroverse meiden und sich befleißigen, ‚niemanden zu schockieren’, wie es heißt, niemals Probleme aufzuwerfen oder höchstens Scheinprobleme. (Bourdieu 1998: 62)
Deshalb ist Bourdieu folgender Überzeugung:
Wir sagen viel weniger originelles als wir glauben. Das gilt besonders in Welten, in denen die kollektiven Zwänge erheblich sind [...] (Bourdieu 1998: 31)
Die Themen dürfen nicht zu brisant sein und müssen sich innerhalb der gesellschaftlichen Akzeptanzgrenzen bewegen. Zwar führt das journalistische Aus-wahlprinzip der sensationellen und spektakulären Nachrichten zur Selektion des Ungewöhnlichen und Nichtalltäglichen (vgl. Bourdieu 1998: 23 ff.). Doch dies geschieht nur innerhalb der Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen.
Keine Talkshow würde beispielsweise eine Diskussionsrunde mit Kinderschändern anzetteln, da sie damit dem Verdacht unterliegen würde, die Motive und Argumente solcher Menschen darstellen zu wollen. Da diese Menschen jedoch von der Gesellschaft als unmenschlich bezeichnet und als Monster stigmatisiert werden, darf ihnen kein Raum gegeben werden, um sich als denkende und fühlende Wesen darzustellen. Eine solche Praxis könnte unter Umständen dazu führen, dass gewisse Menschen Verständnis für diese Talkshowgäste entwickeln und sich schlimmstenfalls mit einigen der Gefühlen und Gedanken identifizieren könnten. Dies könnte schließlich zur Akzeptanz eines intolerablen, weil gesellschaftgefährdenden Verhaltens führen, möglicherweise sogar gewissen Zuschauern als Motivation zu ähnlichem Verhalten dienen.
So scheint Bourdieu Recht zu behalten, wenn er die Diskussion von Problemen im Fernsehen als homogenisierend und konform bewertet. Die Positionen und Charaktere in Talkshows sind eher scheinkontrovers und unterscheiden sich lediglich durch Minimaldefinitionen. Die Talkshow muss eben den Geschmack des breiten Publikums bedienen; über ein Rohprodukt soll die größtmögliche Zuschauerzahl erreicht werden. Deshalb wird sorgsam vermieden, den Mitgliedern der breiten Masse vor den Kopf zu stoßen. Der Moderator als konformer Moralapostel benennt dabei die „Probleme der Gesellschaft“ und die Aspekte, die daran diskussionswürdig sind. Dies sind jedoch in Wahrheit genau die Aspekte, über die kein großer Dissens besteht.
Archetypische Situationen des menschlichen Lebens machen somit im Daily Talk den thematischen Schwerpunkt aus. Die Darstellung von Liebe und Gewalt in einer einfachen, linearen Handlungsstruktur bildete schon für viele Märchen, Dramen und Mythen die Grundlage. Genau wie Märchen laufen Daily-Talk-Sendungen immer auf eine „Moral von der Geschicht’“ hinaus, wie in Kapitel 4 näher erläutert wird. Diese Moral könnte man als Information darüber werten, was gesellschaftlich akzeptabel ist oder nicht. Ist der Daily Talk deshalb ein Hybrid von Information und Unterhaltung?
Welche Auswirkungen hat die unterhaltsame Darstellung zwischenmenschlicher Konflikte?
Die Diskussionen des Daily Talk werden grundsätzlich möglichst unterhaltsam inszeniert. Die Themen werden reißerisch formuliert, mit stilistischen Mitteln wie der Personalisierung („Achtung – heute trennen sich unsere Wege, oder...“), umgangssprachliche Redewendungen („Dicke Dinger – ich liebe meine Brüste“) und Wertungen („Hinterhältige Lästerschwestern“). Themen, die kaum spektakulär sind, werden notfalls dramatisiert. Dies geschieht z.B. durch die optisch übertriebene Darstellung der Gäste oder des Geschehens. So benutzt die Gesprächsleiterin Britt in vielen ihrer Shows als Requisite einen ca. 2 m großen Tresor aus Metall, der blau angestrahlt und eingenebelt wird. Dieser Tresor beinhaltet ein Blatt Papier, nämlich das Ergebnis eines Vaterschaftstestes, das von dort „feierlich“ entnommen und vorgelesen wird.
Der Daily Talk scheint somit eine Abwandlung des Boulevardjournalismus zu sein. Statt des abstrakten Themas werden einzelne Akteure in den Mittelpunkt gestellt. Dieses Konzept macht die Handlung für den Zuschauer überschaubarer und deshalb attraktiver. Da die Gäste häufig dem selben sozialen Umfeld entspringen wie die Zuschauer, ist das Identifikationspotential besonders hoch. Damit wird ein Bezug des Zuschauers zum Thema hergestellt. Durch Unterhaltung wird somit oft das erste Interesse bzw. die Aufmerksamkeit des Rezipienten bezüglich eines Sachverhalts geweckt.
Wenn Unterhaltung Informationen für die Masse attraktiv machen kann, ist dann die Vermischung von Unterhaltung und Information zum Infotainment kritikwürdig? Wenn eine bestimmte Inszenierung von Diskussionen dazu führt, dass die Rezipienten ihre Inhalte besser aufnehmen, trägt sie schließlich positiv zum Erreichen des kommunikativen Ziels bei. Um diese Frage zu beantworten, sollten wir die kommunikativen Bedürfnisse der Fernsehzuschauer genauer betrachten.
Die Umfragen im Rahmen des ARD/ZDF-Trends 1999 und der SWR-Studie 1999 zeigen, dass die Nachrichten von den Zuschauern als subjektiv wichtigster Programminhalt empfunden werden (93% Zustimmung) und von allen Programmformen am intensivsten genutzt werden. Danach folgen unterhaltende Filme (83% Zustimmung) (vgl. Blödorn / Gerhards / Klingler 2000:172). Die Motive zur Fernsehnutzung sind also, tagesaktuelle Information zu erhalten ebenso wie unterhalten zu werden. Dies bedeutet für das Fernsehen eine doppelte Rollen-definition: es muss Unterhaltung und Information liefern, mit Schwerpunkt auf Letzterem[2]. Dies führt zu einer Vermischung dieser beiden Konzepte hin zu immer mehr „Infotainment“-Programmen.
