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Mehr InfosDiplomarbeit, 2002, 127 Seiten
Diplomarbeit
1,7
1 Einleitung
1.1 Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus - Versuch einer Definition
1.1.1 Rechtsextremismus als Sammelbezeichnung unterschiedlicher politischer Einstellungen
1.1.2 Die Rechtsextremismus-Definition nach Heitmeyer
1.1.3 Zur Verwendung der Begriffe Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus
2 Rechtsextremistische Gewalt- und Straftaten
2.1 Die Entwicklung der politisch motivierten rechtsextremistischen Gewalt- und Straftaten seit der Wiedervereinigung und ihr Ausmaß im Jahr 2001
2.1.1 Die Entwicklung der politisch motivierten rechtsextremistischen Gewalt- und Straftaten von 1990-2000
2.1.2 Zielrichtungen der Gewalttaten mit politisch motiviertem rechtsextremistischen Hintergrund im Jahr 2001
2.1.3 Verteilung der politisch motivierten rechtsextremistischen Gewalttaten auf die Bundesländer
2.2 Tatmerkmale, Tatverdächtigenstrukturen und soziale Hintergründe fremdenfeindlicher Straftaten laut polizeilicher Ermittlungsakten
2.2.1 Alter der Tatverdächtigen
2.2.2 Fremdenfeindliche Einzel- vs. Gruppentat
2.2.3 Organisation, Steuerung oder spontane Entwicklung der fremdenfeindlichen Straftat
2.2.4 Vorstrafen und kriminelle Milieus der Tatverdächtigen
2.2.5 Formaler Bildungsabschluss der Tatverdächtigen
2.2.6 Erwerbstätigkeit, Berufsstatus, Arbeitslosigkeit der Tatverdächtigen
2.2.7 Struktur der Herkunftsfamilie der Tatverdächtigen
2.2.8 Geschlecht der Tatverdächtigen
2.3 Zusammenfassung der Polizeiaktenanalyse
3 Erklärungsansätze möglicher Ursachen von Rechtsextremismus unter Jugendlichen
3.1 Der Individualisierungsansatz Heitmeyers
3.1.1 Die gesellschaftstheoretischen Aspekte der Modernisierung
3.1.2 Die milieutheoretischen Aspekte der Modernisierung
3.1.3 Die identitätstheoretischen Aspekte der Modernisierung
3.1.3.1 Identität und Interaktion
3.1.3.2 Arbeit und Identität
3.1.3.3 Politik und Identität
3.2 Das Wichtigste des Individualisierungsansatzes Heitmeyers in Kürze
3.3 Der Individualisierungsansatz Heitmeyers in der wissenschaftlichen Diskussion
4 Pädagogische Arbeit mit rechtsextremistischen Jugendlichen
4.1 Die Praxis der Akzeptierenden Jugendarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendcliquen
4.1.1 Grundsätze der Akzeptierenden Jugendarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendcliquen
4.1.2 Die zentralen Handlungsebenen der Akzeptierenden Jugendarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendcliquen
4.1.2.1 Das Angebot sozialer Räume
4.1.2.2 Die Beziehungsarbeit
4.1.2.3 Die Akzeptanz bestehender Cliquen
4.1.2.4 Einmischung in die Lebenswelten Jugendlicher
4.2 Grenzen der pädagogischen Arbeit mit rechtsextremistischen Jugendlichen
4.3 Pädagogische Arbeit als notwendiger Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Strategien gegen Rechtsextremismus
4.3.1 Die ökonomisch-soziale Ebene
4.3.2 Die kommunale Ebene
4.3.3 Die Ebene von Polizei und Justiz
4.3.4 Die politische Ebene
4.3.5 Die Ebene der politischen Bildung
4.3.6 Die Alltagsebene
5 Resümee
6 Literaturverzeichnis
7 Abbildungsverzeichnis
Noch kurz vor dem Fall der Mauer fanden rechtsextremistische Denk- und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland kaum Beachtung, weder in der Öffentlichkeit noch auf Seiten der zuständigen Behörden. Neonazigruppierungen wie beispielsweise aus dem Umfeld von Michael Kühnen[1] und gewalttätige Skinheads machten zwar durch rechtsextremistische Straftaten auf sich aufmerksam und stellten auch ein Risiko für die öffentliche Sicherheit dar, galten aber gemeinhin „als unbedeutend und sozial randständig“ (Wagner 2000a, S. 155). Bedeutungsvoll als Problem erschien der Rechtsextremismus in erster Linie lediglich als ein Phänomen, das sich überwiegend unter den Erwachsenen der Gesellschaft finden ließe (vgl. Krafeld 2000, S. 271). Die Bedeutung und das Ausmaß des Rechtsextremismus wurde in diesem Kontext mit einschlägigen rechtsextremistischen Vereinigungen und Verbänden in Verbindung gebracht, die vornehmlich als Sammelbecken „ewig Gestriger“ charakterisiert wurden (Wagner 2000a, S. 155). „So machte die berühmt gewordene Sinus-Studie von 1981 unter der Wahlbevölkerung 13 Prozent mit einem geschlossenen rechtsextremistischen Weltbild aus. Dieses fände sich besonders häufig bei älteren Menschen, während ‚alle Altersgruppen unter 40 Jahren überdurchschnittlich resistent gegenüber rechtsextremistischer Ideologie‘ (Sinus-Institut 1981, S. 8, zitiert nach Krafeld 2000, S. 271) seien“ (Krafeld 2000, S. 271).
