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Mehr InfosDiplomarbeit, 2002, 97 Seiten
Diplomarbeit
Technische Hochschule Köln, ehem. Fachhochschule Köln (Sozialpädagogik)
1,0
Einleitung
Teil 1
1. Theoretische Grundlagen der Sprachlernforschung
1.1 Der Erwerb der Muttersprache
1.2 Der Erwerb einer Zweitsprache
1.3 Die mehrsprachige Erziehung
2. Integrationsprozesse und Sprachkompetenz
2.1 Integration – Akkulturation – Assimilation
2.2 Das handlungstheoretische Integrationsmodell
2.3 Integration und Identität
2.4 Die Modernitätsdifferenz
3. Zuwanderung in Deutschland
3.1 Geschichtlicher Verlauf
3.2 Die Migrationspopulation in Deutschland heute
3.2.1 Arbeitsmigranten
3.2.2 Ausländische Studierende
3.2.3 Asylsuchende
3.2.4 De-Facto- und Kontingentflüchtlinge
3.2.5 Spätaussiedler
3.2.6 Zuwanderung ohne rechtlichen Status
4. Die Vermittlung von Sprachkompetenz an Migranten
4.1 Pädagogische Institutionen
4.1.1 Kinder von 3-6 Jahren
4.1.2 Schulen
4.1.3 Sprachkurse / Erwachsenenbildung
4.2 Funktionale Sprachvermittlung im Ausland
4.3 Zusammenfassung und Überleitung zu Teil 2
Teil 2
5. Die Migrantensozialarbeit – Ihre Entstehung und politische Rahmenbedingungen
5.1 Zuwanderungs- und Integrationspolitik in Deutschland
5.1.1 Das neue Staatsbürgerschaftsrecht
5.1.2 Das geplante Zuwanderungsgesetz
5.1.3 Das Gesamtsprachförderungskonzept
5.2 Geschichtlicher Verlauf der Migrantensozialarbeit
6. Die Vermittlung von Sprachkompetenz an Migranten in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern
6.1 Administrative Hilfestellungen
6.2 Konzipierung von Sprach- und Integrationskursen
6.3 Sozialpädagogische Betreuung der Kursteilnehmer
6.4 Ein gelungenes Praxisbeispiel
6.5 Zusammengefasste Ergebnisse
6.6 Der Weg zur Sprachkompetenz als Schwellenmodell
7. Sozialpädagogische Aspekte beim Erwerb von Sprachkompetenz von Mitbürgern mit Migrationshintergrund
7.1 Forschungsergebnisse zur Situation der Zielgruppe
7.1.1 Indikatoren der sozialen Lage
7.1.2 Das Arbeitsfeld Schule
7.1.3 Zusammengefasste Ergebnisse
7.2 Ursachen der defizitären Lage
7.2.1 Strukturelle Benachteiligungen
7.2.2 Schulsprachliche Defizite
7.2.3 Zusammengefasste Ergebnisse
7.3 Handlungsmöglichkeiten der Sozialpädagogik
7.3.1 In der Schule
7.3.2 Außerhalb der Schule
7.3.3 Die Koordination von schulischen und außerschulischen Maßnahmen
Schlussteil
Literaturverzeichnis
Betrachtet man rückwirkend und aus gesellschaftspolitisch interessiertem Blickwinkel das Jahr 2001, so stößt man auf eine Diskussion, die im Verlauf der Monate immer wieder die Organe der öffentlichen Meinungsbildung in Beschlag genommen hat und dies fortwährend tut: die Zuwanderungsdebatte.
Kaum ein anderes Thema hat dermaßen viel Reaktionen erzeugt und damit belegt, wie wichtig es für die Gesellschaft insgesamt ist. Ganz abgesehen davon, ob man nun eine eher konservative Position im Sinne einer restriktiven Einwanderungspolitik vertritt, oder aber am liebsten die Grenzen für alle öffnen möchte, hat die Debatte einige allgemeingültigen Fakten zu Tage gefördert, die von allen Seiten zu akzeptieren sind.
Deutschland ist ein Einwanderungsland und wird es in naher Zukunft bleiben.
Die Zuwanderungs- und Integrationspolitik, die im Glauben, daß man diese Entwicklung umdrehen könne, in der Vergangenheit betrieben wurde, kann so nicht weitergeführt werden. Man muß sich nun endlich an der Realität orientieren, und nicht am Wunschdenken der politisch-normativen Entscheidungsträger.
Dieser Umdenkprozess wird für alle gesellschaftlichen Bereiche weitreichende Konsequenzen und Veränderungen mit sich bringen. Besonders im Blickpunkt stehen dabei selbstverständlich die nach Deutschland zugewanderten Menschen selbst, aber auch die Personen und Institutionen, die schon in der Vergangenheit damit betraut waren, den Migranten bei der Integration in eine neue Gesellschaft zur Seite zu stehen: die Soziale Arbeit mit den sog. zugewanderten Minderheiten.
In diesem Arbeitsfeld der Sozialpädagogik, genauer gesagt in der Flüchtlingshilfe der Caritas, eines der größten freien Träger der Sozialen Arbeit in Deutschland, entstand das Interesse, das mich letztlich dazu bewog, mich im Rahmen meiner Diplomarbeit mit einer Thematik aus der Migrantensozialarbeit zu beschäftigen.