An dieser Stelle sollten wir die Frage nach dem Wesen von Unterhaltung stellen. Es gibt keine allgemein anerkannte Definition oder Theorie dieses Konstruktes. Einige Autoren vermuten jedoch in ihr die Funktion der Zerstreuung, sehen in Unterhaltung also den Gegenpol zu Konzentration und Sammlung. Damit hat der Begriff ‚Unterhaltung’ eine abwertende Konnotation. Sie gilt als ‚leichte Kost, die für jeder-mann verdaulich ist’ und deshalb keine besonderen Eigenschaften oder Fähigkeiten reflektiert. Diese Einstellung spiegelt sich auch bei Lieb wider, die als eine Funktion von Unterhaltung die „Entlastung von Sinn“ nennt (vgl. Lieb 2001: 39). Schwab nimmt an, dass Unterhaltung positive Emotionen evozieren soll (vgl. Schwab 2001: 68 f.) Dadurch würde kreatives Denken und Offenheit gefördert, während durch negative Emotionen das Denkrepertoire verengt wird (vgl. ebd.:19). Durch die „unspezifische Suche nach Reizen“ (Wünsch 2002: 26) versucht der Fernsehzu-schauer, sich von Langeweile zu befreien. Das Erregungsniveau wird erhöht durch neuartige, komplexe, konfliktauslösende, überraschende und Ungewissheit aus-lösende Reize (ebd.). Dies sind auch die Elemente des Daily Talk.
Die unterhaltsame Darstellung informativer Inhalte könnte jedoch problematisch sein. Postman kritisiert in seinem Werk „Wir amüsieren uns alle zu Tode“, dass das Fern-sehen die Unterhaltung zum Rahmen jeglicher Darstellung von Erfahrung gemacht [hat] Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, daß es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert. (Postman 1992: 110)
Unterhaltung scheint die bestimmende Ideologie des gesamten Fernsehdiskurses zu sein. Sogar in der Aufmachung von Nachrichtensendungen entdeckt Postman die Suggestion, der Inhalt sei nicht weiter ernst zu nehmen. „Gutes Fernsehen“ hat ihm zufolge nichts mit Erörterung und Urteilsbildung zu tun, sondern einzig mit der Wirkungsweise von Bildern (vgl. ebd.: 111). So ist es auch durchaus kritisch zu bewerten, dass der Daily Talk nicht mehr nur verschiedene soziale Themen unterhaltsam aufbereitet, sondern dass nun der zwischenmenschliche Konflikt selbst zum Zentrum der Unterhaltung wird. Durch die regelmäßige Rezeption dieser Inhalte könnte eine gewisse Unsensibilität im zwischenmenschlichen Bereich gefördert werden.
Die zeitlichen Beschränkungen und das Tempo einer Talkshow verhindern ein Nachdenken vor der Kamera – dies wäre auch langweilig, weil es dabei nicht viel zu sehen gibt. Wie Postman schreibt: „Denken ist keine darstellende Kunst“ (Postman 1992: 113). Deshalb treten Formulierungen, die auf Nachdenken hinweisen, wie „Lassen Sie mich darüber nachdenken“ oder „Aus welcher Quelle stammt ihre Information?“ eher selten bzw. überhaupt nicht auf. Postman ist der Meinung, dass eine Fernsehsendung nur Applaus, nicht aber Nachdenklichkeit will (ebd: 114). So entfernt sich dieses Genre immer mehr vom Inhalt mit substanziellen Aussagen.
Aus dem Wesen dieses Mediums ergibt sich, daß es den Gehalt von Ideen unterdrücken muß, um den Ansprüchen optischer Anziehungskraft zu genügen. (ebd.: 115)
Die Zeitbeschränkung verhindere Komplexität, das Belegen von Behauptungen und eine durchgängige Logik (ebd.: 121). Die Kontextlosigkeit und Diskontinuierlichkeit lassen Widersprüche verschwinden. Die Gäste einer Talkshow lassen sich so womöglich zu übereilten (Sprech-)Handlungen hinreißen; die Zuschauer könnten durch die wiederholte Präsentation solcher Handlungen diese als normal empfinden. Durch die unterhaltende Präsentation von ernsthaften Inhalten werde Distanz zu den Inhalten geschaffen, so Postman (vgl. ebd.: 150). Möglicherweise fördert die Darstellung des zwischenmenschlichen Konflikts im Daily Talk eine Abnahme der Em- und Sympathie für die Akteure.
Die unterhaltende Darstellung durchdringt die Bereiche der Informationsvermittlung immer mehr. Zwar kann sie auf der einen Seite für Aufmerksamkeit seitens des Empfängers sorgen, auf der anderen Seite aber sowohl kognitiv als auch emotional abstumpfen lassen. Da im Daily Talk Themen von sozialer Relevanz besprochen werden, könnte eine solche Inszenierung der Diskussionen negative Konsequenzen auf die Einstellung der Rezipienten bezüglich des Umgangs mit ihren Mitmenschen haben.
Die scheinbaren Belanglosigkeiten, die beim Daily Talk geäußert werden, sind wie beim Small Talk in Wahrheit Vergewisserungen über die eigene und die gemeinsame Konstruktion der Realität. Sie dienen dazu, sich miteinander über die Wirklichkeit zu verständigen:
Wir sind auf unsere Mitmenschen angewiesen, um Eindrücke, die auf uns einstürmen, zu überprüfen. Wir können auch umgekehrt sagen, daß das gesellige Miteinander erst dadurch interessant und lohnend wird, daß wir ständig derartige Abstimmungen von Bedeutungen vornehmen. (Plake 1999: 20)
Durch den Austausch von Ansichten können Übereinstimmungen erreicht werden, die als Voraussetzung für die Wir-Beziehung gelten können.
Durch permanentes Reden ergibt sich der Eindruck, daß die Welt so und nicht anders zu sehen ist und daß es genügend Mitmenschen gibt, die dies auch bezeugen können. (ebd.: 21)
Eine eindeutige gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion ist somit Grundlage für ein Wir-Gefühl und eine kollektive Identität.
Die Selbstverständlichkeiten, die in Talkshows diskutiert werden, bestehen aus den gemeinsamen, stillschweigenden Überzeugungen, die alle Teilnehmer voraussetzen. Dazu gehören beispielsweise derzeit akzeptierte gesellschaftliche Normen und Werte, der höfliche (oder bewusst unhöfliche) Umgang miteinander, etc.:
Indem Talkshows interaktive Praktiken der Konstruktion des nationalen Selbst massenhaft repräsentieren und reproduzieren, liefern sie einen zentralen Beitrag zur kollektiven Selbstvergewisserung. (Thomas 2003: 199)
Talkshows bieten Identitätsangebote zur Orientierung in unserer pluralistischen und fragmentierten Gesellschaft. Um diese Struktur zu erhalten, müssen die Außen-grenzen des „normalen“ Verhaltens in der Diskussion bleiben, um sie immer wieder neu bestimmen zu können.