Vor diesem Hintergrund war Rechtsextremismus als unerfreuliches Vermächtnis eines abgeschlossenen Zeitabschnittes der deutschen Geschichte beschrieben worden, dessen sich die nachfolgenden Generationen mit dem Verlauf der Jahre von selbst entwöhnen würden (vgl. Kleinert & de Rijke 2000, S. 168f). In diesem Verständnis „galt der Rechtsextremismus (...) als historisches Auslaufmodell“ (Wagner 2000a, S. 155). Zudem harmonierte das Phänomen Rechtsextremismus nicht mit der vorherrschenden politischen Anschauung (vgl. Kleinert & de Rijke 2000, S. 168), stellte doch in den 70er- und 80er-Jahren namentlich der Linksextremismus die Herausforderung für die freiheitlich-demokratisch konzipierte Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland dar. Was die fünf neuen ostdeutschen Bundesländer der Bundesrepublik betrifft, so kommt hier hinzu, dass rechtsextremistische Ereignisse in der antifaschistisch-sozialistischen DDR bis vor dem Fall der Mauer tabuisiert wurden (vgl. Schubarth 2000b, S. 268).
Der Rechtsextremismus, wie er sich hingegen in der heutigen Zeit darstellt, ist schon lange nicht mehr ausschließlich der Rechtsextremismus „nationalistische(r) Hardliner“. „Rechtsextremismus hat sich modernisiert[2] “ (Möller 1993a, S. 37) und „ist von Verjüngung geprägt“ (Möller 1993a, S. 49). Mit Beginn der 90er-Jahre hat der Rechtsextremismus eine ganz neue Qualität erreicht und ist „in den verschiedensten Facetten (...) verstärkt in Erscheinung getreten“ (Schubarth 2000b, S. 249). Rechtsextremismus ist diesbezüglich „kein einheitliches, in sich geschlossenes Phänomen“. Er zeigt sich z.B. im Internet, in neonazistischen Gruppierungen, rechtsextremistischen Subkulturen, Parteien sowie Wähler- und Einstellungspotentialen (Bundesministerium des Innern 2002, S. 3). Eine besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit der 90er-Jahre hat der Rechtsextremismus allerdings durch konkrete rechtsextremistische und fremdenfeindliche Gewalttaten zumeist jugendlicher Täter erregt, wie etwa in Mölln[3] und Solingen[4] (vgl. Kleinert & de Rijke 2000, S. 167). Durch solche Taten schadet der Rechtsextremismus seit Beginn der 90er-Jahre und der damit verbundenen Wiedervereinigung Deutschlands nicht mehr ausschließlich der „politische(n) Kultur“, sondern dem „gesellschaftliche(n) Klima insgesamt, was eine große Herausforderung für die Demokratie darstellt“ (Schubarth 2000b, S. 249). Im Jahre 2000 haben Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit erneut, insbesondere durch den tödlichen Überfall auf den Mosambikaner Alberto Adriano[5], die öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Neben einer möglichen Gefährdung des „Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort(es) Deutschland(s)“ wurde diese Problematik in einer Debatte um ein mögliches Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) auch von der Politik aufgegriffen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002, S. 236).
In meiner Diplomarbeit soll es im Folgenden genau um diesen jugendlichen Rechtsextremismus gehen, der sich oft in rechtsradikaler Gewalt gegen Asylbewerber, Ausländer, ethnische Minderheiten, Behinderte, Homosexuelle, Obdachlose oder einfach nur anders denkende bzw. anders aussehende Bürger artikuliert. Ausgehend von der Definition der Begriffe Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus, zwei Begriffe, die in der öffentlichen Diskussion sowohl alternativ als auch synonym verwendet werden, lege ich im nächsten Kapitel die Entwicklung der politisch motivierten rechtsextremistischen Gewalt- und Straftaten seit Beginn der 90er-Jahre dar und werde eine Analyse polizeilicher Ermittlungsakten zu Tatverdächtigen speziell fremdenfeindlicher Straftaten von Peucker, Gaßebner und Wahl (2001) präsentieren. Im darauf folgenden Kapitel stelle ich einen Erklärungsansatz möglicher Ursachen von Rechtsextremismus und Gewalt unter Jugendlichen vor, genauer gesagt den Erklärungsansatz des Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Im Anschluß daran werde ich, weil es mich als angehender Diplom-Pädagoge natürlich ganz besonders interessiert, der Frage nachgehen, inwiefern die Pädagogik einen Beitrag zur Arbeit gegen Rechtsextremismus leisten kann. Abschließend möchte ich die zuvor erarbeiteten Kenntnisse kurz zusammenfassen und kritisch kommentieren.
Eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel Jugend und Rechtsextremismus - Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland muss mit der Definition des Phänomens Rechtsextremismus beginnen. Eine juristische Begriffsbestimmung der Erscheinung Rechtsextremismus liegt hierbei nicht vor (vgl. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2001, S. 6). Auch in den Sozialwissenschaften ist die Bezeichnung Rechtsextremismus nicht abgesichert und mehrdeutig (vgl. Stöss 2000, S. 13). Eine wissenschaftlich eindeutige Definition „sowohl des Begriffes Rechtsextremismus als auch seiner Inhalte“ ist also nicht bzw. nur bedingt möglich (Wenzler 2001, S. 22). Ein auch nur annähernd lückenloser Abriss der zahlreichen Begriffsbestimmungen des Rechtsextremismus würde den Rahmen dieser Diplomarbeit um ein Vielfaches übersteigen. Im Folgenden werde ich aus diesem Grund nur eine Annäherung an den Begriff des Rechtsextremismus versuchen:
Die Begriffsbestimmung des Rechtsextremismus setzt die Definition des Phänomens Extremismus voraus. Pfahl-Traughber (1999) beschreibt die allgemeinere Erscheinung Extremismus „als Sammelbezeichnung für unterschiedliche antidemokratische Bestrebungen“ (S. 11f). Antidemokratisch, im Sinne von verfassungsfeindlich, sind demnach Vorgänge, die sich gegen die freiheitlich-demokratisch konzipierte Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland richten, mit dem Ziel, diese Grundordnung zu beseitigen (vgl. Stöss 2000, S. 16).
Kennzeichnend für die freiheitliche demokratische Grundordnung sind acht Prinzipien:
1. „die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten,
2. die Volkssouveränität,
3. die Verantwortlichkeit der Regierung,
4. die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,
5. die Unabhängigkeit der Gerichte,
6. das Mehrparteienprinzip,
7. die Chancengleichheit für alle politischen Parteien,
8. das Recht auf Bildung und Ausübung einer verfassungsmäßigen Opposition“ (Bundesamt für Verfassungsschutz 1999, S. 1).