Die Vermittlung von Sprachkompetenz im Umgang mit der Sprache der Aufnahmegesellschaft, ein unzweifelhaft elementarer Bestandteil jedes vor dem Hintergrund der Migration stattfindenden Integrationsprozesses, hatte mein Interesse schon vor längerer Zeit gewonnen. In den vergangenen Jahren hatte ich bei verschiedenen Tätigkeiten in der Gastronomie ständig Kontakt zu Menschen, deren Heimat eine andere ist als Deutschland, die sich aber trotzdem aus den verschiedensten Gründen in den Küchen und Gasträumen deutscher Restaurants ihr Brot verdienten. Genau so wie ihr Erscheinungsbild und ihre vorgetragenen Lebensgeschichten für mich immer wieder neu und faszinierend waren, so waren es auch die Art und Weise, wie diese Menschen sich auf Deutsch verständlich machten. Ich traf auf Personen, die Deutsch als Zweitsprache fast perfekt beherrschten, aber auch auf solche, die während jahrzehntelangem Aufenthalt in Deutschland nicht mehr erlernt hatten als einige zur Verständigung unerläßliche Bruchstücke. Wieso ist das so?
Soviel zur Entstehungsgeschichte dieser Arbeit, was meine persönliche Motivation betrifft. Im Folgenden möchte ich kurz erläutern, inwiefern sich diese am Ausgangspunkt der Arbeit gestellten Fragen auf die Durchführung und Gliederung ausgewirkt haben.
Zum besseren Verständnis der Thematik „Vermittlung von Sprachkompetenz an Migranten“ versuche ich, in Teil 1 der Arbeit, möglichst umfassend die Grundlagen zusammen zu tragen, die zur Beantwortung des oben angeführten „Wieso ist das so?“ beitragen können. Die Schlüsselbegriffe dabei lauten Zweitspracherwerb, Integrationsprozess, Migrationshintergrund und Sprachvermittlung.
Dies wäre nun aber keine sozialpädagogische Arbeit, wenn sich zum „Wieso ist das so?“ nicht auch noch ein „Was kann man dafür bzw. dagegen tun?“ gesellen würde. Diesem, das Grundanliegen der Sozialpädagogik wiederspielgelnden Aspekt ist Teil 2 der Arbeit gewidmet.
Ich möchte an dieser Stelle anfügen, daß ich auf eine paritätische Aufteilung der Personen- und Berufsbezeichnungen in die maskuline und feminine Form oder die doppelte Schreibweise wie zum Beispiel „Sozialpädagogen / Innen“ verzichtet habe. Ich halte diesen emanzipationstechnischen Kniff für mittlerweile überholt, gerade in den Fachbereichen des Sozialwesens.*
- Das ist meine persönliche Ansicht, mit der ich niemanden angreifen möchte, der diesbezüglich einer anderen Meinung ist.
Seit jeher interessiert und fasziniert den Menschen die Frage: Wie lernt ein Kind sprechen?
Oft glaubte man die Antwort gefunden zu haben, heute muß sich die Sprachlernforschung eingestehen, daß davon nicht die Rede sein kann.
Aus der Fülle der einschlägigen Thesen zu diesem Phänomen möchte ich diejenigen vorstellen, die heute in der Fachdiskussion die wichtigsten Rollen spielen. Die darauffolgenden Theorien zum Erwerb einer zweiten Sprache, zeitlich nach dem Erwerb der Erst- oder Muttersprache, basieren weitgehend auf den gleichen Erkenntnissen und Annahmen. Eine Reihe von speziell den Zweitspracherwerb betreffenden Aspekten ist dennoch zu nennen. Ein dritter Unterpunkt wird das gleichzeitige – sozusagen von Kindesbeinen an – Erlernen zweier Sprachen sein. Zu diesem Thema, der mehrsprachigen Erziehung, gehen die Meinungen der Wissenschaftler weit auseinander, in Bezug auf fördernde oder retardierende Einflüsse auf die allgemeine Entwicklung des Kindes.
Beim Versuch zu verstehen, wie der Erwerb von Sprache funktioniert, gilt es sich zunächst mit dem Begriff Sprache an sich auseinander zu setzen.
Die Sozialisationsforscher Max Miller und Jürgen Weissenborn befassen sich eingehend mit dem Aufbau und der Struktur von Sprache (Hurrelmann 1991, S. 531ff):
Sozialisierte Individuen können Koordinationsprobleme kommunikativ lösen, weil sie dem Formprinzip, dem semantischen Prinzip und dem Kooperationsprinzip der Sprachverwendung und den diesen Prinzipien entsprechenden syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln folgen können“ (S. 533).
Wir halten fest: Sprache läßt sich unterteilen in a) Syntax, b) Semantik und c) Pragmatik.
a) Die Syntax ist das Regelwerk einer Sprache, nach der sie aus Lauten Wörter herstellt (Phonologie), und aus Wörtern Sätze (Grammatik), wobei die Wörter wiederum den Regeln der Morphologie unterworfen sind (z. B. Verben werden gebeugt). Syntax bezeichnet also die formale Struktur von Sprache, sie sagt nichts aus über die Bedeutung des Gesagten oder die Intention des Sprechers.
b) Das ist die Aufgabe der Semantik. Der Sprecher bezieht sich in seinen Äußerungen auf die Wirklichkeit, er redet über etwas. Vermittelst seiner Wortwahl, dem Aufbau des Sprechaktes und der Intonation gestaltet er eine sprachliche Äußerung, um beim Zuhörer den gewünschten Effekt zu erzielen. Sprache gewinnt Bedeutung, zum Beispiel Information, Aufforderung oder Frage.
c) Die Pragmatik bezieht nun den Hörer und die Situation, in der der Sprechakt stattfindet, mit ein. Erst durch die Berücksichtigung „eines für Sprecher und Hörer in hinreichender Weise gemeinsam geteilten kontextuellen Wissens“ (Hurrelmann 1991, Seite 533) wird Sprache zur Kommunikation. Mit Hilfe dieses Wissens versucht der Sprecher das Risiko eines Mißverständnisses auf ein Minimum zu reduzieren.