Eine stabile Gesellschaft erfordert eine Orientierung der Subjekte nach innen.
Im Daily Talk werden potentielle Verhaltens- und Lebensweisen dargestellt, um zum Schluß darauf hinzuweisen, welche am erstrebenswertesten ist. Typisch ist eine Inszenierung von entgegengesetzten Extrempositionen, die als unvereinbar dargestellt werden. Vorwürfe und die Inszenierung von Körperlichkeit unterstützen diese Provokation. Im Verlauf einer Sendung (meist zum Schluss) werden einige weniger extreme Positionen präsentiert („normale“ Gäste) oder der Moderator steuert die Diskussion in Richtung eines Aufeinanderzubewegens. Durch die Mischung diser allgemeinen und extremen Erfahrungen wird das Publikum geradezu dazu gezwung-en, ebenfalls Position zur Thematik zu beziehen (vgl. Meer 2003: 249f.)
Talkshows bieten also Identitätsressourcen, die ihre Bedeutung genau dadurch erhalten, dass sie differenzstiftend sind. Krotz definiert Identität als eine „kontinuierliche Balance des Individuums zwischen Selbstdarstellung und Zuschreibung in ganz unterschiedlichen Kommunikationssituationen“ (Krotz 2003: 28). Das Fernsehen bietet eine Plattform für die Selbstdarstellung und Zuschreib-ung. Da der Mensch seine Identität und seine Welt in Kommunikationssituationen immer wieder neu konstruiert (vgl. ebd.: 29 ff.), können im Verlauf einer Kommunika-tionssituation auch neue Identitätsaspekte entstehen oder sich deutlicher heraus-kristallisieren:
Menschen haben keine Identität, sondern sie leben ihre Identität in ihrem kommunikativen Handeln mit anderen. (ebd.: 34)
Die Inhalte einer Talkshowsendung liefern wiederum dem Fernsehzuschauer zu Hause Rollen- und Handlungsmuster, z.B. für den Umgang mit Konflikten (vgl. ebd.: 40). Hier lässt sich ein deutlicher Unterschied zwischen deutschen und US-amerika-nischen Talkshows erkennen, zumindest die „Jerry-Springer-Show“ kultiviert gerade-zu körperliche Gewalt, während in deutschen Talkshows die verbale Auseinander-setzung die Norm ist. Doch auch da nähern sich die deutschen Formate ihrem amerikanischen Vorbild an, wie in Kapitel 4.3.4.3 gezeigt wird.
Durch ein Zusammenspiel der verschiedene Medien und ihren Inhalten werden vorgestellte Gemeinschaften (vgl. Winter / Thomas / Hepp 2003: 11 ff.) geschaffen, die sich durch ähnliche Interessen, Kleidung und möglicherweise emotionale Befindlichkeiten auszeichnen. Dies fördert eine gewisse Kommerzialisierung der Identität, indem z.B. ein bestimmter Kleidungsstil getragen werden muss, um zu einer bestimmten Gruppe zu gehören; bestimmte Musik gehört werden muss und – ein relativ neues Phänomen – bestimmte Klingeltöne für Handys besessen werden müssen. Marken und Produkte werden folglich durch ihre symbolische Ebene zu Identitätsbotschaften (vgl. ebd.: 16). Aus dem enormen Angebot von Auswahlmöglichkeiten muss das Individuum nun selektieren, das heißt eine Auswahl treffen. Dafür wird das direkte räumliche Umfeld als Orientierung jedoch immer uninteressanter. Wichtiger erscheint, was andere in einer ähnlichen sozialen Position machen, was sie sagen und wie sie aussehen.
Elektronische Medien verändern die räumliche Wahrnehmung und damit die Semantik des Raumes. Damit muss die Bedeutung von Sozialität umdefiniert werden. Räumliches Beieinandersein stellt keine hinreichende oder ausschließliche Beschreibung dieses Begriffes dar, denn auch in Face-to-face-Interaktionen können sich Individuen isoliert fühlen (vgl. Paetau 1997: 104 ff.). Vielmehr kommt es auf soziale Bindewirkungen an, auf Wechselbeziehungen zwischen den Individuen. So ist das isolierte Nebeneinander von Personen, wie z.B. im Wartezimmer einer Arztpraxis oder in der U-Bahn kein sozialer Raum.
Doch der Mensch ist ein soziales Wesen und sucht nach sozialen Anknüpfungs-punkten. Paetau argumentiert, dass Menschen von „virtuellen“ Kontakten profitieren können, da sie den Sinnhorizont eines Individuums, bestehend aus Erfahrungen und Ereignissen, erweitern können (vgl. Paetau 1997: 119).
Seiner Meinung nach scheint die körperliche Anwesenheit anderer nur früher not-wendig gewesen zu sein, wo man noch nicht auf ausgelagerte Medien zurückgreifen konnte:
Die körperliche Anwesenheitspflicht (face-to-face) bei der Kommunikation wurde aber erst durch die Entwicklung von Notationssystemen gelockert. (Paetau 1997:123)
Allerdings spricht er von „gelockert“ und nicht von „aufgehoben“. Also scheint die Face-to-face-Kommunikation für ihn nicht völlig durch mediatisierte Kontakte über-flüssig geworden zu sein. Der Zuwachs an neuen Medien eröffnet zwar die Möglichkeit, Gemeinschaft und Identität nicht nur in der direkten Umgebung, sondern auch translokal zu finden, kann aber die direkte Interaktion mit anderen Menschen nicht vollständig ersetzen.
Durch Medien werden nicht nur Öffentlichkeiten generiert, sondern auch eine Plattform zur Selbstvergewisserung geschaffen (vgl. ebd., 17). So können vor allem Jugendliche, die sich in einer Orientierungsphase befinden und z.B. Hausfrauen und Senioren, die in unserer Gesellschaft meist wenig Kontakt zu Gleichaltrigen haben, feststellen, ob ihre Meinungen und Einstellungen sozial akzeptabel sind. Dies wird ihnen durch Bewertung und Kritik der Medieninhalte ermöglicht. Die Förderung der Kritikfähigkeit an der eigenen Kultur und am eigenen Lebensstil ist ein großes Potential für Talkshows. Indem sie verschiedenartige Meinungen und Kulturen bzw. Subkulturen zeigen, könnten sie ihren Zuschauern theoretisch ermöglichen, ihre Position in der Gesellschaft für sich selbst zu definieren.