Neben dem Rechtsextremismus ist explizit auch der Linksextremismus Bestandteil des allgemeineren Extremismus. „Der prinzipielle Unterschied liegt jedoch darin, dass der Rechtsextremismus die Beseitigung der Demokratie anstrebt, der Sozialismus (als politisches Ideal des Linksextremismus, d. Verf. dieser Diplomarbeit) dagegen die Abschaffung des Kapitalismus zum Ziel hat“ (Wenzler 2001, S. 22).
Extremistische Organisationen und Vereinigungen, im Sinne des Verfassungsschutzes, können zwar durch die autorisierten Behörden beobachtet werden, sie können aber aufgrund extremistischer Tendenzen nicht zwangsläufig strafrechtlich verfolgt oder gar verboten werden, da „(Rechts- bzw. Links-)Extremismus (...) kein Rechtsbegriff (ist), aus dem sich unmittelbar juristische Konsequenzen ableiten ließen“ (Stöss 2000, S. 13). Zur Wahrung der streitbaren Demokratie gegen verfassungswidrige Absichten von rechts und von links besitzt das Grundgesetz zu diesem Zwecke eine Reihe von Vorschriften. Neben dem politischen Strafrecht schützt sich die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland auch durch wichtige Vorschriften des Verfassungsschutzes:
- Die Einbuße von Grundrechten: Nach Art. 18 GG büßt eine Person die Grundrechte ein, die z.B. die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit oder die Meinungsfreiheit zum Engagement gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausnutzt. Den Grad der Einbuße von Grundrechten regelt das Bundesverfassungsgericht.
- Das Verbot von Vereinigungen: Das Verbot von Vereinen, deren Bestrebungen und Handlungen den Strafgesetzen widersprechen oder die sich gegen die Ordnung des Grundgesetzes oder gegen die Idee der Völkerverständigung stellen, wird durch Art. 9 Abs. 2 GG geregelt. Zuständige Behörden müssen das Verbot dieser Vereinigungen durch Auflösungsanordnungen demonstrieren und ausführen. Einzelheiten regelt hierbei das Vereinsrecht.
- Das Verbot extremistischer Parteien: Parteien, die mit Unterstützung ihrer Mitglieder das Ziel anstreben, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu untergraben oder gar zu beseitigen oder die Existenz der Bundesrepublik Deutschland in Frage zu stellen, sind nach Art. 21 Abs. 2 GG verfassungsfeindlich. „Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht“ (Stöss 2000, S. 14).
Zu den Behörden, die für den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zuständig sind, gehören vor allem die Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder, Staatsanwaltschaften und Gerichte, das Bundesinnenministerium und die Innenministerien der Länder, denen die Polizei und die Verfassungsschutzämter unterstellt sind (vgl. Stöss 2000, S. 14).
Die Trennungslinie zwischen Demokratie und Extremismus ist nicht eindeutig bestimmbar, da die Übergänge gewissermaßen durchweg fließend sind. Aus diesem Grund hat die Behördensprache den Begriff Radikalismus eingeführt (vgl. Stöss 2000, S. 17). Rechtsradikalismus ist diesbezüglich zur Sammelbezeichnung aller Bewegungen rechts der etablierten konservativen Politik geworden. Im Verständnis des Verfassungsschutzes bewegen sich rechtsradikale Absichten im Unterschied zum Rechtsextremismus jedoch im Bereich des Verfassungsrahmens und sind somit nicht Beobachtungsobjekte der zuständigen Behörden (vgl. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2001, S. 7). Zur Verdeutlichung des Zusammenhanges bzw. der Grenzlinie zwischen radikalen und extremistischen Strömungen dient folgendes Schaubild:
Abbildung 1: Das Extremismus-Modell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2001, S. 7
Durch das Extremismus-Modell wird zwar ersichtlich, wo der Rechtsextremismus im verfassungsrechtlichen Verständnis angesiedelt ist, es werden aber keine konkreten Aussagen gemacht, in welchen inhaltlichen Einstellungen sich der Rechtsextremismus widerspiegelt und in welchen Verhaltensweisen dieser Rechtsextremismus zum Ausdruck gebracht werden kann. Rechtsextremistische Einstellungen sind dabei in der Regel die Vorboten rechtsextremistischen Verhaltens, führen aber nicht zwangsläufig zu einer konkreten Reaktion. Diesbezüglich gibt es also ein signifikant größeres Potential an rechtsextremistischen Einstellungen als an rechtsextremistischen Verhalten (vgl. Stöss 2000, S. 19).
„Beim Rechtsextremismus handelt es sich nicht um eine spezifische politische Einstellung, sondern um ein komplexes Einstellungsmuster [6] “. Aus politikwissenschaftlicher Sicht zählen hierzu im Wesentlichen folgende Komponenten (Stöss 2000, S. 25):
- Ablehnung der allgemeingültigen Freiheits- und Gleichheitsrechte des Menschen.
- Natürliche Ordnung der Volksgemeinschaft durch Einheit von Staat und Volk auf der Basis völkischer bzw. rassistischer Ideologie. „Die staatliche Führung handelt intuitiv nach dem einheitlichen Willen des Volkes“. Gewaltenteilung, Mehrparteienprinzip und Oppositionsfreiheit würden überflüssig werden.
- Pointierter Antisemitismus, der zweitklassige und bösartige Juden der Weltverschwörung bezichtigt.
- „ Revisionistische Tendenzen [7], die auf eine Relativierung, Verharmlosung und im Extremfall auch eine Leugnung des Holocausts sowie auf eine Leugnung einer deutschen Kriegsschuld abzielen“.
- Die Aufrechterhaltung und Stärkung der eigenen Volksgemeinschaft bzw. Rasse als Maxime menschlicher Denk- und Verhaltensweisen. Parallel dazu werden andere Nationen und Rassen voreingenommen abgewertet.
