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Mehr InfosDiplomarbeit, 2001, 137 Seiten
Diplomarbeit
1,0
1. Vorwort
2. Einleitung
3. Musiksoziologie
a) Warum Musiksoziologie?
b) Aufgaben und Ziele
c) Kulturpolitische Aspekte
4. Konzepte kulturellen Konsums
A) Pierre Bourdieus „feine Unterschiede“
a) Warum Bourdieu?
b) Grundlagen
c) Kulturelle Kompetenz
d) Erwerb kultureller Kompetenz
1. Einfluß der familiären Herkunft
2. Einfluß der Institution Schule
e) Theorie der Distinktion
1. Exkurs: 1. Legitimer Geschmack
2. Mittlerer Geschmack
3. Populärer Geschmack
2. Habitus
3. Distinktion
f) Kulturpolitische Aspekte
B) Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“
a) Warum Schulze?
b) Grundlagen
c) Theorie der Distinktion
1. Semantisches Paradigma
2. Stil
3. Genuß
4. Distinktion
5. Lebensphilosophie
d) Alltagsästhetische Schemata
1. Hochkulturschema
2. Trivialschema
3. Spannungsschema
e) Soziale Milieus
1. Exkurs: Zur Rolle der Semantik
2. Niveaumilieu
3. Harmoniemilieu
4. Integrationsmilieu
5. Selbstverwirklichungsmilieu
6. Unterhaltungsmilieu
f) Theorie der Szene
1. Hochkulturszene
2. Neue Kulturszene
g) Kulturpolitische Aspekte
1. Historische Entwicklung
2. Öffentliche Wahrnehmung
C) Exkurs: Albrecht Göschels „Generationenmodell“
a) Grundlagen
b) Generationen im Wandel
1. 1930er Jahrgänge
2. 1940er Jahrgänge
3. 1950er Jahrgänge
4. 1960er Jahrgänge
c) Kulturpolitische Aspekte
5. Die kulturpolitischen Auswirkungen in Österreich
a) Grundlagen
1. Soziologische Analyse der österreichischen Kulturpolitik
2. Grundlagen
3. Gründe für ein staatliches Engagement
b) Historischer überblick
1. Nachkriegsjahre
2. 1960er
3. 1970er
4. 1980er
5. 1990er
c) Momentaufnahme
1. Probleme
2. Aufgaben / Forderungen an die Kulturpolitik
d) Musik und Politik
1. Musikpolitische Situation
6. Conclusio
7. Literaturverzeichnis
Die am häufigsten gestellte Frage im Zuge der Vorbereitung meiner Diplomarbeit war jene nach dem musikwissenschaftlichen Bezug. Ich möchte dieses Vorwort deshalb vor allem dafür nützen, zu klären, in welchen Kompetenzbereich ein derartiges Thema fallen könnte und weshalb ich mich dafür interessiere.
Meiner Meinung nach ist der musikwissenschaftliche Bezug eindeutig vorhanden, denn diese Arbeit dreht sich zentral um das Phänomen kulturellen Konsums, der natürlich musikalischen Konsum inkludiert; es geht um die Interpretation soziologischer Konzepte und ihrer kulturpolitischen Folgen von einem musiksoziologischen Standpunkt aus. Kunsthistoriker würden sich auf dieselbe Art und Weise auf die Kunstgeschichte beziehen, Soziologen (abgesehen von Musik- oder Kultursoziologen) würden den kulturellen Aspekt, um den es mir vorrangig geht, ausklammern, Historiker würden sich lediglich mit den historischen Auswirkungen dieses oder jenes Ergebnisses der Untersuchungen beschäftigen, aktive Musiker würden sich aufgrund der oftmals angesprochenen gesellschaftlichen Wertschätzung und Bedeutung ihres Berufsstandes höchst geehrt fühlen.
Seit Beginn meines Studiums haben mich immer wieder die gesellschaftlichen Auswirkungen diverser musikalischer Phänomene interessiert, zwar durchaus im Rahmen der historischen Musikwissenschaft, das heißt ihrer Zugänge und Methoden, aber dennoch deutlich darüber hinausgehend. Ich war (und bin), ganz allgemein formuliert, neugierig auf die Beziehung zwischen der Musik und den Menschen – dies war einer der wichtigsten Gründe, mich für Musikwissenschaft (mit ein wenig Soziologie in der Fächerkombination) zu entscheiden. Was bezwecken Komponisten und Musiker, wenn sie Musik schreiben oder interpretieren? Warum hören wir Musik? Was kann sie in uns, was auf gesellschaftlicher Ebene bewirken? Oder hat sie gar keine derartigen Konsequenzen und sollte man sich als Musikwissenschaftlerin doch besser auf die Analyse rein ästhetischer Phänomene beschränken? Interpretieren derartige Ansätze demnach zu viel in die Musik hinein? Legt man Bedeutungen in sie, die in Wirklichkeit nicht existieren?
Ich bin auch gegen Ende meines Studiums nach wie vor davon überzeugt, daß Musik – abseits aller politischen und künstlerischen Utopien – eine wichtige gesellschaftliche Kraft darstellt und es absolut in den Möglichkeiten der Musikwissenschaft liegt, dem nachzuspüren. Mit der intensiven Beschäftigung mit einem Thema dieses Bereiches im Rahmen der Diplomarbeit habe ich meiner Neugierde ein Stück weit nachgegeben und versuche, ihre Bestätigung, Vertiefung oder im Gegenteil, die Erkenntnis mich geirrt zu haben, zu finden.