Medien bieten ein Forum zur Reflexion über den Markt der Möglichkeiten, dem wir heute gegenüberstehen. Die Quellen kultureller Identität sind vielzählig: Klasse, Lokalität, Geschlecht, Generation, Ethnizität, Religion, Politik etc. gehören dazu (vgl. Winter 2003: 54 f.). Innerhalb dieser Kategorien sind immer Widersprüche vorhand-en; deshalb ist die kulturelle Identität konflikthaft, instabil und dadurch dynamisch. Welche Bedeutung haben nun kommunikative Praktiken für die Konstitution von Identität?
Im „Supermarkt der Weltdeutungsangebote“ werden die Rollenmöglichkeiten immer breiter und die potentiellen Identitäten immer vielschichtiger. In Talkshows wird jedoch meist nur ein Aspekt herausgegriffen, den die Gäste dann stereotyp vertreten sollen. Wählen die Akteure eine Talkshow als Ort für Selbstdarstellung und Zu-schreibung, werden sie sich in der Regel dieser besonderen Kommunikations-situation bewusst sein und deshalb ein anderes kommunikatives Verhalten zeigen als in Alltagssituationen. Dabei ergibt sich das Problem, dass die Rolle „Talkshow-gast“ von ihnen normalerweise nur wenig geübt und bisher nur beobachtet wurde. Diese Rolle scheint jedoch eine starre, unnachgiebige und meist recht extreme Position zu verlangen. Danach richten sich die Gäste. Je nach Bezugsgruppe, die der Position am ehesten entspricht, werden diese Werte und Normen übernommen und das Verhalten teilweise sehr extrem danach ausgerichtet. So kann es vorkomm-en, dass sehr freizügige Kleidung in einer Mittagssendung mitten im Winter getragen wird, oder sich die Gäste sogar entkleiden. Im Daily Talk entblößen die Gäste eben nicht nur ihr Seelenleben, sondern oft auch ihren Körper. Über das, was dann in Erscheinung tritt, wird diskutiert.
Leonhardt zufolge leben Talkshows von sehenswerten, ausdrucksfähigen und temperamentvollen Gästen mit interessanten Geschichten (vgl. Leonhardt 1989: 35). Dies spiegelt jedoch nicht die Realität des Daily Talk wider. Das Interesse der Zuschauer wird nicht durch die Besonderheit der Geschichten, sondern vielmehr durch ihre Intimität geweckt. In solchen Talkshows werden häufig Details offenbart, die die Grenzen der gesellschaftlichen Tabuzonen berühren können. Doch woher kommt diese scheinbar uneingeschränkte Bereitschaft, Dinge zu offenbaren, die im Alltag wohl kaum so offen besprochen werden würden?
Die „neue Offenheit“ war zunächst ein kulturrevolutionäres Konzept der sechziger und siebziger Jahre, das Zeitfenster, in dem auch erste Talkshows vom deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden. Zu diesem Konzept gehörte auch das Öffentlich-machen des Privaten. Doch mittlerweile ist dieses Verfahren durch seine ständige Wiederholung nicht mehr subversiv, sondern alltäglich und damit harmlos geworden (vgl. Huemer 2003: 158). Diskussionen, meint Huemer, führen ohnehin nicht zu Veränderungen, deshalb kann man auch gefahrenlos über alles reden (ebd.: 162).
Die Entblößung des Privaten hat spätestens seit dem 19. Jahrhundert eine Tradition. Literarische Bekenntnisse und Autobiographien fanden schon damals viele Leser. Warum ist aber gerade jetzt das Private als auslaufendes Lebensmodell so aktuell geworden? Es ist nicht seine Thematisierung, sondern die Aufhebung der Trennung zwischen öffentlich und privat, die neu ist (vgl. Schneider 2002: 188 ff.). War der Akt des Lesens über private Dinge etwas Intimes, avancierte seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts z.B. die Sexualität zur öffentlichen Angelegenheit. Der Kinsey-Report 1948 war der Beginn der Thematisierung von Sexualität in der Medienöffentlichkeit. Damit war das Private quantifizierbar geworden, vergleichbar und konnte nun öffentlich verhandelt werden. Schneider schreibt dazu:
Seitdem ist der Bereich des Intimen zu einer statistischen Größe geworden, als Vermessungseinheit konzipiert, zerlegt und ausgezählt, öffentlichkeitsfähig gemacht... (Schneider 2002: 190)
Nun ist das Intime in Talkshows verhandelbar. Wie sonstige öffentliche Angelegen-heiten auch kann es be- oder verurteilt werden. Anstelle des Schweigens, dass die Ge- und Verbote vergangener Jahrhunderte hervorgerufen hatten, ist der Zugang zum Bescheidwissen getreten. Jeder weiß über alles zumindest ein bisschen:
Dieses Wissen ist gerade nicht ein Halbwissen, das vervollständigt werden könnte, sondern eine diffuse Art des Teilhaben an einem Common-Sense-Wissen. (Schneider 2002: 193f.)
Es ist zugleich ein Wissen mit Verfallsdatum. Erkenntnisse werden ständig von neuen Erkenntnissen abgelöst; es fehlen die Instanzen, die dem Wissen Bestand verleihen. Mittlerweile ist die „öffentliche Privatheit“ eine Art Normalität geworden. Das Alltagsleben ist immer mehr elektronischen Kontrollen ausgesetzt, die wir aber in der Regel als bequem empfinden, so z.B. Kundenkarten, Teleshopping, Mobiltelefone etc. Es ist normal geworden, Fremde an den eigenen privaten Interessen teilhaben zu lassen. Wäre also eine einfache Erklärung, dass die allgemeinen Hemmschwellen stark gesunken sind? Entwerten wir die Intimität, um nicht erpressbar zu werden? Dieser gesellschaftliche Prozess ist soweit vorangeschritten, dass es scheint, wir müssten uns mit ihm arrangieren. So verliert das Private immer mehr an Wert. Das Zurückhalten von Informationen zur eigenen Person wirkt, als ob man etwas zu verbergen hätte (vgl. Huemer 2003: 165).
Bekommt das Private also eine negative Konnotation? Ist das Entblößen somit eine Art sich positiv darzustellen und zu suggerieren, dass bei der eigenen Person keine Leichen im Keller zu finden sind? Plake weist darauf hin, dass das Private von vielen Menschen heute sehr viel differenzierter betrachtet wird als früher. Über jeden einzelnen Aspekt wird gesondert entschieden, ob er dem Einfluss anderer preisgegeben werden kann oder nicht (vgl. Plake 1999: 70). Da allerdings die gesell-schaftlichen Toleranzgrenzen auch stark erweitert worden sind, birgt eine Selbst-offenbarung auch nicht mehr so viel Gefahr wie vielleicht noch vor zwanzig Jahren.