Aspekte dieses pragmatischen Prinzips der Sprachverwendung werden im Folgenden immer wieder auftauchen, auch unter anderen Bezeichnungen wie Sprachhandlungsfähigkeit oder Kommunikationsstrategie.
Die Differenzierung der Sprache in drei grundlegende Prinzipien wird von der Sprachlernforschung fortwährend aufgegriffen, beispielsweise in Form der Fragestellung: Lernt ein Kind die Sprache als Ganzes gleichzeitig, oder aber begreift es die Prinzipien nacheinander bzw. voneinander ausgehend? Der Erwerb möglichst umfassender Kompetenzen in der Anwendung dieser drei Prinzipien der Sprache kann als Ziel des Spracherwerbs bezeichnet werden.
Ebenso dringlich beschäftigt seit jeher die Sprachlernforscher die Fragen nach dem Wie und dem Warum des Sprachenlernens der Kinder. In welcher Beziehung steht der Erwerb von Sprache zur allgemeinen kognitiven Entwicklung des Kinde? Verfügt das Kind über einen angeborenen „Sprachlernautomat“ oder guckt es sich einfach alles von seiner Umgebung ab? Zwischen welchen Polen sich die Antworten der Wissenschaft auf diese Fragen bewegen, läßt sich anhand folgender drei zusammengefaßten Theorie-Komplexen ersehen, a) die nativistischen Hypothesen, b) die Kognitionshypothesen und c) die interaktionistischen Thesen (vgl. Klann-Delius 1999).
a) Das Merkmal der nativistischen Thesen ist die Annahme, daß der Mensch - genetisch bedingt – über einen kognitiven Apparat verfügt, der ihm das Erlernen von Sprache ermöglicht. Chomsky, vielleicht bedeutendster Vertreter dieses Paradigmas, nennt diesen Apparat „LAD – language acquisition device“ (Klann-Delius 1999, S. 50ff). Demnach vollzieht sich die Sprachentwicklung als biologisch vorprogrammierter Prozess, weitgehend autonom von der allgemeinen kognitiven Entwicklung und den sozialen Kontakten des Kindes. Populär geworden ist in diesem Zusammenhang der Begriff „kritische Phase“, der besagt, daß nach Ablauf einer bestimmten Altersphase, quasi einer Frist, ein normaler vollständiger Spracherwerb nicht mehr möglich sei (Hurrelmann1991, S. 536).
b) Die Kognitionshypothesen beschäftigen sich eingehend mit dem Zusammenhang der Entwicklung der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten des Kindes und dessen sprachlicher Entwicklung. Lernt das Kind sprechen, weil es kognitiv dazu in der Lage ist, d.h. die Sprache und die ihr zugrundeliegenden Prinzipien verstehen kann? Oder aber ist erst die Entwicklung des Sprechens bzw. des In-Wörter-Denkens Voraussetzung für die Entwicklung anderer denkerischer Fähigkeiten? Der Entwicklungspsychologie Piaget – Vater der Kognitionshypothesen – bejaht erstere Frage. Er bestreitet nicht die Existenz gewisser angeborener Initialstrukturen, sieht deren Bedeutung aber weit weniger deterministisch als Chomsky. Auch Piaget befasst sich nur am Rande mit den Bedingungen des Lernumfeldes, d.h. des sprachlichen Inputs, den der Lerner von seiner Umgebung erhält.
c) Die interaktionistischen Ansätze (bei Miller / Weissenborn „soziale Konstitutionshypothesen“) hingegen setzen da ihren Schwerpunkt. Mead hält soziale Interaktionen für den unverzichtbaren Anstoss zum Erlernen der Muttersprache. Clark bringt es auf folgende Formel: „Social activity precedes individual capacity“ (Hurrelmann 1991, S. 544). Demnach lernt das Kind durch den Umgang mit der Umgebung seiner primären Sozialisation (vor allem Eltern und Geschwister). Damit wird neben dem Wie – zumindest im Ansatz – erklärbar, warum das Kind sprechen lernt bzw. es lernen möchte („Intentionalitätsunterstellung“: das Kind lernt , weil es will). Damit sind diese Ansätze natürlich von besonderer Bedeutung für die Sozialpädagogik, da sie implizieren, daß man mit einer positiven Ausgestaltung der Lernumgebung Einfluß nehmen kann auf den Verlauf von Spracherwerbsprozessen.
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Vertreter des interaktionistischen Paradigmas den kommunikativen Aspekt von Sprache, also gleichsam das pragmatische Prinzip der Sprache in den Vordergrund rücken.. Damit legen sie den Grundstein für alle Sprachvermittlungskonzepte, die das Hauptaugenmerk auf die Entwicklung von Sprachhandlungskompetenz richten; in besonderem Maße gilt dies für den Erwerb einer Zweit- oder Drittsprache und mehrsprachige Erziehung.
Vorneweg möchte ich den Begriff Zweitsprache definieren, und zwar in Abgrenzung zum Begriff Fremdsprache.
Eine Fremdsprache erlernt man außerhalb des Landes / der Länder, in denen diese Sprache lingua franca (Verkehrssprache) ist, oder allenfalls bei einem zeitlich begrenzten Aufenthalt dort zum ausdrücklichen Zwecke des Spracherwerbs. Man erlernt die Sprache im Unterricht – Erfolg oder Mißerfolg haben keine direkten lebensweltlichen Konequenzen. Beispielsweise lernt ein Abiturient die Sprache Latein ausschließlich zu späteren Studienzwecken, syntaktische Kompetenz geht eindeutig vor pragmatischer Kompetenz.