- Fremde im Sinne von Ausländern, Asylbewerber, Homosexuellen, Obdachlosen oder auch Spätaussiedler werden unter der Bezeichnung Fremdenfeindlichkeit diskriminiert und ausgegrenzt (Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2001, S. 10).
- „ Wohlstandschauvinismus [8] diskriminiert die Mitglieder fremder Volksgruppen nicht prinzipiell, will ihnen aber die Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand verwehren“ (Stöss 2000, S. 26).
- Das Prinzip der Eliten, denen in einer neuen Staatsordnung Freibriefe und Sonderrechte ohne erforderliches demokratisches Einverständnis gestattet werden (vgl. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2001, S. 11).
- „ Autoritarismus [9] ist (...) die Bereitschaft zur freiwilligen Unterwerfung unter Stärkere bzw. unter nicht legitimierte Herrschaft und die Neigung zur Beherrschung Schwächerer[10] “ (Stöss 2000, S. 25).
Auf der Verhaltensebene des Rechtsextremismus muss zwischen politisch motiviertem Verhalten, das in festen Überzeugungen und eindeutigen politischen Programmen fußt, und Protestverhalten unterschieden werden, „das primär der Provokation und/oder dem Ausleben von aggressiven Persönlichkeitsmerkmalen dient“ (Stöss 2000, S. 22). So ist z.B. in dem ersten Fall die Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole, wie etwa das Hakenkreuz, Ausdruck eines politischen Programmes, im zweiten Fall dagegen Mittel der Provokation und Brüskierung der Öffentlichkeit, um auf eigene Unzufriedenheiten mit bestehenden Konstellationen der Lebensumstände hinzuweisen. Die Grenzlinien zwischen politisch motiviertem Verhalten einerseits und provozierendem Protestverhalten andererseits sind dabei fließend. Protestverhalten kann in politisch engagiertem Rechtsextremismus münden, dieser ist aber nicht zwangsläufig die logische Folge eines solchen Verhaltens. In diesem Sinne setzt sich der politisch aktive Rechtsextremismus nur bedingt aus dem Protestpotential zusammen. Das Wahlverhalten der Bevölkerung zugunsten rechtsextremistischer Parteien kann sowohl aus politischer Überzeugung als auch aus Protest erfolgen. Beim offenkundigen und für alle sichtbaren manifesten Rechtsextremismus ist zwischen dem politisch organisierten Rechtsextremismus und kleinen rechtsextremistischen Gruppierungen bzw. Cliquen zu unterscheiden, „die zumeist spontan, nicht selten in provokativer Absicht und in der Regel gewalttätig handeln, allenfalls schwach institutionalisiert und zumeist kurzlebig sind und jede Form von Verbindlichkeit (...) ablehnen“ (Stöss 2000, S. 23). Es ist aber durchaus möglich, dass sich durch das Gewaltverhalten rechtsextremistischer Cliquen Einstellungen radikalisieren und diese Jugendlichen dadurch den Kontakt zum organisierten Rechtsextremismus suchen (vgl. Stöss 2000, S. 21).
Abbildung 2: Dimensionen des Rechtsextremismus
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Stöss 2000, S. 22
Die in der Illustration dargestellten Ausmaße des Rechtsextremismus sind sorgfältig voneinander zu unterscheiden. Sie haben jeweils ihre ganz eigene Bedeutung und oft sogar voneinander unabhängige Ursachen. Daher ist es auch nicht erlaubt, von einem Element des Rechtsextremismus auf die Gesamterscheinung Rechtsextremismus zu schließen (vgl. Stöss 2000, S. 24). Aus diesem Grund stelle ich eine weitere, weil differenziertere, Definition des Rechtsextremismus vor, die sich speziell mit dem Rechtsextremismus und der Gewalt unter Jugendlichen auseinander setzt.
Aus der soziologischen Perspektive Heitmeyers (et al. 1992) besteht Rechtsextremismus aus zwei Basiselementen, die in verschiedensten Facetten in Erscheinung treten.[11]
1. Ideologie der Ungleichheit
Die Ideologie der Ungleichheit enthält zwei wesentliche Dimensionen:
Die erste Dimension dieser Ideologie besteht aus einer personen- bzw. gruppenbezogenen Ausrichtung, die auf Abwertung aufgrund natürlicher Ungleichwertigkeit abzielt. Diese Dimension zeigt sich inhaltlich in folgenden Bestandteilen wie:
- „nationalistischer bzw. völkischer Selbstübersteigerung;
- rassistischer Einordnung;
- eugenischer Unterscheidung von lebenwertem (sic!) und unwertem Leben;
- soziobiologischer Behauptung von natürlichen Hierarchien;
- sozialdarwinistischer Betonung des Rechts des Stärkeren;
- totalitären Normverständnissen im Hinblick auf Abwertung des ‚Andersseins‘[12].
- Betonung von Homogenität und kultureller Differenz“ (S. 13).
Die zweite Dimension dieser Ideologie der Ungleichheit ist auf den Lebensalltag bezogen und kommt in Forderungen der Ausgrenzung in folgender Form zum Ausdruck:
- soziale,
- ökonomische,
- kulturelle,
- rechtliche,
- und politische Diskriminierung und Ungleichbehandlung von Fremden und nicht der Norm entsprechenden Personen.
Dieses erste Basiselement enthält somit Einstellungen zum politischen Verständnis der gesellschaftlichen Realität.
2. Gewaltakzeptanz
Das zweite Basiselement ist die Gewaltakzeptanz. Diese Akzeptanz zeigt sich in vier wesentlichen, stufenweise steigernden Varianten:
- der Überzeugung unwiderruflicher Existenz und Notwendigkeit von Gewalt,
- der Duldung und Zustimmung fremdausgeübter privater bzw. unterdrückender staatlicher Gewalt,
- der eigenen Bereitschaft zur Gewaltausübung,
- die tatsächliche Ausübung von Gewalt.