Bietet der Daily Talk einen öffentlichen Raum zum Austragen von Gegensätzen? In diesem Falle wäre dieses Sendeformat eine Inszenierung angewandter Demokratie. Hier können Fragen mit öffentlichem Bezug diskutiert werden, auch wenn sie in ihrer Auswirkung den Einzelnen betreffen. Die Geschichten der Betroffenen haben nicht nur einen emotionalen, sondern vor allem einen gesellschaftlichen Stellenwert. So können Fernsehgespräche einen öffentlichen Druck hin zu strukturellen Veränderungen bewirken und als Diskurs auf Öffentlichkeit und Politik einwirken (vgl. Plake 1999: 85-88).
In einer Zeit, in der sich Lebensstile immer weiter ausdifferenzieren, kommen kollektiven kommunikativen Ereignissen eine besondere Bedeutung zu (vgl. Thomas 2003: 187). Der Bürger braucht einen Begriff von seinem Nationalstaat und seiner Gesellschaft, um ein demokratisches Subjekt zu werden. Da der Wandel moderner Gesellschaften von der öffentlichen Kommunikation katalysiert wird, ist eine Austragung von Konflikten unabdingbar für eine demokratische politische Kultur. Ein falsches Harmoniebedürfnis entspringt Geissler zufolge einer gewissen Biedermeiermentalität, geprägt vom „deutschen Obrigkeitsstaat“ (vgl. Geissler: 154)
Die Politik bedarf einer öffentlichen Darstellung, da sie ansonsten im Prinzip gar nicht stattfindet.
Gerade die direkte Konfrontation von unterschiedlichen Positionen kann das Gespräch in eine unvorhergesehene Richtung lenken, was an sich einen hohen Informationswert haben kann (vgl. Appell 1989: 73 ff.) Unglücklicherweise findet die Kommunikation in Talkshows allerdings größtenteils mit Hilfe von Gemeinplätzen statt. Diese ermöglichen durch ihre Konventionalität und Banalität schnelles Denken und sind somit sehr zuschauerfreundlich. Bourdieu sagt dazu: „Die Kommunikation gelingt augenblicklich, weil sie in gewisser Hinsicht gar nicht stattfindet“ (Bourdieu 1998: 39). Damit werden diese Shows ihrem Anspruch, aufzuklären und zu informieren, nicht gerecht. Gleich hält sie für inszeniert, oberflächlich und plakativ. Lediglich der Showcharakter sei vor allem durch die Präsentation von optischen Extremen für die Zuschauer attraktiv. Diesen Showelementen soll im folgenden Kapitel näher nachgegangen werden.
Der Reiz der kontroversen Standpunkte wird im Daily Talk künstlich verstärkt. Positionen werden als unvereinbar dargestellt, um sie voneinander abzugrenzen. Diese Positionen bezeichnet Plake als Repräsentanten normativer Institutionen (vgl. Plake 1999: 34), es wird also ein gesellschaftlicher Konsens verhandelt.
So wird z.B. bei Oliver Geissen in einer Diskussionsrunde zum Thema „Dicke Dinger – ich liebe meine Brüste“ am 19.04.2005 diskutiert, ob es akzeptabel ist, wenn Frauen große Brüste öffentlich zur Schau stellen. Der erste Gast auf der Bühne ist eine junge Frau (Gast 1), die als Erotikmodell und Stripperin vorgestellt wird. Der nächste Gast ist ebenfalls eine junge Frau (Gast 2), die sich sogleich an Gast 1 wendet:
G2: Zuerst mal zu dir, du bist ne SCHANDE für alle Frauen, echt.
Im weiteren Verlauf der Sendung werden noch weitere junge Frauen hereingebeten, die das Vorführen großer Brüste entweder verwerflich finden oder positiv bewerten. Dabei bringen sie jedoch nur wenig sachliche Argumente, sondern beschränken sich im Wesentlichen darauf, sich gegenseitig zu beschimpfen.
Die regelmäßige abnormale Entwicklung dieser „Gesprächsrunden“ weist darauf hin, dass es sich hierbei nicht um einfache „Gespräche im Fernsehen“ handelt, die ohne weiteres mit Alltagsgesprächen verglichen werden können. Einen wichtigen Unter-schied stellt der Publikums- und Zuschauerbezug dar. Dieser bedingt die Besonder-heiten des Talkshowformats, die wesentlich zum „Show-Charakter“ beitragen und diese Kommunikation von der Alltagskommunikation abgrenzen. Die leichte Künst-lichkeit mit Live-Charakter und Scheinaktualität macht den Reiz beim Zuschauen aus (vgl. Plake 1999: 24 f). Vor allem die typische Gesprächskonstellation trägt zum „intendierten Misslingen“ der Kommunikation bei (vgl. dazu auch Kap. 4).
Klein weist darauf hin, dass in Talkshows eine besondere Gesprächskonstellation besteht, die weder von den traditionellen Modellen der Rhetorik noch der Gesprächs-forschung adäquat beschrieben werden kann (vgl. Klein 1989: 64 ff.). Die Rhetorik beruht auf einem dyadischen Kommunikationsmodell: ein Redner spricht zu seinem Publikum, d.h. zu einem Kollektiv von Rezipienten. Diese unilaterale Kommunika-tionsform ist nur sehr begrenzt mit massenmedialen Gesprächen vergleichbar, da in diesen meist eine triadische Kommunikationskonstellation herrscht, wo der Sprecher einen direkten Rezipienten und ein anonymes Publikum hat. Auch die Modelle der Gesprächsanalyse können auf die Interaktionen des Daily Talk keine Anwendung finden, da diese Forschungsrichtung sich lange Zeit auf private oder institutionelle Kommunikation konzentrierte, die ohne Publikum stattfand. Ihr dyadisches Kommunikationssystem bezieht sich deshalb auf zwei Gesprächspartner, die wechselseitig miteinander kommunizieren und gemeinsam das Gespräch konstituieren.
Diese Modelle werden der Daily-Talk-Situation nicht gerecht. Die Anwesenheit des Publikums (P1), des Gesprächsleiters (GL) und mindestens zweier Gesprächspartner (GP) weist vielmehr eine hexadische (sechs-polige) Gesprächskonstellation auf, wobei sich die Anzahl der Gesprächsteilnehmer beliebig erweitern lässt. Deshalb muss Kleins Modell erweitert werden, wie hier in der letzten Zeile der Tabelle (Abb.1).