Die Frage nach (musik)-kulturellen Rezeptionshaltungen und ihren kulturpolitischen Auswirkungen gehört nicht unbedingt zum Kernbereich der Musikwissenschaft. Und dennoch finde ich – wie bereits erwähnt – daß es legitim ist, sich in einem musikwissenschaftlichen Kontext – der in diesem Fall sehr musiksoziologisch ausgerichtet ist – damit zu beschäftigen. Denn in welchem Zusammenhang Menschen Musik produzieren und rezipieren, ihre Motivationen dies zu tun oder zu unterlassen sowie mögliche dahinterliegende (unbewußte) Strategien – diese Themen betreffen nicht nur die Musikwissenschaft als solche, sondern haben weitreichende Auswirkungen im gesellschaftlichen wie politischen Alltag. Man könnte diese Fragen daher durchaus im Sinne einer angewandten Musikwissenschaft verstehen, die sich fernab des Studiums vergilbter Handschriften mit aktuellen Tendenzen beschäftigt und zu einer möglichen Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Verständnisses von Musik und ihrer Akzeptanz (gerade auch in Zeiten des Sparbudgets) beitragen könnte.
Ich möchte daher an den Anfang dieser Arbeit ein eher allgemein gehaltenes einleitendes Kapitel über die Musiksoziologie als Teil der Musikwissenschaft stellen, das quasi als eine Art Präludium erläutern soll, weshalb sich eine musikwissenschaftliche Diplomarbeit in diesem nicht ganz so naheliegenden Rahmen bewegt, auf welche musiksoziologischen Strömungen ich mich überwiegend beziehe und bereits erste Verknüpfungen sowohl zum ersten soziologischen, als auch zum zweiten kulturpolitischen Abschnitt herstellt.
Im ersten Abschnitt der Arbeit möchte ich drei wesentliche (kultur-)soziologische Konzepte kulturellen Konsums vorstellen: Pierre Bourdieus „feine Unterschiede“, Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ sowie als Exkurs angehängt, Albrecht Göschels „Generationenmodell“. Wiederum stellt sich die Frage, was diese Konzepte mit Musik und Musikwissenschaft zu tun haben.
Bourdieus Untersuchungen bilden einen wesentlichen Ausgangspunkt dieser Arbeit, da Schulze (wie auch andere Autoren, die zu Wort kommen werden) immer wieder auf dessen Ergebnisse Bezug nehmen, sie kommentieren, weiterentwickeln oder sich davon distanzieren. Selbst Kritiker müssen sich eingehend damit beschäftigen. Man kann daher getrost trotz der nicht mehr ganz aktuellen Resultate von einem wissenschaftlichen Dauerbrenner sprechen. Angefangen von Silbermann ganz zu Beginn bis hin zu den kulturpolitischen Statements und Konzepten gegen Ende der Arbeit lassen sich immer wieder wichtige Querverbindungen herstellen, weshalb bereits an dieser Stelle einer kurzen Einführung in seine Ideen ein wenig mehr Raum gewidmet werden soll.
Bourdieu versucht mit Hilfe seiner umfassenden Studie Kants Theorie vom „interesselosen Wohlgefallen“ bei der Rezeption von Kunst – der auch die Musikwissenschaft viel abgewinnt – zu widerlegen. Seiner Meinung nach gelingt es dem Bürgertum dank des Mediums der autonomen Kunst sich eine eigene Identität zu erwerben und diese dann als Kampfmittel zur Gewinnung politischer Hegemonie zu verwenden, „Kunst als Medium der Emanzipation des Bürgertums, damit zugleich aber auch Bildung und Kultur als Medien der Macht gegenüber der sich konstituierenden Arbeiterschicht und dem Adel.“[1] In diesem Sinne versucht Bourdieu zu beweisen, daß es erstens einen reinen, unverstellten Blick auf das autonome Kunstwerk gar nicht gibt, da jede Rezeption sozial geformt (vielleicht sogar determiniert) ist, wobei die (kulturelle) Bildung in Form des Bildungskapitals eine entscheidende Rolle spielt. Zweitens sind Kultur und Kunst laut Bourdieu keine Erscheinungsformen jenseits der Gesellschaft, sondern bestimmen die Klassenlage speziell der herrschenden Klasse entscheidend mit: Der Kampf um gesellschaftliche Positionen ist ein Konflikt um Unterschiede, Kunst hat darin die Funktion ein Distinktionsmittel zu sein. Ein entscheidender Faktor in dieser ständig tobenden, ästhetisch-symbolischen Auseinandersetzung ist die Erziehung, da sie von klein auf die entsprechenden ästhetischen Codes („kulturelle Kompetenz“) vermittelt, die später in der Schule vertieft werden. Der soziale Gebrauch von Kunst ist folglich höchst brisant und daher ein genuiner Gegenstand der Politik: Kunst und Kultur werden zu einem Praxisfeld von öffentlichem Interesse.