Ganz anders gestaltet sich der Erwerb einer Zweitsprache, vor allem was dessen Bedingungen angeht. Eine Zweitsprache erlernt man in dem Land, in dem sie als lingua franca gesprochen wird, aus dem unmittelbaren Druck heraus, sich zur Kommunikation mit den Einheimischen befähigen zu müssen. In der Fachdiskussion spricht man von der Immersion (lat. Eintauchen) in die Zweitsprachengesellschaft. Erfolg oder Mißerfolg schlagen sich in lebensweltlichen Konsequenzen nieder. Man erlernt die Sprache und / oder im Unterricht / Alltag, pragmatische Kompetenz ist zunächst das vorrangige Ziel gegenüber syntaktischer und semantischer Kompetenz.
Im Folgenden - Sprachvermittlung im Kontext Migration - soll der Begriff Zweitsprache immer für das stehen, was der Schweizer Romano Müller L2 nennt, nämlich die Sprache der Residenzgesellschaft, während L1 die Muttersprache ist, also die Sprache des eigenen Herkunftslandes bzw. das der Eltern (vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung 2001a, Seite 69ff). In vielen Fällen bedeutet L2 aber nicht die Zweitsprache, sondern die Dritt- oder sogar Viertsprache, beispielsweise bei kurdischen Flüchtlingen aus der Türkei, oder Roma, die vor dem Krieg in Ex-Jugoslawien geflüchtet sind. Der Übersichtlichkeit halber bleibe ich trotzdem bei dem abkürzenden Begriff Zweitsprache.
Damit gleich zur nächsten begrifflichen Klärung. „Gesteuerter Spracherwerb“ steht fortan für alles implizite und intentionale Erlernen der Sprache, das in der dafür vorgesehenen Unterrichtssituation stattfindet: ausdrücklich gewolltes Lernen in künstlich geschaffener Lernumgebung.
„Ungesteuerter Spracherwerb“ bezeichnet alle Vermittlungsprozesse, die eben diese Voraussetzungen nicht erfüllen. Dieses rein funktionale Lernen findet im Alltag statt, beim zufälligen Kontakt mit Muttersprachlern, sozusagen von alleine. Es wird sich im Folgenden zeigen, daß dieses lange Zeit von den Didaktikern links liegen gelassene funktionale Lernen für die Sprachentwicklung große Bedeutung hat. Heute versucht die Sprachlernforschung, die Erkenntnisse, die man in der Untersuchung natürlicher Spracherwerbssequenzen macht, im Zweitsprachunterricht umzusetzen, um Lerneffekte zu optimieren.
Entsprechend dem Fokus dieser Arbeit möchte ich in diesem Kapitel nicht allzusehr auf die Details der Didaktik des Zweitsprachenunterrichts eingehen, sondern mich beschäftigen mit den psycholinguistischen Aspekten des Zweitsprachenerwerbs.
Welche Auswirkungen haben die soziokulturellen Bedingungen des Lernumfelds? Läßt sich der Erwerbsprozess schematisieren, und damit besser verstehen und planen?
Zu letzerer Frage hat H.J. Schumann ein Modell des Zweitsprachenerwerbs entwickelt (vgl. Hess-Lüttich 1986, S. 37ff). Demnach findet der Erwerb einer zweiten Sprache in Schritten statt, über und mit Hilfe sog. Lernersprachen (an anderer Stelle Interimssprachen, engl.: interlanguages, genannt). Beim normalen, erfolgreichen Verlauf werden diese vereinfachten, grammatisch unvollständigen Zwischenstufen von Sprache nach und nach überwunden, bis hin zur vollständigen Handlungskompetenz in der Zielsprache. Bleibt der Lerner, aus welchen Gründen auch immer, bei einer Form diese „Pidgins“ stecken, besteht die Gefahr, daß sich die darin enthaltenen Unkorrektheiten und Mängel verfestigen („Fossilisierung“), und sie der Lerner niemals überwinden wird. Er wird die Zielsprache nur „halb“ beherrschen.
Mögliche Ursachen für dieses Phänomen der Halbsprachigkeit („Semilingualismus“), daß in allen Einwanderungsländer zu finden ist, kategorisiert Schumann in einerseits soziale und andererseits psychologische Distanz zwischen Lerner und Zielsprachengesellschaft. Zum Beispiel der gesellschaftlichen Gleichstellung der Zielsprachengruppe und der Lernergruppe schreibt er eine zentrale Bedeutung für die Motivation des Sprachlerners zu. Dasselbe gilt für die rechtlich-politischen Grundvoraussetzungen für einen gesicherten dauerhaften Aufenthalt in der Zielgesellschaft. Erlebt der Lerner bei der Immersion in die neue Gesellschaft einen Sprach- oder gar Kulturschock, so wirkt sich das ebenfalls negativ auf die Motivation des Sprachlerners aus. Es besteht die Gefahr der Resignation, der Lerner begnügt sich mit beschränkten, halbsprachigen Kommunikationskompetenzen, oder er verzichtet ganz auf Kommunikation in der Zielsprache.
Der Sprachdidaktikforscher Jörg Roche bezeichnet „Interesse als wichtigste Variable im Spracherwerb“ (Roche 2001, S.83) und meint damit auch den Druck, den der Lerner verspürt. Neben allgemeinen soziokulturellen Aspekten arbeitet er affektive individuelle Faktoren in der Person des Sprachlerners heraus, zum Beispiel Durchhaltevermögen und die Fähigkeit, mit offenen Systemen umzugehen („Ambiguitätstoleranz“).