Hinter dieser Gewaltakzeptanz steht die Auffassung, dass Gewalt als die angemessene und natürliche Handlungsweise zur Regelung von Konflikten ordnungsgemäß sei (vgl. Heitmeyer et al. 1992, S. 13f). Aus diesem Verständnis ergibt sich die:
- „Ablehnung rationaler Diskurse;
- Betonung des alltäglichen Kampfes ums Dasein;
- Ablehnung demokratischer Regelungsformen von sozialen und politischen Konflikten;
- Betonung autoritärer und militaristischer Umgangsformen und Stile“ (Heitmeyer et al. 1992, S. 14).
Dieses zweite Basiselement der Gewaltakzeptanz bezieht sich also auf die Ideologie der Ungleichheit, indem diese Forderungen der Ungleichbehandlung von Fremden und der Norm abweichenden Personen gebilligt bzw. in die Tat umgesetzt werden.
Rechtsextremistische Denk- und Verhaltensweisen liegen demzufolge dann vor, wenn beide Basiselemente zusammenfließen, „wenn also die strukturell gewaltorientierte Ideologie der Ungleichheit verbunden wird mit Varianten der Gewaltakzeptanz als Handlungsform“. Dabei ist die Kopplung verschiedener Bestandteile aus beiden Basiselementen entscheidend, nicht hingegen das Vorliegen stets aller Bestandteile (vgl. Heitmeyer et al. 1992, S. 14).
Abbildung 3: Rechtsextremismus nach Heitmeyer
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Neumann & Frindte 2001, S. 190
Bevor ich meine Argumente für bzw. gegen die weitere Verwendung der Begriffe Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus in dieser Diplomarbeit darlegen werde, möchte ich klar stellen, dass in meinen Ausführungen rechtsextremistisch gegenüber rechtsextrem nicht mit einem Mehr an rechten Denk- und Verhaltensweisen korrespondiert. In diesem Verständnis sind die beiden Begriffe rechtsextremistisch und rechtsextrem gleichberechtigt gewichtet.
Spreche ich von rechtsextremistischen Jugendlichen, Jugendlichen mit rechtsextremistischen Orientierungen oder Rechtsextremismus unter Jugendlichen, habe ich die Jugendlichen im Kopf, für die jene Orientierungs- und Handlungsmuster ausschlaggebend sind, die nach Heitmeyer Rechtsextremismus kennzeichnen, nämlich „die strukturell gewaltorientierte Ideologie der Ungleichheit verbunden (...) mit Varianten der Gewaltakzeptanz als Handlungsform (Heitmeyer et al. 1992, S.14). Die Beschränkung auf Jugendliche, die in rechtsextremen Gruppen und Parteien organisiert sind oder Skinhead-Gruppierungen angehören, durch entsprechende Einrichtungen des Verfassungsschutzes beobachtet werden und in den jährlichen Verfassungsschutzberichten als gewaltbereite und gewalttätige Rechtsextremisten statistisch erfasst und aufgeführt sind, greift mir zu kurz, da sie nur einen Teil rechtsextremistischer Jugendlicher im Sinne Heitmeyers repräsentieren.
Bezogen auf das Gewaltverhalten Jugendlicher spreche ich in den weiteren Erläuterungen wohlüberlegt nicht mehr von rechtsradikaler Gewalt, sondern von rechtsextremistischer Gewalt. Dies möchte ich kurz begründen: Jugendliche, die Fremden und nicht der Norm entsprechenden Personen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit absprechen und dies mit Gewalt unterstreichen, lehnen die allgemeingültigen Freiheits- und Gleichheitsrechte des Menschen ab. Diese Jugendlichen befinden sich somit nicht mehr im verfassungskonformen Spektrum des Grundgesetzes, sondern außerhalb dieses Bereiches. Ihr Verhalten ist daher in meinen Augen rechtsextremistisch und nicht rechtsradikal. In der Interpretation des Rechtsextremismus nach Heitmeyer würde Rechtsradikalismus meines Erachtens die Ideologie der Ungleichheit ohne Gewaltakzeptanz als Handlungsform widerspiegeln.
Es vergeht kaum ein Tag in der Bundesrepublik Deutschland, an dem sich keine Schlagzeilen zu Schändungen jüdischer Grabstätten und Synagogen oder Mahnmale für die Opfer des Holocaust, zu gewaltsamen Übergriffen auf Ausländer oder zu Brandanschlägen auf Asylbewerberheime und Wohnungen von Ausländern in den Medien finden lassen. Dabei nehmen die rechtsextremistischen Täter sogar oftmals den Tod ihrer Opfer billigend in Kauf (vgl. Kersten 2001, S. 1).
Der Tagesspiegel (2000) hat in seiner Ausgabe vom 14. September gemeinsam mit der Frankfurter Rundschau eine Dokumentation vorgelegt, in der er 93 Menschen aufführt, die in den zehn Jahren seit der Wiedervereinigung bis dato der rechtsextremistischen Gewalt zum (Todes-)Opfer gefallen sind. Das politische Magazin der ARD Panorama hat im Sommer 2000 sogar von 117 Todesopfern gesprochen (vgl. Jelpke 2002). Da das Bundeskriminalamt (BKA) für den gleichen Zeitraum jedoch nur 37 Personen von offizieller Seite gezählt hat, ist es seit den im September von Journalisten veröffentlichten Zahlen auf der Bundesebene zu heftigen Diskussionen gekommen.
Diese Diskrepanz zwischen den offiziellen Zahlen des Bundeskriminalamtes und den Zahlen journalistischer Recherche sind insbesondere auf unterschiedliche Definitionen des Phänomens Rechtsextremismus zurückzuführen. Nur wenn bewiesenermaßen neben der Gewaltanwendung auch die Absicht der Beseitigung der freiheitlich-demokratisch konzipierten Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland ursächlich für eine Straftat war, wurde das Delikt als rechtsextremistische Gewalttat eingestuft. Aus diesem Grund tauchten bisher eine Reihe von Gewalttaten gegen Sozialhilfeempfänger oder Obdachlose, Homosexuelle, Punks und Linke oder auch Ausländer in den offiziellen Statistiken erst gar nicht auf, da eine systemüberwindende Absicht nicht erkennbar war (vgl. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2001, S. 70).