Die Talkshow ist somit keine klassische Einweg-Kommunikation (vgl. Kühn 1995: 22), sondern durch mehrere aktive Kommunikationssubjekte gekennzeichnet, die Signale (sprachliche und nichtsprachliche) als Stimuli aussenden an ein Kollektiv passiver Kommunikationssubjekte, das die Stimuli empfängt und verarbeitet. Allerdings lässt Kleins Modell die Rückkopplung von Gesprächsleiter und Publikum außer Acht und ist insofern teilstatisch, weil nicht alle konstitutiven Formen für die Gesprächsentwicklung berücksichtigt werden.
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Abb. 1: Vergleich verschiedener Modelle zur Analyse von Gesprächskonstellationen (vgl. Klein 1989: 66)
In einer Talkshow scheinen die anderen Gesprächsteilnehmer lediglich vorgespielte Adressaten zu sein. Der tatsächlich anvisierte Adressat ist die Öffentlichkeit vor dem Bildschirm. Durch die Mehrfachadressierung ergeben sich für die Äußerungen semantische Polyvalenzen. Als Beispiel für eine Mehrfachadressierung nennt Kühn: „Ich werde dich vor Tim beschützen“. Dies bedeutet für Tim ein Versprechen, für Tom hingegen eine Warnung oder Drohung (vgl. Kühn 1995: 25). Die aus den Polyvalenzen entstehenden Reaktionen und Konsequenzen scheinen für Talkshowgäste oftmals gar nicht einschätzbar zu sein.
Durch die außergewöhnliche Situation, in der sie sich befinden, sind sich die meisten Gäste dieser Mehrfachadressierung zwar sehr wohl bewusst. Ihre Überzeugungs-, Informations- und Darstellungsintention ist in der Regel hauptsächlich an das Publikum gerichtet. Das heißt, die Gäste befinden sich in einer Abweichung vom „kommunikativen Normalfall“, in der jedoch der kommunikative Normalfall vorgetäuscht wird (Kühn 1995: 112). Keiner der Gäste darf beispielsweise seine Angehörigen zu Hause grüßen oder ähnliche Handlungen durchführen, die daran erinnern, dass die Diskussion normalerweise so nicht stattfinden würde. Der Publikumsadressat ist verdeckt; die Sprecher verhalten sich, als ob die Kommunikation mit den direkt Angesprochenen im Mittelpunkt ihrer Interessen stünde. In Bekenntnisshows sind die anderen Teilnehmer dabei nur Alibiadressaten (vgl. Kühn 1995: 133). Das heißt, ihr kommunikatives Verhalten ist unaufrichtig.
Von einer inszenierten Mehrfachadressierung kann ganz allgemein immer dann gesprochen werden, wenn in einer Kommunikationskonstellation mit mehreren Adressaten bestimmte Adressierungen für andere nur vorgespielt werden...
Ein Sprecher/Schreiber A adressiert seine Äußerungen vor einem Adressaten C an einen Adressaten B, dabei laufen alle Bemühungen von A darauf hinaus, vor C den Eindruck zu erwecken, seine Äußerungen seien lediglich an B adressiert, also einfach adressiert. Die inszenierte Mehrfachadressierung gelingt A dabei am besten, wenn er C als Adressaten ignoriert und unerwähnt läßt. (Kühn 1995: 153)
Schematisch stellt Kühn diese Interaktionsform folgendermaßen dar:
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Abb. 2: Beobachtende und Scheinadressaten (Kühn 1995: 154).
Nur zu Beginn und zu Ende jeder Einheit (Sendezeit zwischen den Werbeblocks) werden die Zuschauer direkt angesprochen. Die ganze Sendung wird von phatischen Routineformeln (vgl. dazu Schneider 1988: 23, 32) wie z.B. „Guten Tag, liebe Zuschauer“, „Ich danke Ihnen, dass Sie zugeschaut haben, wir sehen uns morgen wieder“ eingerahmt. Während der eigentlichen Sendung bleibt der Zuschauer jedoch implizit, das heißt, er wird nicht als Adressat gekennzeichnet und es gibt wenig bis keine Kontaktsignale. Gelegentlich kommentiert der Gesprächs-leiter besonders skurrile Äußerungen seiner Gäste mit „vielsagenden Blicken“ in die Kamera, verbale Kontaktsignale kommen jedoch so gut wie nie vor. Dennoch ist der Kontakt durch die Wissensvoraussetzung aller Beteiligten, dass dieses Spiel Zuschauer beinhaltet, ständig implizit vorhanden.
Im „Konfro-Talk“ sind die Gäste hin- und hergerissen, da in diesem Falle ihre direkten Interaktionspartner ebenso relevant sind wie der Publikumsadressat. In diesen Formaten kommen die Gäste hauptsächlich zusammen, um tatsächlich einen Sachverhalt und / oder Beziehungskonflikt zu klären, z.B. um einen Vaterschaftstest durchführen zu lassen. Dieser wird von den Produktionsfirmen bezahlt. In diesen Situationen handelt es sich wohl eher um eine Mehrfachadressierung, die nur halb absichtlich ist und deren Nachteile und Unannehmlichkeiten in Kauf genommen werden (Kühn 1995: 67). Bei beiden Adressatenteilen sollen perlokutive Effekte[3] verschiedener Art hervorgerufen werden. In Kapitel 4.1.2 wird eine nähere Bestimmung dieser Effekte angestrebt.
Tendenziell sind diese Gäste aufgrund ihrer Probleme und der Annahme, dass Fernsehen könnte ihnen helfen, naiver und verletzlicher. Oftmals scheinen sie die öffentliche Austragung in Kauf zu nehmen, weil sie keine andere Möglichkeit kennen, ihren Konflikt zu lösen. Möglicherweise fehlen ihnen die geeigneten Ansprech-partner, einigen fehlt z.B. für einen Vaterschaftstest das Geld. So sind z.B. Sozialhilfeempfänger überproportional im Daily Talk repräsentiert. Im folgenden Kapitel soll näher auf ihre Motivationen und ihre Verletzlichkeit eingegangen werden.
Die Gäste einer Talkshow scheinen davon auszugehen, dass sie der Öffentlichkeit etwas mitzuteilen haben. Um sich selbst im Fernsehen präsentieren zu können und so einen (zeitlich stark begrenzten) Ruhm erlangen zu können, nehmen sie teilweise große Unannehmlichkeiten wie lange Anfahrtswege oder eine potentielle Bloßstellung in Kauf.