Nicht zuletzt beeinflussen den Lernerfolg natürlich die bildungsspezifischen Voraussetzungen, die der Lerner aus seinem Herkunftsland mitbringt. Profunde Kenntnisse seiner Muttersprache in Wort und Schrift erleichtern und beschleunigen den Erwerb einer zweiten Sprache. Ist dies nicht der Fall, so kann sich in der Praxis des Zweitsprachenunterrichts herausstellen, daß aus einem Sprachkurs ein Alphabetisierungskurs wird.
Dieser Abschnitt widmet sich den Sprachlernern, bei denen Erst- und Zweitsprache nur schwer zuzuordnen sind: Kinder, deren Eltern in ein anderssprachiges Land emigriert sind, und die bereits seit Geburt oder frühester Kindheit in der Zielgesellschaft aufwachsen. Ihre Sozialisation findet in zwei Sprachen statt, entweder miteinander vermischt oder aber getrennt, beispielsweise Familie und Freundeskreis zum einen, Kindergarten / Schule zum anderen.
Mit dieser bilingualen Erziehung von Kindesbeinen an hat sich unter anderem Gesa Siebert-Ott eingehend befaßt. Sie stellt fest, daß in der Diskussion pro oder contra früh einsetzender Mehrsprachigkeitserziehung (zum Beispiel in binationalen Ehegemeinschaften) die skeptische Haltung überwiegt (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 1998, S.266). Das führt dazu, daß Eltern, die nicht dieselbe Muttersprache sprechen, sich davor fürchten, der Entwicklung ihres Kindes mit zweisprachiger Erziehung Schaden zuzufügen. Für diese Skepsis sprechen verschiedene wissenschaftliche Abhandlungen, die dem Kleinkind die Fähigkeit absprechen, zwischen verschiedenen Sprachen systematisch zu unterscheiden: es kommt zu einem diffusen Gebilde aus zwei Sprachen, das sich in sog. Mischäußerungen manifestiert, d.h. zum Beispiel das Kind verwendet Vokabular aus zwei Sprachen in einem Satz.
Gegen diese Skepsis spricht, daß Kinder aus gehobenen sozialen Schichten erheblich weniger Schwierigkeiten haben beim gleichzeitigen Erwerb quasi zweier Muttersprachen als ihre Altersgenossen aus sozial benachteiligten Familien (u.a. mit Migrationshintergrund). Diese Beobachtung ist in der Fachdiskussion als „Elitebilingualismus“ bekannt und läßt eine grundsätzliche – kognitive wie emotionale – Überforderung der Kinder als unwahrscheinlich erscheinen. Daraus folgt, daß potentiell alle Kinder erfolgreich zweisprachig erzogen werden können, ausschlaggebend für den Verlauf des Erwerbs scheinen andere Faktoren zu sein wie etwa die Lernumgebung und der sprachliche Input der Eltern.
Auf einer Fachtagung des Landesinstitus für Schule und Weiterbildung in Soest / Nordrhein-Westfalen zum Thema „Sprachliche Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien“ wurden folgende drei Thesen formuliert:
a) Eine früh einsetzende mehrsprachige Erziehung in Schule und Familie stellt keine grundsätzliche Überforderung dar – das gilt auch für Kinder mit Migrationshintergrund.
b) Soziokulturelle und sozialpsychologische Faktoren spielen bei der Entwicklung von Mehrsprachigkeit im Kindesalter nur indirekt eine Rolle.
c) Für Kinder mit Migrationshintergrund wirkt sich eine Vernachlässigung der Erstsprache durch Familie und Schule nachteilig auf die gesamte sprachliche Entwicklung und den Schulerfolg aus.
Zu a) Gesa Siebert-Ott betrachtet die o.g. Mischäußerungen als eine Stufe des gleichzeitigen Erwerbs zweier Sprachen, die bei einem gesteuerten und geförderten Verlauf des Lernens überwunden wird. Jedoch: „Bleibt mehrsprachige Erziehung dem Zufall überlassen, ist ihr Scheitern fast schon vorprogrammiert.“ (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW 2000). Von entscheidender Bedeutung ist dabei die bereits angesprochene funktionale Trennung der Sprachen. Sie reduziert die Mischäußerungen auf ein Minimum. Ebenso bedarf es ausreichend Kommunikation in beiden Sprachen, und zwar mit Partnern, die diese Sprache als Muttersprachler beherrschen. Ein Erzieher allein, zumal Mitglied einer zugewanderten Sprachminderheit, kann dies kaum bewerkstelligen.
Als die Lehrerin mir sagte, daß mein Kind nicht deutsch sprechen kann, war ich erschrocken, weil ich das Gefühl hatte, daß ich mein Kind zweisprachig vorbereitet hatte. Nachher habe ich gemerkt, daß sowohl im Türkischen als auch im Deutschen mein Kind wenig entwickelt war, weder richtig Deutsch noch richtig Türkisch reden konnte. Während des langen Aufenthalts habe ich das Türkische verlernt und deutsch habe ich nicht gut genug gelernt. Und dann habe ich meinem Kind auch noch falsches Deutsch beigebracht.