Vor diesem Hintergrund hat die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder (IMK) am 10. Mai 2001 das neue Definitionssystem zur politisch motivierten Kriminalität (PMK) in Kraft gesetzt und rückwirkend zum 1. Januar 2001 den kriminalpolizeilichen Meldedienst Staatsschutz (KPMD - S) umgestellt (vgl. Bundesministerium des Innern 2002, S. 33). Ausschlaggebend für die Erfassung einer Straftat als politisch motivierte Kriminalität rechts ist nun nicht mehr das Extremismus-Modell[13], sondern das tatauslösende, politische Motiv des Straftäters. Straftaten, denen nicht zwingend eine gefestigte Ideologie mit der Absicht der Beseitigung der freiheitlich-demokratisch konzipierten Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu Grunde liegt, werden infolgedessen bundeseinheitlichen Themenfeldern zugeordnet (vgl. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2001, S. 71).
Unter dem Oberbegriff der politisch motivierten Kriminalität - rechts wird seitdem insbesondere zwischen rechtsextremistischen Straftaten, mit dem Ziel der Beseitigung der verfassungsmäßigen freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der Errichtung eines totalitären, national kollektivistischen Systems, und fremdenfeindlichen Straftaten unterschieden, die gegen Personen aufgrund ihrer wahrhaftigen oder scheinbaren Hautfarbe, Rasse, ethnischen Zugehörigkeit, Nationalität, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder äußeren Erscheinung gerichtet sind (vgl. Peucker, Gaßebner & Wahl 2001, S. 22f). Antisemitische Straftaten sind einer besonderen Bewertung ausgesetzt: „Ist ein solches Motiv erwiesen, muss keine systemüberwindende Absicht erkennbar sein, um als rechtsextremistisch eingestuft zu werden“ (Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2001, S. 70).
Aus Gründen des besseren Verständnisses werde ich allerdings auf den Terminus der politisch motivierten Kriminalität - rechts verzichten und an dieser Stelle weiterhin den Begriff rechtsextremistische Gewalt- und Straftaten benutzen, da ich in dieser Diplomarbeit die Bezeichnung Rechtsextremismus nicht an der Definition dieses Phänomens im Sinne des Extremismus-Modells festmache, sondern mich vielmehr auf die Rechtsextremismus-Definition nach Heitmeyer beziehe (vgl. Kap. 1 dieser Diplomarbeit). Analog hierzu werde ich Bestrebungen, denen die Beseitigung der freiheitlich-demokratisch konzipierten Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu Grunde liegt, um an deren Stelle ein meist nach dem Führerprinzip totalitäres, national kollektivistisches System zu errichten, ausdrücklich politisch motivierte rechtsextremistische Gewalt- oder Straftaten nennen.
Bevor ich auf die Entwicklung speziell politisch motivierter rechtsextremistischer Gewalt- und Straftaten in den 90er-Jahren eingehe, möchte ich einen kurzen Überblick über alle für rechtsextremistische Straftaten relevanten Strafvorschriften aus dem deutschen Strafgesetzbuch (StGB) vorlegen. Zu diesen Strafvorschriften gehören:
- Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates durch die Verbreitung von Propagandamitteln (§ 86) und Verwendung von Kennzeichen verfassungs-widriger Organisationen,
- Straftaten gegen die öffentliche Ordnung wie Hausfriedensbruch (§ 123), schwerer Hausfriedensbruch (§124), Landfriedensbruch (§ 125), besonders schwerer Landfriedensbruch (§ 125a), Bildung terroristischer Vereinigungen (§129a), Volksverhetzung (§ 130), Anleitung zu Straftaten (§130a) und Gewaltdarstellung (§ 131),
- Straftaten gegen das Leben wie Mord (§ 211), Totschlag (§ 212) und minder schwerer Fall des Totschlags (§ 213)
- Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit wie Körperverletzung (§ 223), gefährliche Körperverletzung (§ 224), schwere Körperverletzung (§ 226) und Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227),
- Sachbeschädigung wie allgemeine Sachbeschädigung (§ 303) und gemeinschädliche Sachbeschädigung (§ 304),
- Gemeingefährliche Straftaten wie Brandstiftung (§ 306), schwere Brandstiftung (§ 306a) und besonders schwere Brandstiftung (§ 306b) (vgl. Relevante Strafvorschriften aus dem Strafgesetzbuch 2001, S. 339ff).
Die Zahl der politisch motivierten rechtsextremistischen Gewalttaten stieg zu Beginn der 90er-Jahre explosionsartig an, und zwar von 178 1990 auf 849 1991 und 1.485 1992. Danach sank die Zahl von 1.322 1993 auf 784 1994 und 612 1995. Anschließend kam es wieder zu einem Anstieg von 624 1996 auf 790 1997 und danach wieder zu einem erneuten Sinken auf 708 1998 und einem erneuten Anstieg auf 746 1999 und 998 2000. Auch wenn der Stand aus dem Jahr 2000 nur noch zwei Drittel der politisch motivierten rechtsextremistischen Gewalttaten auf dem Höhepunkt der Entwicklung im Jahr 1992 ausmacht, haben sich die Zahlen dennoch auf einem verhältnismäßig hohen Niveau stabilisiert, das um ein Vielfaches höher ist als das aus dem Jahr 1990 (vgl. Abbildung 4).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Entwicklung der Straftaten mit erwiesenem oder zu vermutendem politisch motiviertem rechtsextremistischen Hintergrund 1990-2000
Grafik: Eigene Darstellung basierend auf Bundesamt für Verfassungsschutz 2001, S. 35
Die Zahl der politisch motivierten rechtsextremistischen Straftaten insgesamt stieg von 2.031 1990 auf 4.073 1991 und 7.702 1992. 1993 erreichte die Zahl der Straftaten insgesamt mit 10.561 Delikten ihren vorläufigen Höhepunkt, bevor sie auf 7.952 1994 und 7.896 1995 sank. Anschließend kam es wieder zu einem Anstieg von 8.730 1996 auf 11.719 1997 und danach wieder zu einem erneuten Sinken auf 11.049 1998 und 10.037 1999.