Bourdieu bleibt mit dieser Deutung kulturellen Konsums bei weitem nicht alleine; frühere wichtige Distinktionsideen finden sich bereits bei Paul Veblen. Auch wenn ökonomische Entwicklungen künstlerische nicht „erklären“ können, so lauten seine Schlußfolgerungen, ist es dennoch „zweckmäßig, auch die unmittelbaren Konsequenzen zu erschließen, die sich aus der jeweiligen ökonomischen Struktur der Gesellschaft für den Lebensstil und damit für das künstlerische Tun ergeben.“ Einen Versuch dieser Art stellt Veblen in seiner „Theorie der feinen Leute“ an, wo er feststellt, daß zum demonstrativen Müßiggang auch ein ebensolcher geltungssüchtiger Konsum gehört, wobei es sich dabei vorzugsweise um nichtmaterielle Güter handelt; „Derartige Beweise sind zum Beispiel quasi-gelehrte und quasi-künstlerische Werke sowie die Kenntnis von Erscheinungen und Vorfällen, die nicht unmittelbar zur Förderung des Lebens beitragen. Dazu gehört unter anderem in unseren Tagen die Kenntnis toter Sprachen oder der okkulten Wissenschaften, eine fehlerfreie Orthographie, die Beherrschung von Grammatik und Versmaßen, die Hausmusik und andere häusliche Künste [...]. “[2]
Auch Georg Bollenbeck konstatiert in einer Studie über Bildung und Kultur im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts ähnliches: Mit Kunst und Kultur wird Politik betrieben. So versucht beispielsweise jener Teil des Bürgertums, der keinen ökonomischen Einfluß besitzt, Macht und Hegemonie auf kulturellem Wege zu erzielen. Über den Kultur- und Bildungsdiskurs konstituiert sich eine einflußreiche gesellschaftliche Gruppe, das Bildungsbürgertum, das auf diesem Wege um gesellschaftliche Rangordnungen kämpft – die Ähnlichkeiten zu Bourdieus Theorie sind auffällig.[3]
Das zweite ausführlich vorgestellte Konzept ist jenes der „Erlebnisgesellschaft“. Gerhard Schulze versucht darin – grob gesprochen – eine Umlegung und Weiterentwicklung der Bourdieuschen Thesen. Zwischen den Untersuchungen Bourdieus und Schulzes liegt ein Zeitraum von mindestens zwanzig Jahren, in denen ein umfassender Wertewandel stattgefunden hat: traditionelle Orientierungen wie Arbeit, Fleiß und Askese wurden zugunsten von Freiheit, Freizeit, Lebensstilinszenierung und Genuß aufgegeben; eine neue „Erlebnisorientierung“ hat sich entwickelt – nun zählt das Ereignis. Statt des Gebrauchswertes richtet man sich immer stärker nach dem Erlebniswert diverser Produkte, Entscheidungen werden nicht mehr nach dem eigentlichen Zweck, sondern oft aufgrund des Images eines Produktes gefällt. In dieser Situation völlig neuer Wahlfreiheit muß vermehrt auf die ästhetischen Einstellungen des individuellen Geschmacks zurückgegriffen werden – wodurch läßt sich dieser jedoch beeinflussen? Wie konstituiert er sich?
Auch die Struktur der Gesellschaft hat sich grundlegend gewandelt, es scheint immer weniger angebracht, von sozialen „Klassen“ im traditionellen Sinne zu sprechen, statt dessen charakterisieren sich soziale Großgruppen mit kollektiven Handlungsmustern heraus. Die „alltagsästhetischen Schemata“ dieser Milieus stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen Schulzes, der daran angepaßt, ein neues Konzept der soziologischen Betrachtungsweise kultureller Verhaltensweisen entwickelt. Nicht mehr an Klassen oder Schichten gebundene Wertvorstellungen beanspruchen Legitimität, sondern verschiedenste, grundsätzlich als gleichwertig einzustufende Lebensstile, die sich durch spezifische kulturelle Verhaltensmuster unterscheiden und nebeneinander koexistieren beziehungsweise auch konkurrieren. Gilt Bourdieus Hierarchie des Geschmacks noch? Spielen Kunst und Kultur weiterhin dieselbe Rolle als Distinktionsmittel im symbolischen Kampf um gesellschaftliche Rangordnungen? Oder hat sich ihre Funktion verändert? Wenn ja, wie? – Mit den gesellschaftlichen Veränderungen hat sich nämlich auch das Bild von Kunst und Kultur – entscheidend beeinflußt durch die Weiterentwicklung der Medien – gewandelt. Heutzutage gibt es eine Vielzahl unterscheidbarer Verständnisweisen von Kultur, so daß sich immer öfter die Frage stellt, welche Kulturvorstellung (beispielsweise von der Kulturpolitik) denn überhaupt „bedient“ werden soll? Doch nach wie vor gilt, daß „‚Kultur’ nicht frei über der Gesellschaft schwebt, sondern sich in der Praxis von Menschen, in ihren Denkweisen, Lebensformen und Werthaltungen manifestiert und ständig reproduziert.“[4] Kunst und Kultur wird demnach weiterhin ein hoher Stellenwert zugemessen, was die Kulturpolitik zu dementsprechenden Handlungen herausfordert; der Umstand, daß die moderne Gesellschaft jedoch kein einheitliches Konzept von Kultur mehr hat, verkompliziert sie.[5]
Albrecht Göschels „Generationenmodell“ bringt einen weiteren wichtigen Aspekt ein, der sowohl an Bourdieu als auch an Schulze anknüpft, weshalb ich seine Ausführungen in einem Exkurs kurz vorstellen möchte. Für Göschel spielt die Generationenabfolge die entscheidende Rolle bei der kulturellen Prägung der Gesellschaft, wobei einerseits kulturelle Orientierungen innerhalb derselben Schicht weitergegeben werden, andererseits aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Umgebungsbedingungen auch neue Einstellungen entstehen, die zu Konflikten mit den vorhergehenden führen. In weiterer Konsequenz bedingen die unterschiedlichen Zugänge einen jeweils modifizierten Kulturbegriff und damit auch stark differierende Erwartungshaltungen an kulturelle Leistungen oder Einrichtungen – Veränderungen, denen eine aufmerksam agierende Kulturpolitik Tribut zollen muß, will sie nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeiregieren.