(Aussage eines türkischen Arbeiters; in „In der Schule sprachlos“von Ali Ucar, erschienen in „Migration und Soziale Arbeit“ Ausgabe 3/4 1999)
zu b) Die Zusammenhänge, die Schumann für den Zweitsprachenerwerb in Bezug auf soziale und psychologische Distanz herstellte, scheint bei Kindern keine deterministische Rolle zu spielen. Zu diesem Ergebnis kommen beispielsweise die empirischen Untersuchungen von Katharina Kuhs mit Kindern griechischer Arbeitsmigranten in Deutschland (vgl. Kuhs 1989). Erst wenn es um den Erwerb der sog. „academic language“[1] geht, macht sich die Herkunft aus einer sozial schwächer gestellten, möglicherweise von einer Minderheitenkultur geprägten Lernumgebung negativ bemerkbar. Mangelnde Kompetenz auf diesem Gebiet wird dann sichtbar, wenn es darum geht, Texte (z.B. wissenschaftlich formulierte Texte) zu interpretieren, oder sogar selbst Texte auf diesem Niveau mit intellektuellem Anspruch zu verfassen. Dies deckt sich mit den Erfahrungen aus der Schulpraxis. Auch die Ergebnisse der PISA-Studie lokalisieren diese Kompetenz als eine der Hauptmängel der deutschen Vergleichsgruppe (Baumert u.a. 2001, S.13).
zu c) „Die sprechen ja zu Hause nur Türkisch / Italienisch / usw.!“ ist ein oft gehörter Vorwurf an Eltern mit Migrationshintergrund, auch von Seiten der Lehrer. Aber eine erfolgreiche mehrsprachige Erziehung erfordert genau das, sie kann sozusagen nur auf zwei vollständig intakten Schienen stattfinden. Wenn das Kind statt dessen mit gemischten semilingualistischen Äußerungen konfrontiert wird, so wirkt sich das negativ aus, auch der Erwerb der Zielsprache leidet unter dieser Konfusion. Eltern sollten ihre Kinder in der Sprache erziehen, die sie am besten beherrschen!
In der öffentlichen Meinung setzt sich diese Erkenntnis nur sehr schwer durch. In Kalifornien beispielsweise wurde 1997 per Plebiszit die Fortsetzung von zweisprachigen Unterrichtsprogrammen für spanisch sprechende Minderheiten abgelehnt („proposal 227“). Daran zeigt sich die Kluft zwischen der Fachdiskussion und der öffentlichen Diskussion, die - gerade wenn es um das Kulturgut Sprache geht – zu sehr von der (oftmals von Politikern geschürten) Angst vor „Überfremdung“ geprägt ist.
Über die herausragende Rolle der Kompetenz im Gebrauch der Aufnahmegesellschaft für eingewanderte Minderheiten gibt es in Theorie und Praxis keine Diskussion. Unbestritten scheint der Leitsatz zu gelten: „Je besser ich mich in der Zweitsprache ausdrücken kann, desto leichter fällt die Integration in die Aufnahmegesellschaft.“
Im folgenden Kapitel soll erörtert werden, warum dies so ist und wo eventuell Grenzen dieser Aussage zu suchen sind. Denn gleichzeitig gibt es kaum Zweifel an der Tatsache, daß sprachliche Kompetenz alleine einen gelungenen Integrationsprozess nicht garantiert.
Um die Zusammenhänge dieser Thematik zu besprechen, gibt es zunächst wieder eine Reihe von Begriffen zu konkretisieren. Integration ist nicht Akkulturation, und Akkulturation ist nicht gleich Assimilation. Desweiteren möchte ich ein Modell des Integrationsprozesses näher vorstellen, darauf eingehen, welche Rolle die kulturelle bzw. ethnische Identität des Zuwanderers spielt, und den in diesem Kontext anzutreffenden Begriff „Modernitätsdifferenz“ kurz vorstellen.
Dabei soll der Einfluss der sprachlichen Kompetenz – Fühle ich mich dazu in der Lage, meine Wünsche zu formulieren und meine Ansprüche durchzusetzen? – nicht aus den Augen verloren gehen.
Der Begriff Integration ist nicht nur im Kontext der Migration zu finden. Immer wenn es um Minderheiten geht, die ihren Anspruch auf Partizipation an den Ressourcen der Gesellschaft nicht ausreichend geltend machen können (z.B. behinderte Menschen), wird der Ruf laut nach integrationsfördernden Maßnahmen. Was genau bedeutet Integration aber für zugewanderte Minderheiten?
C. Giordano definiert folgendermaßen: „...nicht nur die bloß funktionale Eingliederung von Gastarbeitern in den Arbeitsprozess ..., sondern ... zugleich auch die normative Einbettung der Einwanderer in das soziokulturelle Gefüge der Residenzgesellschaft“[2].
Einen Schritt weiter geht E. Branik: „ Aktive Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, subjektives Wohlbefinden im sozialen Umfeld und das Vorhandensein objektiver Sozialbedingungen, die Chancengleichheit und Anerkennung garantieren.“[3].
Ich halte fest: Integration hat eine individualistische, eine soziokulturelle und eine politische Dimension. Integrationsprozesse sind somit dynamisch, sie hängen sowohl von der Motivation der Einwanderer als auch der Aufnahmegesellschaft ab, sie sind geprägt von interkulturellen Interaktionen, und sie verändern Einwanderer ebenso wie die aufnehmende Gesellschaft. Letzteres ist wichtig, um Integration begrifflich abzugrenzen von Akkulturation und Assimilation, was oft fälschlicherweise gleichgesetzt wird.
Akkulturation bedeutet die einseitige Übernahme der Aufnahmekultur durch die zugewanderte Minderheit. Dies setzt statische, d.h. sich nicht verändernde, Vorgaben der Aufnahmekultur voraus, an denen sich die „Neuen“ orientieren können bzw. sollen. Angesichts der pluralistischen, sich stetig wandelnden westlich-modernen Industrienationen ist die Existenz solcher klar zu identifizierender kultureller Codes zumindest fraglich[4].
Seine erste Akkulturation erlebt der Mensch übrigens im Rahmen seiner Sozialisation in der Kindheit, dieser Vorgang heißt in der Soziologie Enkulturation.