Ihren Höhepunkt hat die Zahl der politisch motivierten rechtsextremistischen Straftaten insgesamt im Jahr 2000 mit 15.951 Delikten erreicht. Im Vergleich zum Jahr 1990 ist die Zahl der politisch motivierten rechtsextremistischen Straftaten insgesamt innerhalb von zehn Jahren auf das Siebenfache angestiegen (vgl. Abbildung 4).
Im Jahr 2001 wurden 10.054 politisch motivierte rechtsextremistische Straftaten registriert, darunter 709 Gewalttaten (vgl. Bundesministerium des Innern 2002, S. 35). Ein Vergleich der Zahlen des Jahres 2001 mit den statistischen Angaben der Vorjahre ist allerdings aufgrund der Umstellung der Erfassungsgrundlagen rechtsextremistischer Gewalt- und Straftaten nicht zulässig (vgl. Bundesministerium des Innern 2002, S. 34).
Mit 374 Straftaten richteten sich rund 53% aller politisch motivierten rechtsextremistischen Gewalttaten gegen Fremde. 153 der Delikte (22%) richteten sich gegen (vermeintliche) Linksextremisten, 18 Gewalttaten (2%) waren antisemitisch zielgerichtet, 45 der Taten (6%) galten sonstigen politischen Gegnern und zu 119 Gewaltdelikten (17%) machte der Verfassungsschutz des Bundes, der die Zahlen vom Bundeskriminalamt erhält, keine Angaben (vgl. Abbildung 5).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Zielrichtungen der politisch motivierten rechtsextremistischen Gewalttaten im Zeitraum zwischen dem 01.01. - 31.12.2001
Grafik: Eigene Darstellung basierend auf Bundesministerium des Innern 2002, S. 39
Die in absoluten Zahlen meisten Gewalttaten mit politisch motiviertem rechtsextremistischen Hintergrund ereigneten sich mit 85 verzeichneten Straftaten in Sachsen, gefolgt von Niedersachsen (79) und Bayern mit 72 Fällen (vgl. Abbildung 6).
Abbildung 6: Politisch motivierte rechtsextremistische Gewalttaten in den Bundesländern im Zeitraum zwischen dem 01.01. - 31.12.2001
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik: Eigene Darstellung basierend auf Bundesamt für Verfassungsschutz 2001, S. 41
Werden diese absoluten Zahlen allerdings im Verhältnis zu den jeweiligen Einwohnerzahlen der Bundesländer gesehen, relativieren sich die Zahlen und es ergibt sich eine ganz andere Rangordnung (vgl. Abbildung 7).
Abbildung 7: Politisch motivierte rechtsextremistische Gewalttaten je 100.000 Einwohner in den Bundesländern im Zeitraum zwischen dem 01.01. - 31.12.2001
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik: Eigene Darstellung basierend auf Bundesamt für Verfassungsschutz 2001, S. 42
Hervorstechend ist ein deutlicher Schwerpunkt politisch motivierter rechtsextremistischer Gewalt in den fünf neuen Bundesländern. Durchschnittlich wurden dort im Jahr 2001 mit 1,57 Delikten je 100.000 Einwohner mehr als doppel so viele Gewalttaten im Vergleich zu den alten Bundesländern (0,62) verzeichnet (vgl. Bundesministerium des Innern 2002, S. 40). Auffallend ist zudem, dass das Land Mecklenburg-Vorpommern, das in den Vorjahren immer sehr weit vorne in dieser Statistik lag, für 2001 keine einzige politisch motivierte rechtsextremistische Gewalttat an das Bundeskriminalamt gemeldet hat. Winkelmann (2002) fügt hierzu an, dass Mecklenburg-Vorpommern dabei lediglich das statistische Durcheinander, welches durch das Definitionsproblem des Rechtsextremismus erzeugt werde, auf herausfordernde Weise ausnutze (vgl. S. 7).
Die Berücksichtigung des unterschiedlich hohen Ausländeranteils unter der Bevölkerung in den Ländern macht hier noch mehr deutlich, wie sehr politisch motivierte rechtsextremistische Gewalt ein ostdeutsches Phänomen ist. In den westlichen Ländern lag der Ausländeranteil am 31. Dezember 1999 zwischen 5,5% in Schleswig-Holstein und 15,4% in Hamburg. In den östlichen Ländern hingegen lag er zwischen 1,7% in Thüringen und Sachsen-Anhalt und 2,4% in Sachsen und Sachsen-Anhalt (vgl. Abbildung 8). Diese Zahlen veranschaulichen also, „dass das Ausmaß der Gewalt offensichtlich nicht durch die Zahl von anwesenden Ausländern bedingt ist“. Vielmehr dokumentieren diese Zahlen, dass es in den Ländern mit einem verhältnismäßig hohen Ausländeranteil unter der Bevölkerung zu einem verhältnismäßig niedrigen Ausmaß politisch motivierter rechtsextremistischer Gewalt kam (Pfahl-Traughber 2000, S. 11).
Abbildung 8: Der Ausländeranteil unter der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland am 31. Dezember 1999 nach Bundesländern
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik: Eigene Darstellung basierend auf Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000
Wer sind nun die Täter rechtsextremistischer Gewalt- und Straftaten und welche besonderen Merkmale lassen ihre rechtsextremistischen Delikte erkennen? Auf diese Frage gibt eine breit angelegte, systematische Auswertung von Polizeiakten durch das Deutsche Jugendinstitut e.V. (DJI), München, unter der Leitung von PD Dr. Klaus Wahl und finanziert vom Bundesinnenministerium des Innern, Auskunft[14] (vgl. Peucker et al. 2001, S. 9). Diese Polizeiaktenanalyse wurde vom Bundesministerium des Innern in Auftrag gegeben, nachdem den Daten der zuständigen Sicherheitsbehörden zufolge für das Jahr 1997 ein Anstieg politisch motivierter rechtsextremistischer, antisemitischer und fremdenfeindlicher Straftaten um insgesamt 34% gegenüber dem Jahr 1996 ermittelt worden war (vgl. Peucker et al. 2001, S. 12). Die große quantitative Basis dieser Studie resultiert aus der Einbeziehung aller polizeilichen Ermittlungsakten zu Tatverdächtigen fremdenfeindlicher, antisemitischer oder politisch motivierter rechtsextremistischer Straftaten, die zwischen dem 1. Januar 1997 und dem 31. Dezember 1997 begangen und von der Polizei erfasst wurden (vgl. Peucker et al. 2001, S. 11). Die Grundgesamtheit der Tatverdächtigen beläuft sich dabei insgesamt auf 7.126 Personen, wobei davon 3.202 den fremdenfeindlichen, 393 den antisemitischen und 3.531 den politisch motivierten rechtsextremistischen Straftaten[15] zugeordnet werden.