Womit die Brücke zum zweiten Abschnitt der Arbeit, den kulturpolitischen Auswirkungen der zuvor beschriebenen Konzepte geschlagen wäre. Daß Kultur (natürlich immer auch im engeren Sinne von Kunst verwendet) seit jeher eine enge, wenn auch nicht immer glückliche Beziehung zur Politik hat, steht fest. Auch bei allen drei Autoren wird auf die kulturpolitische Konsequenzen ihrer Arbeit mehr oder weniger explizit verwiesen, Schulze und Göschel widmen diesem Thema jeweils eigene Kapitel, was die Wichtigkeit dieser Kooperation zusätzlich herausstreicht.
Ich möchte in diesem zweiten Abschnitt zeigen, welche Verbindungen sich zwischen der österreichischen Kulturpolitik und den diesbezüglichen Aussagen der Studien herstellen lassen. Auf welche Weise werden Kunst und Kultur produziert und rezipiert und welche Rückschlüsse lassen sich daraus für die Kulturpolitik ziehen? Ist das langjährige utopische Programm der „Kultur für alle“ – abseits von finanziellen Problemen – verwirklichbar? Kann allen Menschen derselbe Zugang zu Kunst und Kultur ermöglicht werden? Oder ist der aufklärerische Anspruch der Kulturpolitik von vorneherein zum Scheitern verurteilt? Kann Kulturpolitik die Gesellschaft reformieren? Wie kann sie auf die Veränderungen am Erlebnismarkt reagieren ohne selbst ein Teil davon zu werden? Hat Kulturpolitik überhaupt die Aufgabe, sich in diese Beziehung einzumischen? Welche Möglichkeiten hat sie, sich angesichts eingeengter budgetärer Möglichkeiten trotzdem weiter zu entwickeln? Wo liegen die Grenzen des Machbaren?
Eine kurze soziologische Analyse der österreichischen Kulturpolitik, möglichst neutral ohne politische Polemik, soll gleich zu Beginn eine Verbindung vor allem zu den soziologischen Betrachtungen Schulzes schaffen, der ausführlich auf die Kulturpolitik seines Heimatlandes Deutschland eingeht. In beiden Kapiteln werden Modelle sowohl des Verhaltens des Publikums, als auch des kulturellen Sektors im allgemeinen und der Kulturpolitik im speziellen beschrieben, um ein genaues Verständnis der spezifischen Abläufe auf beiden Seiten zu ermöglichen. Entspricht das vom Staat geförderte Angebot überhaupt den Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung? Wie hat sich das Publikum in den letzten Jahren entwickelt? Welche neuen Möglichkeiten der Kunstausübung können in den Kanon der staatlichen Subventionen aufgenommen werden? Mit welchen Problemen hat sie aktuell zu kämpfen?
Darauf aufbauend folgt eine ausführliche Darstellung der historischen Entwicklung der österreichischen Kulturpolitik, in der viele Wurzeln für aktuelle Tendenzen zu suchen sind. Die für meine Arbeit interessante Phase der Kulturpolitik beginnt mit dem Projekt der Restaurierung der Vorkriegsverhältnisse in der zweiten Hälfte der 40er Jahre bzw. den 50er Jahren. Mit wehmütigem Blick wurde versucht, an die ehemalige Vormachtstellung wieder anzuknüpfen, aktuelle avantgardistische Tendenzen blieben ausgeschlossen. Den steigenden Unmut unter den Künstlern machte sich die Sozialdemokratie ab den späten 60er Jahren zunutze, die Kulturpolitik in der Folge als Teil der Sozial- und Gesellschaftspolitik verstand und sich das Motto „Kultur für alle“ auf die Fahnen heftete. Kunst und Kultur sollten allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen zugänglich werden, viele Initiativen zum Abbau des – auf dem elitären Kunstverständnis – fußenden kulturellen Verhaltens wurden gesetzt. Diesem Aufschwung der Kulturpolitik setzten die Einsparungsmaßnahmen ab Mitte der 90er Jahre, verbunden mit einem gewaltigen Mangel an strukturellen Reformen ein vorläufiges Ende.
Die darauf basierende momentane Lage wird im anschließenden Kapitel mit Blick auf Probleme, Aufgaben sowie Forderungen an eine fortschrittlich orientierte Kulturpolitik, analysiert. Können die alten Utopien noch aufrecht erhalten werden? Haben Kunst und Kultur im Zeitalter der MacDonaldisierung noch immer denselben Stellenwert in der Bevölkerung? Welchen Anspruch auf kulturpolitische Aufmerksamkeit können Massenkultur und kulturindustrielle Phänomene erheben? Welche Rolle spielt die Musik-Politik im Rahmen der Kulturpolitik?
Um dieses Verhältnis zwischen Musik und Politik ein wenig detaillierter zu beschreiben und explizit auf die Probleme dieses Bereiches eingehen zu können, widmet sich ein eigenes Kapitel diesem Thema. Ist die Trennung von U- und E-Musik noch zeitgemäß? Was kann der Globalisierung auf dem kommerziellen Sektor entgegengehalten werden (Stichwort Austropop)?