Weitet man das Prinzip der Akkulturation, nämlich die einseitige Übernahme des bereits Vorhandenen und die Vernachlässigung des Mitgebrachten, auf die Gesamtheit der Lebenswelt aus, so spricht man von Assimilierung. Der Einwanderer passt sich strukturell und kulturell an. Assimilierungsprozesse enden mit der völligen Konformität des Migranten mit der aufnehmenden Gesellschaft.
Dieses Schema der einseitigen, linear verlaufenden Annäherung bis hin zur Verschmelzung fand lange Zeit im politisch-normativen Bereich in Deutschland großen Anklang: man ging davon aus, daß der Grad der Assimilation ( hier gleichgesetzt mit Integration) der Migranten einfach von Generation zu Generation steigen würde, sich die Integrationsproblematik quasi von alleine mit der Zeit auflösen würde. Diese Annahme kann heute erwiesenermaßen als falsch bezeichnet werden.
Um nicht falsch verstanden zu werden: die Forderung nach Assimilation – und damit Aufgabe der Herkunftskultur – ist unmenschlich; jeder hat das Recht, seine kulturellen Wurzeln zu behalten und zu pflegen, egal wo. Sie sind Teil seiner Identität.
Dieses Modell wurde von Hartmut Esser entworfen und 1980 veröffentlicht ( vgl. Auernheimer 1990, S. 89), also zu einer Zeit, in der in Deutschland unter Migration vor allem die Arbeitsmigration („Gastarbeiter“) verstanden wurde.[5]
Entscheidendes Merkmal des Modells ist, daß Esser davon ausgeht, daß ein Migrant im Grunde nach denselben Maximen, Motiven und Schemata handelt wie jedes andere Individuum auch. Er wägt ab, was für ihn in der jeweiligen Situation, bestimmt von den Voraussetzungen seiner Lebenswelt, möglich ist, und was für einen Nutzen er aus seinem Handeln ziehen kann. Das heißt, er trifft subjektive Situationsentscheidungen, von denen er sich rational ein persönliches Weiterkommen verspricht. Dies kann auf eine komplette Assimilierung mit der Aufnahmegesellschaft hinauslaufen, es kann aber auch dazu führen, daß er sich in eine Migrantenkolonie zurückzieht oder gar remigriert. Entscheidend ist, ob er mit den ersten assimilativen Bemühungen gute oder schlechte Erfahrungen macht, wie die Aufnahmegesellschaft auf die Initiative seinerseits reagiert, und wie er das letztlich verarbeitet. Der Migrant handelt, sammelt Erfahrungen, entwickelt Strategien: er durchläuft einen Lernprozess.
Aus heutiger Sicht, etwa zwanzig Jahre später, läßt sich über dieses Modell sowohl Positives wie Negatives sagen. Ich beginne mit den aus meiner Sicht positiv zu bewertenden Aspekten:
- der Migrant erscheint als Person wie jede andere, ohne Sonderstatus irgendwelcher Art
- der Migrant erscheint als Individuum, nicht als Teil einer von Herkunftskultur und Ethnizität geprägten Gruppe.
- Somit ist der Migrant als Handelnder zu verstehen, und seine Handlungen auch für jemanden ohne Migrationserfahrung nachvollziehbar.
Diese drei Aspekte machen das handlungstheoretische Modell interessant für die Soziale Arbeit mit Migranten. In den Sozialdiensten, in denen zu einem großen Teil Einzelfallhilfe geleistet wird, kann das Modell insofern Anwendung finden, in dem man den Klienten dabei unterstützt, seine Angelegenheiten nach rationalen Motiven und bestmöglich selbst in die Hand zu nehmen. Damit wären wir aber auch gleich bei den negativ zu bewertenden Aspekten:
- Häufig stehen Dinge / Probleme des Migranten in ihrer Ursache außerhalb des Einflusses seiner eigenen Handlungsmöglichkeiten.
- Essers Modell zielt auf Assimilierung ab, eventuelle kulturelle Neubildungen finden keine Erwähnung .
- Betrachtet man Integration schwerpunktmäßig als Lernprozess des Migranten, so nimmt man fast alle Mitverantwortung von den Schultern der Aufnahmegesellschaft und ihrer politischen Entscheidungsträger.
Wie an späterer Stelle detaillierter ausgeführt wird, ist die Situation bezüglich Migration und Migrantenpopulation in Deutschland im Jahre 2002 eine völlig andere als 1980, als sich die Arbeitsmigranten aus Süd- und Südosteuropa mit ihren Familien noch als relativ homogene Bevölkerungsgruppe präsentierten. Zudem war die Gesetzgebung für Ausländer noch nicht so sehr dominiert von Reglementierungen und Einschränkungen, die eine Begrenzung der Zuwanderung zum Ziel haben. Auch diese Tatsache wird an anderer Stelle ausführlicher zu behandeln sein.
Die Rolle des Zweitsprachenerwerbs taucht nicht zentral oder deterministisch in dem Modell Essers auf. Aus dem handlungsorientierten Schema kann man aber entnehmen, daß der Erwerb kommunikativer Kompetenz angezeigt ist als Instrument zur Erreichung der persönlichen Ziele. Der Erfolg dieses spezifischen Lernprozesses dürfte ebenso wie der Prozess der Integration im allgemeinen abhängen von den frühen Erfahrungen und Bemühungen des Migranten: ihnen entsprechend plant er sein weiteres Handeln.