Von den 7.126 an die jeweils zuständigen polizeilichen Ermittlungsstellen ausgegebenen Fragebogen kamen 6.352 für die Polizeiaktenanalyse zurück, wovon 6.229 relevante Fragebogen berücksichtigt wurden, darunter 2.882 fremdenfeindliche, 311 antisemitische, 2.001 politisch motivierte rechtsextremistische Tatverdächtige ohne Propagandataten und 1.025 Tatverdächtige mit ausnahmslos rechtsextremistischen Propagandataten im Mai und August des Jahres 1997 (vgl. Peucker et al. 2001, S. 25).
Da hauptsächlich Tatverdächtige fremdenfeindlicher Straftaten Gegenstand dieser Studie sind, werde ich mich im Folgenden auf diese Tatverdächtigen rechtsextremistischer Straftaten beschränken.
[...]
[1] Der 1991 im Alter von 36 Jahren verstorbene Kühnen stammt aus gutbürgerlichen Verhältnissen, wird katholisch erzogen und ist seit seinem 15. Lebensjahr politisch aktiv. 1971 wird er Zeitsoldat bei der Bundeswehr, 1977 gründet er den Freizeitverein Hansa und wird wegen rechtsextremistischer Aktivitäten aus der Bundeswehr entlassen. Er wird Organisationsleiter der Aktionsfront nationaler Aktivisten (ANS) und entwickelt sich rasch zum führenden Kopf der Neonazi-Szene. Wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen wird er 1978 zu sechs Monaten Haft verurteilt, 1979 wegen Volksverhetzung und Verbreitung von neofaschistischen Propagandamaterialen zu weiteren vier Jahren Haft. Während der Haft verfasst Kühnen die programmatische Schrift Die zweite Revolution. Es kommt zu weiteren Verurteilungen. Nach der Haftentlassung 1982 übernimmt er wieder die Leitung der ANS. 1984 flieht er über die Schweiz und Italien nach Frankreich, wo er im Oktober in Paris festgenommen und abgeschoben wird. Während seiner 18 Jahre dauernden politischen Betätigung verbringt er insgesamt siebeneinhalb Jahre im Gefängnis. 1986 kommt es wegen seiner Homosexualität zum Bruch mit mehreren Gefolgsleuten. 1987 schreibt er Das politische Lexikon der neuen Front. 1990 verfasst er den Arbeitsplan Ost, der den Aufbau militanter rechtsextremistischer Strukturen in der DDR zum Inhalt hat.
[2] Hervorhebung im Original
[3] 23. November 1992: Yeliz Arslam und Ayse Yilmaz kommen bei einem Anschlag in Mölln (Schleswig-Holstein) ums Leben. Die Mehrfamilienhäuser, in denen sich die beiden 10- und 14-jährigen Mädchen aufhalten, wurden von zwei Rechtsextremisten in Brand gesteckt.
[4] 29. Mai 1993: Gürsün Ince (27), Hatice Genc (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genc (9) und Saime Genc (4) sterben bei einem Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen (Nordrhein-Westfalen).
[5] 11. Juni 2000: Am Pfingstwochenende 2000 wird der 39-jährige Mosambikaner Alberto Adriano in Dessau von drei jungen Männern angegriffen und brutal zusammengeschlagen. Sie geben als Motiv ihrer Tat ganz offen „Hass gegen Fremde“ an. Am 14. Juni 2000 stirbt Alberto Adriano, der seit 1988 in Deutschland lebt, an den Folgen seiner schweren Verletzungen. Er hinterlässt eine Frau und drei Kinder.
[6] Hervorhebung im Original
[7] Hervorhebung im Original
[8] Hervorhebung im Original
[9] Hervorhebung im Original
[10] vgl. hierzu auch Kap. 3 dieser Diplomarbeit
[11] Diese Definition des Rechtsextremismus ist der Bielefelder Rechtsextremismus-Studie vorangestellt. Diese Studie hat Heitmeyer (1992) mit Heike Buhse, Joachim Liebe-Freund, Kurt Möller, Joachim Müller, Helmut Ritz, Gertrud Siller und Johannes Vossen durchgeführt. Die Defintion des Rechtsextremismus geht aber einzig und allein auf Heitmeyer zurück, weshalb ich die anderen Mitarbeiter dieser Studie an dieser Stelle und im weiteren Verlauf dieser Diplomarbeit, insbesondere im 3. Kapitel, ausblende.
[12] Hervorhebung im Original
[13] vgl. hierzu Kap. 1 dieser Diplomarbeit
[14] Diese Analyse ist in vielen Gegenstandsbereichen eine Wiederholungsstudie der zu Beginn der 90er-Jahre an der Universität Trier durchgeführten Untersuchungen von Willems, Eckert, Würtz und Steinmetz (1993) sowie von Willems, Würtz und Eckert (1994), auf die ich allerdings nicht näher eingehen werde.
[15] Von diesen 3.531 politisch motivierten rechtsextremistischen Straftaten sind 1.185 reine Propagandataten, die nur für Mai und August (9. Mai-Aufmärsche von rechts und Heß-Aktionstage im August) einbezogen sind.
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