Vielleicht können nicht alle aufgeworfenen Fragen im Rahmen dieser Diplomarbeit beantwortet werden, eindeutig steht für mich jedoch die Tatsache fest, daß der musikwissenschaftliche, in diesem Fall musiksoziologisch ausgerichtete Standpunkt, ein sehr geeigneter zu sein scheint, um sich an diesen Themenkomplex heranzuwagen.
„Die Musik reiht sich (so) in das Gesamtgebiet geistiger Produktionen und zeigt sich wie diese alle abhängig von sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen aller Art. […] Die Musiksoziologie geht dabei von der Erkenntnis aus, daß jene sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen die Musikübung nicht nur äußerlich beeinflussen und färben, sondern ihrem innersten Wesen nach bestimmen.“[6]
„Soziale, politische und ökonomische Bedingungen aller Art“ sind es also, die schon für Guido Adler die Bedingungen der Musikübung ihrem innersten Wesen nach bestimmen. Diese vor mehr als 100 Jahren getätigte Feststellung trifft zentral auf die Thematik meiner Arbeit zu, bei der es ja darum gehen wird, zu klären, unter welchen Bedingungen Musik rezipiert wird und ob bzw. welche kulturpolitischen Auswirkungen die verschiedenen Rezeptionshaltungen haben.
Wichtig erscheint mir dabei vor allem, die für mich essentiellen Definitionen und Konzepte der musiksoziologischen Disziplin auf ihre Relevanz in bezug auf meine Fragestellungen und Inhalte hin zu untersuchen. Autoren, deren Schwerpunkt beispielsweise auf kommunikationstheoretischen Theorien liegt, kamen daher für mich nicht in Betracht. Meine Auswahl basiert primär auf Kurt Blaukopf, dem Begründer der Wiener Schule der Musiksoziologie, der in wichtigen Punkten einen „ganzheitlichen“ – und für mich daher den interessantesten Ansatz vertritt. Ähnliches gilt auch für den zweiten vorrangig zitierten Theoretiker, Alphons Silbermann.
Sucht man nach einer eindeutigen Definition dieser Disziplin, nach allgemein akzeptierten Richtlinien, begegnet man einer verwirrenden Vielfalt an unterschiedlichsten Strömungen und Vertretern diversester Modelle. Ganz alleine bin ich mit meinen Orientierungsproblemen nicht, wie ein Blick auf den Eintrag „Musiksoziologie“ in der neuen MGG beweist: „Eine umfassend akzeptierte Definition ihrer Zugänge und Methoden existiert derzeit nicht. Wachsender Konsens jedoch entsteht hinsichtlich ihrer Erkenntnisinteressen und Erkenntnisgegenstände. Drei große Themenkreise […]: Fragen nach der Funktionalität von Musik, ihrer sozialen Strukturiertheit und ihrer Bedeutungsbildung.“ Von speziellem Interesse für mich sind vor allem die folgenden Ausführungen: „Unter funktionalem Aspekt zu sehen sind die sozialen Voraussetzungen und Umgebungsbedingungen der Musikübung: ihre Anlässe, Motive, Ziele, Wirkungen, ‚Effekte’; ihre Trägerschichten; der soziale Status der Musizierenden; der Einfluß von Machtinstanzen und gesellschaftlichen Institutionen; die Rückkoppelung zwischen Musik und verschiedensten anderen Sozialbereichen (Arbeitswelt, Politik, Bildungswesen, Wissenschaft usw.).“[7] Und auch im Grove finden sich unter dem Stichwort „Sociology of music“ mehrere Zugänge, besonders wichtig ist für meine „Bedürfnisse“ die Feststellung, “It examines all relationships between music and society, notably the ways in which musical products influence social standards, views and behaviour, and also the ways in which social behaviour and social forms affect the special forms and idioms of musical production. […] The sociology of music differs from traditional musicology in that it regards the musical work not as its ultimate object of study but as a historically specific case whose rules do not govern musical production as a whole.” Ein wichtiges Beschäftigungsfeld in Hinblick auf meine Arbeit wird hier – im Gegensatz zum MGG-Artikel – sehr wohl angesprochen, “Unlike traditional musicology the sociology of music does not recognize ‘aesthetic’ differences between art music, folk music and the more recent phenomenon of light or popular music; it sees these categories from the viewpoint of social history, and investigates the conditions under which certain social classes and strata (for example, bourgeoisie and petty bourgeoisie) produce and consume different musical idioms and forms. The sociology of music explores connections between differences in taste and the relationship of the various classes to the process of production, rather than (as in traditional musicology) responding by setting aesthetic standards and making evaluations of the tastes themselves. In analysing the social causes of differing tastes or aesthetic views both historical and sociological methods are called for”.[8]
Musiksoziologie erforscht demnach – ganz in Adlers Sinn – die „sozialen Voraussetzungen und Umgebungsbedingungen der Musik“, den „Einfluß von Machtinstanzen” sowie diverse Rückkoppelungen. Sie beschäftigt sich weiters mit den Bedingungen, unter denen, in den einzelnen sozialen Klassen Musik produziert und konsumiert wird und mit dem Verhältnis von musikalischem Geschmack bzw. Verhalten in und zwischen den verschiedenen Klassen. Nach diesem Verständnis von Musiksoziologie könnte man fast so weit gehen, Bourdieus „feine Unterschiede“ in dem für mich wichtigen Kontext als zumindest kultursoziologische, wenn nicht sogar musiksoziologische Arbeit zu definieren.