Migration und die Eingliederung in eine unbekannte neue Gesellschaft bringen ein großes Maß an Wandel und Veränderung für den Betroffenen mit sich. In ein komplett anderes soziokulturelles System taucht zum Beispiel ein Migrant, der aus dem nahen Osten in ein westeuropäisches Land wandert. Er findet sich in einer völlig neuen Rolle wieder. Aufgaben, die er bisher ausfüllte, beispielsweise als Ernährer und damit unumstrittenes Oberhaupt der Familie kann er eventuell vorübergehend nicht oder nicht in vollem Umfang wahrnehmen. Die Migration und ihre Folgen rütteln an den Grundfesten seines Selbstkonzepts: Fragen nach der Identität des Einzelnen tauchen auf.
Der Mensch definiert sich selbst in der Regel über eine Vielzahl von Rollen, in deren Rahmen er Erwartungen erfüllt: in der Familie, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis und als Mitglied einer Gesellschaft mit spezifischen kulturellen und ethischen Wurzeln. Soviel kann man – bei aller Vorsicht, mit der der Begriff „Kulturelle Identität“ zu gebrauchen ist – festhalten[6]. Dieselbe Vorsicht ist angebracht, wenn von Ethnizität oder ethischer Herkunft die Rede ist. Zu oft wurden und werden diese Bezeichnungen instrumentalisiert, um Menschen als „anders“ abzustempeln und um Fremdenangst (Xenophobie) zu schüren.
Wo aber liegen nun die konkreten Zusammenhänge von Identität und Integration? Ich denke, verallgemeinert läßt sich kaum eine Frage auf diese Antwort finden. Die Beschreibung von Identität findet reflexiv statt – Wer bin ich?- und kann deshalb nur im höchsten Maße subjektiv empfunden werden. Wer versucht, Gruppen von Menschen in Kategorien wie kulturelle Identität oder ethische Identität zusammenzufassen, der pauschalisiert etwas, was sich nicht pauschalisieren läßt. Selbst wenn es sich um ein Mitglied einer solchen Gruppe handelt, von Zuschreibung also nicht die Rede sein kann. Dabei entspricht es unzweifelhaft den tiefsten Bedürfnissen des Menschen, sich über Gruppenzugehörigkeit zu identifizieren, das gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit und Rückhalt. Aber eine solche Zugehörigkeit, zum Beispiel zu einer Religionsgruppe, ist eben nur ein Ausschnitt, eine der vielen Facetten, die die Identität eines Menschen ausmachen.
Ganz besonders verspürt man diesen Wunsch nach Zugehörigkeit – diese Erfahrung kann jeder am eigenen Leib machen – wenn man freiwillig oder unfreiwillig seine Heimat verläßt, im schlimmsten Fall alleine in einem fremden Kulturkreis mit einer unbekannten Sprache sich neu etablieren muß. Das ist sicherlich mit ein Hauptgrund für die Bildung sog. Einwandererkolonien, die in allen Einwanderungsgesellschaften auf der Erde anzutreffen sind. Diese Koloniebildung ist in der Regel das Ergebnis von zwei Entwicklungen. Einerseits führen gesellschaftliche Zwänge (z. B. der Mietspiegel) dazu, daß sich die Besiedlung durch Immigranten – aufgrund der relativ schwachen sozialen Stellung und beschränkter finanzieller Mittel – auf bestimmte Stadtteile konzentriert, oft an der Peripherie großer Industriestädte. Hess-Lüttich nennt diesen Vorgang Ghettoisierung (Hess-Lüttich 1984, S.17) und unterscheidet ihn damit von der „Ghettobildung“. Dieser Begriff kennzeichnet die Bestrebungen der Immigranten selbst, sich zu kolonisieren, d. h. durch räumliche Konzentration Zentren und Treffpunkte zu schaffen für den Austausch der aus der Herkunftskultur mitgebrachten Gemeinsamkeiten.
In der öffentlichen Diskussion wird diese Koloniebildung immer wieder als Zeichen mangelnden Integrationswillens seitens der Zuwanderer interpretiert. Das Lager, das diese Position vertritt, plädiert für die sog. soziale Mischung, und möchte diese selbstgewollte ethnische Segregation nicht zulassen (vgl. Storz u. Reißlandt 2002, S.92f.). Wer selbst schon einmal im anderssprachigen Ausland gelebt hat, wird aber bestätigen, wie wichtig und hilfreich der Kontakt zu Landsmännern ist. Ein Gespräch in der Muttersprache, das Herausarbeiten eventueller gemeinsam erlebter Schwierigkeiten bei der Umstellung auf eine unbekannte Gesellschaftsform und kleine gegenseitige Hilfestellungen bringen ein enormes Maß an Entlastung für die angespannte Psyche. Man könnte dies kurz gefaßt als das konzentrierte Nutzen kollektiver Selbsthilfepotentiale bezeichnen.
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[1] Auf die aus der Sprachsozialisationsforschung stammende Unterscheidung von „conversational language“ und „academic language“ werde ich im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlicher eingehen.
[2] C. Giordano „Zwischen Mirabella und Sindelfingen“; erschienen in Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 2 /84
[3] E. Branik „Psychische Störungen und soziale Probleme von Kindern und Jugendlichen aus Spätaussiedlerfamilien“; Weinheim 1982
[4] Wer erinnert sich nicht mit Grausen an die öffentliche Debatte, die der CDU-Politiker Friedrich Merz mit seiner Forderung nach Anpassung an „die deutsche Leitkultur“ ausgelöst hat?
[5] H.Esser :„Aspekte der Wanderungssoziologie – Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten – eine handlungstheoretische Analyse; Darmstadt 1980.
[6] Vergleiche Apitzsch 1997, S.256f: Die Kritik, unter anderem von Franz Hamburger, an der Kategorie „kulturelle Basispersönlichkeit“
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