Ein Auftritt beinhaltet die Möglichkeit, ein Millionenpublikum bezüglich eines aktuellen Themas direkt ansprechen zu können und so die Gunst des Zuschauers zu erlangen. Doch sind die Diskutierenden in Debattenshows immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass es zu wenig Zeit gibt, um angesprochene Themen in ihrer vollen Komplexität zu behandeln. Der Gesprächsleiter treibt sie durch die Sendung: jedem Gast wird nur minimale Redezeit zugestanden. Der daraus resultierende Zwang an der Oberfläche der Thematik zu bleiben, führt dazu, dass zu den jeweiligen Argu-menten nicht die passenden Hintergründe geliefert werden können. Dadurch ent-stehen beim Zuschauer und auch bei den anderen Teilnehmern der Gesprächs-runde leicht Missverständnisse.
Hinzu kommt die Anordnung des Studiopublikums in ansteigenden Sitzreihen. Dies lässt die Gäste wie in einer Arena vorgeführt wirken und kann recht einschüchternd sein. Zusammen mit der Fernsehtechnik (Kameras, Mikrophone, Beleuchtung etc.) kann diese Atmosphäre das natürliche Verhalten der Gäste stark verfälschen und gerade Medienunerfahrene stark hemmen.
Der Ratschlag „Sei wie du bist“ ist für einen Auftritt im Fernsehen nur für sehr wenige Charaktere brauchbar. Als Vorschlag für telegenes Verhalten, mit dem man die Gunst der Zuschauer erwirbt, empfiehlt Huemer vor allem das Absehen von moralisierenden Äußerungen, da diese in unserer pluralistischen Gesellschaft kaum noch akzeptiert werden. Moralisieren bedeutet, anderen den eigenen Lebensentwurf und Glauben aufzwingen zu wollen. Doch Zwänge sind nicht das, was das unter-haltungswillige Publikum schätzt (vgl. Huemer 2003: 143).
Indem Talkshowgäste gelegentlich etwas überspitzt oder provokativ formulieren, erreichen sie, dass ihre Argumente wahrgenommen werden. Um überzeugend zu wirken, dürfen sie allerdings niemanden beleidigen, da dies darauf hindeutet, dass sie über keine weiteren Argumente verfügen (vgl. Geissler 1989: 149 ff.).
Die Ausdrucksweise der Gäste passt sich in der Regel der Alltagssprache an, jedoch unter etwas anderen Bedingungskonstellationen. Den Gästen wird die Möglichkeit gegeben, sich innerhalb eines thematischen Rahmens selbst nach gewissen Vorgaben zu inszenieren und ihre persönliche Betroffenheit zur Schau zu stellen. Je nach Thema ist dies mit einem variablen persönlichen Risiko verbunden. Die Gäste sind der direkten Reaktion des Publikums ausgesetzt und können sich nicht auf Routinen und Interaktionsrituale ihrer vertrauten Umgebung verlassen. Die anderen Gäste sind maßgeblich am Erfolg der persönlichen Inszenierung beteiligt. Doch aus Gründen, die weiter unten diskutiert werden, ist von den anderen Gästen keine positive Hilfe bei der Imagearbeit zu erwarten.
Das Fernsehen genießt gegenüber dem Rundfunk gewisse Vorteile bei der Ausstrahlung von Diskussionsrunden: Der Zuschauer kann deutlich erkennen, wer gerade spricht; bei längerem Sendeverlauf können Name und Funktion des Gastes immer wieder eingeblendet werden, um die Erinnerung des Zuschauers zu unterstützen. Zudem werden auch Reaktionen von denjenigen sichtbar, die gerade nicht selbst sprechen. Leonhardt hält fest: „Erfahrenen Kameramännern ist längst diese Körpersprache der anderen interessanter als die Pose des gerade Sprechenden.“ (Leonhardt 1989: 20).
Die Anzahl der Teilnehmer scheint eine entscheidende Rolle für das Gelingen einer Fernsehdiskussion zu spielen. So schreibt Leonhardt:
Ein wunder Punkt unserer Fernseh-Diskussionen scheinen die Diskutierenden zu sein. Um so weniger ist zu verstehen, warum man deren Zahl unnötig vergrößert. Vier Diskussionsteilnehmer sind, wie Erfahrung lehrt, ideal. Sechs sind, wo gute Regeln eingehalten werden, vertretbar. Diskussionen mit mehr als sechs Teilnehmern sind ein Martyrium für Beteiligte wie Zuhörer. (Leonhardt 1989:28)
Diese Kritik bezieht sich auf die großen Gesprächsrunden mit acht oder mehr Teilnehmern, die heute nur noch selten stattfinden. Ein Grund für die Verdrängung dieses Formats könnte in der Schwierigkeit für die Teilnehmer liegen, überhaupt zu Wort zu kommen. Hier geht es nicht um die besseren Argumente, sondern darum, wer das stärkste Durchsetzungsvermögen bei der Wortergreifung an den Tag legt. Die Vermutung liegt nahe, dass die Daily-Talk-Formate immer mehr auf derlei Gesprächsrunden verzichten, weil sie einfach nicht funktionieren.
Für den Konfro- und den Versöhnungs-Talk wird die Präsentation von vier oder fünf separaten Interaktionen bevorzugt. Meist sind nur zwei bis vier Gäste zeitgleich auf der Bühne, die kurz um die Durchführung ihres Sprechaktes gebeten werden und direkt im Anschluss wieder entlassen werden. Dies liegt zum Teil an den nun präferierten Themen der Partnerauseinandersetzung bzw. Vaterschaftstest und Liebesgeständnisse. Insofern findet immer weniger Diskussion in den sogenannten Talkshows statt. Vielmehr handelt es sich immer mehr um das Durchführen mehr oder weniger institutionalisierter Sprechakte.
In der neueren Entwicklung des Daily Talks ist festzustellen, dass sich viele Gäste diesem Format angepasst haben, indem sie nur noch einen einzigen Sprechakt anstreben, so z.B. „seine Liebe gestehen“, in der Hoffnung, dass das Millionenpublikum dem Empfänger dieses Aktes eine positive Reaktion nahelegt. Doch die Gäste bekommen nicht die Möglichkeit, ihre Intimitäten wirklich erklären zu können, Hintergründe zu liefern und sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Die Formate lassen in der Regel zu viele „Gästepaare“ in eine Sendung, so dass die Zeit im Einzelfall zu begrenzt ist. Die Gäste spüren diesen Zeitdruck und limitieren ihre Aussagen deshalb auch sehr stark.