Was will diese Musiksoziologie erreichen? Worum geht es ihr?
Nach Kurt Blaukopf, einem ihrer wichtigsten Vertreter, dient Musiksoziologie einer „Sammlung aller für die musikalische Praxis relevanten gesellschaftlichen Tatbestände, Ordnung dieser Tatbestände nach ihrer Bedeutung für die musikalische Praxis und Erfassung der für die Veränderung der Praxis entscheidenden Tatbestände.“ Nicht vom Kunstwerk an sich, sondern von der Musik als gesellschaftlichem Handeln wird ausgegangen – was somit auch den grundlegenden Unterschied zur Musikwissenschaft von vorneherein festlegt.[9] Diese „relevanten gesellschaftlichen Tatbestände“ stellen sich in der Realität völlig unterschiedlich dar und bedingen daher auch verschiedenste musiksoziologische Ansätze:[10] Wenn Musik ein Aspekt des menschlichen und sozialen Lebens ist, dann will Musiksoziologie diesen Aspekt in seiner gesamten Bedeutungsvielfalt verstehen. Wenn Musik eine soziale Aktivität ist, beschäftigt sich Musiksoziologie damit, die wesentlichen Formen musikalischer Aktivität und die spezifischen sozialen Gruppen festzustellen, die sich um eine gewisse musikalische Form scharen; die Funktionen der Musik werden erforscht wie auch die Natur des Prozesses, durch den sich Musik entwickelt (hat). Wenn Musik im Mittelpunkt der Beziehungen von Mensch zu Mensch steht, also ein Verhalten von Mensch zu Mensch hervorruft, dann definiert sich Musiksoziologie als Studium der Effekte der Musik auf das soziale Leben der Menschen, des Einflusses der Musik auf Gruppenbildung, -berührung, -konflikt, der Entwicklung und Unterschiedlichkeit sozialer Attitüden und Muster durch die Musik, der Bildung, des Wachstums und Niederganges sozio-musikalischer Institutionen sowie typischer Faktoren und Formen sozialer Organisationen, die Musik beeinflussen. Wenn Musik ein lebendiger und gegenwärtiger Prozeß ist, dann widmet sich Musiksoziologie dem sich fortwährend verändernden Verlauf ihres Werdens als Interrelation zwischen Musik und Gesellschaft, unter spezieller Berücksichtigung des dadurch hervorgerufenen interaktionellen Verhaltens. Wie später noch zu zeigen sein wird, treffen alle vier Punkte auf die Inhalte und Fragestellungen meiner Arbeit vollinhaltlich zu.
Kurt Blaukopf führt weiter aus, daß die Analyse kultureller Verhaltensweisen zu den eigentlichen Anliegen der Musiksoziologie gehört; „Als Verhalten werden die beobachtbaren Handlungen und Unterlassungen von Menschen verstanden. Die Soziologie strebt an, Regelmäßigkeiten des kulturellen Verhaltens aufzuweisen, denn aus diesen Regelmäßigkeiten ergeben sich die für jede gesellschaftliche Struktur charakteristischen Verhaltenserwartungen, das heißt die als verbindlich aufgefaßten Regeln auch des musikalischen Verhaltens. Die Aufgabe der Musiksoziologie erblicken wir – einem Grundgedanken Max Webers folgend – darin, musikalisches Handeln als soziales Handeln deutend zu verstehen und dadurch in seinem Ablauf ursächlich zu erklären. Als musikalisches Handeln könnte, der allgemeinsten Bestimmung nach, das auf die Erzeugung von Schallereignissen gerichtete Handeln mit einem auf das Verhalten anderer intendierten Sinn zu verstehen sein.“[11] Musikalische Verhaltensweisen, musikalische Verhaltensmuster, musikalische Verhaltenserwartungen können unter dem Begriff „musikalische Praxis“ zusammengefaßt werden und bilden somit das Hauptbetätigungsfeld der Musiksoziologie, die materielle wie geistige, wirtschaftliche wie politische Bestimmungsstücke eben dieser musikalischen Praxis aufspüren will[12] und versucht, Produktion und Reproduktion von Musik im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu begreifen.[13]
Alphons Silbermann wiederum bezeichnet das Studium der Musiksoziologie als Wissenschaft, welche „ die Bedingungen und Formen der Evolution gewisser sozio-musikalischer Muster über einen gewissen Zeitablauf hin betrachtet“ und weiters bestrebt ist, „die Existenz und Verschiedenheit sozio-musikalischer Muster festzustellen, sie in ihrem sozio-psychischen Zusammenhang unterzubringen und ihre Bedeutungen in Bezug auf die Totalkultur zu erkennen.“ Als weiteren wichtigen Ansatzpunkt musiksoziologischen Forschens sieht er die Möglichkeit, „die diversen sozio-musikalischen Muster gegenüberzustellen und zu vergleichen, um Tragweiten für Zwecke sozialer Anpassung in Gegenwart und Zukunft zu erkennen.“ Musiksoziologie besteht für ihn demnach aus fünf entscheidenden Punkten; 1. der „ allgemeinen Struktur-Funktion-Charakterisation der sozio-musikalischen Organisation als einem Phänomen, das von der Interaktion von Einzelwesen in Gruppen, zur Beschaffung ihrer Bedürfnisse, herrührt; 2. Dem Erfassen der Beziehung und dem Verhältnis der sozio-musikalischen Organisation zu sozio-kulturellen Veränderungen; 3. Der strukturellen Analyse sozio-musikalischer Gruppen unter dem Aspekt der funktionellen Interdependenz ihrer Mitglieder, ihr Verhalten, die Bildung und Auswirkung von Rollen und Normen und Kontrollausübung; 4. Einer Gruppentypologie, basierend auf Funktionen; 5. Der praktischen Voraussicht und Planung grundlegender Veränderungen in Bezug auf die Musik, ihr Leben und ihre Wirkekreise.“[14]
Nachdem die Definitionen des vorangegangenen Kapitels darlegen, was die Musiksoziologie eigentlich ist, weshalb ich mich auf einen musiksoziologischen Kontext beziehe und auf welchen, geht es nun vielmehr daran zu klären, mit welchen inhaltlichen Schwerpunkten sich Musiksoziologie konkret beschäftigt – was sind ihre Aufgaben und Ziele, was will sie erreichen?