Dadurch können ihre Aussagen allerdings leicht manipuliert werden. Bourdieu zufolge kommen Talkshowgäste nicht wirklich dazu, das zu kommunizieren, was sie sich vorgenommen hatten, weil
mit dem Auftritt auf dem Bildschirm eine regelrechte Zensur verbunden ist, ein Verlust an Autonomie, was unter anderem daran liegt, daß das Thema und die Voraussetzungen gegeben sind, unter denen etwas mitgeteilt werden kann, und vor allem, daß die beschränkte Redezeit derart einengt, daß sehr wahrscheinlich gar nichts gesagt werden kann. (Bourdieu 1998:18f.)
Die „Verfügungsgewalt über Produktionsmittel“ (ebd.: 15) wie Redezeit, Thema und Art der Darstellung liegt bei Talkshows zum größten Teil eben nicht bei den Gästen, sondern bei Redaktion, Regie und Gesprächsleiter. Bourdieu kritisiert die Interven-tionen seitens des Gesprächsleiters, der die Gäste zur Ordnung ruft, indem er gewisse Äußerungen als nicht moralisch wertet, bestimmte weiterführende Erklärungen fordert oder auch nur bittet, z.B. eine gewisse Kamera anzuschauen, als einschränkend und potentiell redeverfremdend.
Die Sendung „Britt deckt auf: hinterhältige Lästerschwestern“ vom 22.04.2005 bietet ein gutes Beispiel für die Manipulation der Gästeaussagen. Hier fordern eine Mutter (G1) und ihre Tochter (G2) von G1s Ex-Freund (G3), er solle beide in Ruhe lassen. Allerdings haben sowohl G3 als auch G1 noch Gefühle füreinander. Nach einer lautstarken Auseinandersetzung gibt es eine große mediale Inszenierung, wobei G1 gebeten wird, sich vor ein Tor zu stellen, dass sie per Knopfdruck öffnen kann. Hinter dem Tor befindet sich ein Monitor mit einer Videobotschaft, von der Britt (GL) ankündigt, dass sie G1 nicht gefallen wird. Die Botschaft ist von G2:
G2: Mama, ich muss dir was gestehen. Uwe hat mich einige Mal angebaggert und wollte Sex von mir. Ich hoffe, du schießt ihn jetzt in den Wind.
Tonfall, Lexik und Grammatik weichen hier stark vom bisherigen verbalen Verhalten der Tochter ab. Zum Vergleich eine Sequenz nur wenige Minuten früher:
G2: Ey du laberst ¢n kack, Mann!
Hörst du dich, Mann?
Nun lass doch meine Mutter zufrieden, Mann!
Du bist von morgens bis abends nur am saufen, Mann ...
GL: Sally, wie findest du denn den Uwe?
G2: Ach, der ist zum Kotzen.
Bei der Videobotschaft hingegen entsteht der Eindruck, dass G2 abliest. Als Erklärung fügt sie im Studio hinzu, dass G3 ihr „auf den Arsch gehauen“ und gesagt hätte „Du bist auch ¢ne ganz Süße“. Dieses Verhalten mag zwar unpassend sein, jedoch nicht ausreichend, um derartige Beschuldigungen abzuleiten. Der Verdacht liegt deshalb nahe, dass die Redaktion G2s Aussagen im Vorfeld der Sendung übertrieben hat, um das Streitgespräch anzustacheln.
Im weiteren Verlauf der Sendung streitet G3 diese Beschuldigungen ab; es steht Aussage gegen Aussage. Deshalb werden an dieser Stelle die Ergebnisse eines Lügendetektortests verlesen, der im Vorfeld an G3 und G2 durchgeführt wurde. Der Test bestätigt G3 in seinen Aussagen. Die Redaktion hat hier folglich absichtlich ein Mutter-Tochter-Verhältnis beschädigt, indem sie die Aussage der Tochter zunächst aufgebauscht hat und später wieder als unwahr entlarvt.
Was bewegt Menschen dazu, bei einer Daily Talk-Sendung aufzutreten? Das Format der großen Gesprächsrunden, das immer mehr in den Hintergrund rückt, birgt ein großes demokratisches Potential. Angehörigen von Minderheiten wird als Stellvertreter ihrer Randgruppe theoretisch ermöglicht, gängige Vorurteile aufzubrechen, indem sie ihre Persönlichkeit oder ihr Schicksal in den Zusammenhang von allgemein nachvollziehbaren Lebensumständen, Beziehungen, Ereignissen und Affekten stellen. So wird ihre Ungewöhnlichkeit nicht mehr als absurd, sondern als Konsequenz einer Reihe von Begebenheiten begriffen. Kommt es im Verlauf einer solchen Sendung zu einer Annäherung oder Versöhnung unterschiedlicher Positionen oder können Angehörige einer Minderheit innerhalb des Studios mehr Toleranz erreichen, kann dies positive Auswirkungen auf direkt und indirekt betroffene Zuschauer vor den Bildschirmen haben.
[...]
[1] Ein wichtiger Vorläufer war die von Werner Höfer moderierte Journalistenrunde im Rundfunk ab 1952 gewesen. Sie wurde 1953 als „Internationales Frühshoppen“ zusätzlich im Fernsehen, noch ohne Studiopublikum, ausgestrahlt.
[2] Das Bedürfnis nach mehr Informationen zeigt sich im Anstieg der allgemeinen Büchernutzung seit 1992, besonders im Bereich der Sach- und Fachliteratur (vgl. Franzmann 2001: 92). Allerdings scheint es eher die Gruppe der Vielleser zu sein, die ihren Bücherkonsum stärker ausweitet. Dagegen soll der Bevölkerungsanteil der Kaum- oder Wenigleser 45% betragen (vgl. ebd.: 96). Der Aufwärtstrend der Leseaktivitäten zeigt sich somit nur bei denen, die ohnehin schon lesen. Deshalb meinen Leseforscher, dass sich die Schere zwischen den „Informationsreichen“ und den „Informationsarmen“ weitet (vgl. ebd.: 97). Zu diesen Studien muss kritisch angemerkt werden, dass sie mit „Lesen“ stets nur Lesen von Büchern meinen. Dies spiegelt jedoch kaum die gewandelte Mediennutzung wider, vor allem die der Unter-Dreißigjährigen, die für ihre Informationsbeschaffung das Internet bevorzugen. Das Buch wandelt sich dagegen für diese Bevölkerungsgruppe vom Informations- zum Unterhaltungsmedium.
[3] Perlokutive Efffekte bezeichnen innerhalb der Sprechakttheorie die Wirkung eines Sprechaktes: Was wollte der Sprecher erreichen und welchen Effekt hat er damit beim Hörer erzielt? Da die Wirkung auf den Hörer nur schwer abschätzbar ist, wurde dieser Teil des Sprechaktes bisher kaum untersucht.
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