Musik, von einem musiksoziologischen Blickwinkel aus betrachtet, stellt in der Hauptsache ein soziales Handlungsfeld dar, sie wird von Menschen gemacht, enthält Kommunikation zwischen Komponisten, Interpreten und Hörer, berührt die Menschen in ihrem Leben und wird dadurch zu einem sozialen Phänomen, das in vielfältigster Weise in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Aufgrund ihrer Rolle, ihrer Mission, begnügt sich Musik erstens nicht länger mehr damit, von einem kleinen Kreis gebildeter Hörer geliebt zu werden und hat somit die einstige exklusive Intimität und Zurückhaltung verlassen, um öffentlich und populär zu werden. Zweitens wurde bereits in der Vergangenheit die Essenz der Musik aufgrund ihrer Konstitution sowie ihrer Natur mehr und mehr zur Gesellschaft – heute ist Musik selbst Masse, während sie in der Vergangenheit Individuum war.[15] Nachdem Kunst, wie von Silbermann einleuchtend argumentiert wird, eine soziale und gemeinschaftliche Unternehmung ist, steht sie nicht autonom in der Gesellschaft da, sondern bildet „eines der wirksamsten Mittel sozialer Kontrolle und Orientierung.“[16] Diese Aussage Silbermanns ist einer der Schlüsselsätze dieser Arbeit, wie später noch zu zeigen wird, geht es vor allem Bourdieu darum, diese Mechanismen der sozialen Kontrolle durch Kunst- und Musikrezeption aufzuzeigen. Natürlich wirft diese Feststellung auch in bezug auf kulturpolitische Handlungsweisen einige Fragen auf, beispielsweise ob Kulturpolitik mittels großzügiger Unterstützung nicht von der sozialen Wirksamkeit der Musik kräftig mitprofitieren will.
Eine wichtige Antwort auf die Frage, wo konkrete Anwendungsfelder und damit in weiterer Folge die verschiedenen Wirkungsweisen der Musiksoziologie liegen, liefert ebenfalls Silbermann: „So ist es das erste Ziel der Musiksoziologie, den dynamischen Charakter der sozialen Praxis ‚Musik‘ zu demonstrieren. Hierzu bedarf es einer Analyse der in ihrem Zusammenhang gesehenen Formen des musikalischen Lebens, einer Analyse, die nicht nach denjenigen spezifischen Werturteilen geschieht, die die Mitglieder jeder Gesellschaft ihrer besonderen Lebensform unterstellen, sondern nach der Konzeption der funktionellen Beurteilung. Dadurch erreichen wir das nächste Ziel der Musiksoziologie: einen allgemein verständlichen, überzeugenden und gültigen Annäherungsweg an die Musik; denn wir lernen wie die Dinge zu dem wurden, was sie sind und erkennen die Veränderungen, welche stattfinden und stattgefunden haben. Endlich können wir dann der Musiksoziologie das Ziel zukommen lassen, das einer jeden Wissenschaft zukommt: Gesetze der Vorhersage zu entwickeln, die es uns ermöglichen zu sagen, daß, wenn dieses oder jenes geschieht, wahrscheinlich dies oder das folgen wird.“[17] Musiksoziologie will des weiteren erklären, wovon Musik lebt und muß daher die sozialen Beziehungen der Menschen, die sich um das Musikerlebnis gruppieren, aufzeigen. Letztendlich will sie ein vollständigeres Verständnis des Verhaltens der Menschen zueinander und zum Musikerlebnis erlangen. Dafür muß das Individuum immer im Zusammenhang mit der sozio-musikalischen Gruppe, zu der es gehört, gesehen werden, denn erst hinter der sozialen Interaktion liegen die eigentlichen kulturellen Werte verborgen.[18] Das Endziel der Musiksoziologie liegt schließlich darin, die Zustände des sozio-musikalischen Lebens zu erkennen, zu planen und zu verbessern. Sie will jegliche Facette der musikalischen Gesellschaft kennen, kümmert sich um die sozialen Prozesse und analysiert die Phänomene der sozialen Interaktion und Interrelation, ohne das Studium von Attitüden und Persönlichkeiten im Verhältnis zu Gesellschaft und Kultur oder gar das Kollektivverhalten zu vernachlässigen. Für Musiksoziologie wesentlich sind soziale Disorganisation, soziale Veränderungen und Wandlungen.[19] Gerade diese sozialen Implikationen der Kunst werden heutzutage von immer mehr Seiten als interessant erachtet, von den jeweiligen konservativen Lagern jedoch heftig bekämpft, denn für sie steht das Kunstwerk im Mittelpunkt des Interesses, nicht das sozio-theoretische Wissen um Mensch und Gesellschaft im Feld der Künste.[20]
Da sich Umwelt und Gesellschaft ständig ändern und weiterentwickeln, scheint es mir durchaus legitim, gerade in diesem Kontext die Frage nach neuen, aktuellen Aufgaben zu stellen. Antworten finden sich in vielfältiger Weise, vor allem auch in Bezug zum Thema meiner Arbeit. Fragen der Kultur- und Kunstförderung – die ja in allen Staaten betrieben wird – müssen neu in den musiksoziologischen Fragenkatalog aufgenommen werden. Wichtig ist dabei vor allem die Suche nach Maßnahmen, die den (allgemeinen) Zugang zur Kunst erleichtern sowie die Teilnahme der Menschen am kulturellen Leben generell fördern sollen. Dafür braucht die Politik jedoch Zahlen und Fakten: Musiksoziologie liefert unter anderem auch die Soziographie des musikalischen Lebens und des gesellschaftlichen Umgangs mit der Musik, die für die Analyse der jeweiligen Struktur notwendig ist und dient somit der Sammlung und Ordnung von Kenntnissen über die musikalische Praxis.[21]
„Kulturpolitik ist funktionell gesehen nur eines der vielen Kulturmittel, ist nur eines der ‚vom Menschen geformten Mittel der Lebensmittel und Werteerhöhung’ und erscheint nie als Kultur selbst. Ebenso wie die Kulturwirtschaft oder die Kulturverwaltung, ist sie nur ein Mittler innerhalb der kulturgesellschaftlichen Zusammenhänge.“ Kulturpolitik, von Albert Schweitzer einmal die „große Kunst“ genannt, stellt für Silbermann den Versuch dar, mit geringst möglichem Kostenaufwand dem Volk einen Höchststand an innerer Bildung zu vermitteln.[22]
Das Verhältnis zwischen Musiksoziologie und Politik bleibt jedoch nicht auf die Aufgabe der soziographischen Beschreibung der Gesellschaft beschränkt, sondern entwickelt sich in zunehmendem Ausmaß zu einer wichtigen Stütze für wesentliche kulturpolitische Entscheidungen, wie es von Blaukopf und Silbermann auch ausdrücklich gewünscht wird. In diesem Sinne ist die entscheidende Rolle Kurt Blaukopfs zu verstehen, welcher der erste war, der überzeugend deutlich machen konnte, daß Kulturpolitik „angewandte Musiksoziologie“ sein sollte und sich die kulturpolitischen Entscheidungen auf die dementsprechenden kultur- und musiksoziologischen Erkenntnisse stützen müßten: Musiksoziologie wird von ihm als eine Art Frühwarnsystem gesehen, in dem die jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse als Entscheidungshilfe für die Politiker dienen sollten.[23] Aber auch der gesellschaftspolitische Aspekt ist in seinen Forschungen von großer Bedeutung, denn „[b] etrachtet man Kultur als ‚Ausdruck für die Art, wie wir miteinander umgehen‘ (Richard von Weizsäcker), so wird deutlich, daß Kultur das Ferment für jegliche Gesellschaftspolitik darstellt. Im Idealfall wird Kultur als humanes Werte- und Normensystem maßgeblich durch Kunst geprägt. [...Wichtig ist], daß das Kunstwerk nicht nur Produkt einer Gesellschaft ist, sondern Faktor gesellschaftlichen Handelns werden kann.“ Die Essenz dieser Gedanken setzt sich mehr und mehr unter dem Schlagwort von der „milieubildenden Kraft des Kunstwerks“ durch, und Blaukopf zieht daraus die gesellschaftspolitisch höchst relevante Erkenntnis, daß es das Phänomen der Prägung der Gesellschaft durch das (Kunst-)Werk gibt. Kunst kann – nicht zuletzt durch das kompetente Wirken von Kulturmanagern als Vermittler der Kultur – zum Ferment gesellschaftlicher Entwicklung werden.[24]
Nach der Lektüre dieses „Präludiums“ sollten meine Gründe für die Auswahl dieses musiksoziologischen Kontextes als Rahmen dieser Arbeit klar sein; die Bezüge zu meinem Thema stellten sich automatisch ein und wurden großteils bereits an gegebener Stelle erwähnt. Für mich überraschenderweise fanden sich bereits in den Definitionen und Konzepten Blaukopfs und Silbermanns wichtige Aussagen, die in den jeweiligen Studien später wieder aufgegriffen und weiterentwickelt wurden, auch die kulturpolitische Beziehung der Musiksoziologie erwies sich tiefer als vorerst von mir angenommen.
Ausgangspunkt aller Überlegungen bleibt immer Adlers vielfach bestätigte und erweiterte Erkenntnis, daß die Ausübung (das bedeutet in diesem Fall Produktion und Rezeption) von Musik durch soziale, politische und ökonomische Bedingungen äußerlich wie auch in ihrem Wesen beeinflußt wird. Musiksoziologie definiert sich für mich daher vor allem als Sammlung der für die musikalische Praxis relevanten gesellschaftlichen Tatbestände und einer Analyse der daraus ableitbaren kulturellen Verhaltensweisen – Musik in diesem Fall als gesellschaftliches Handeln, nicht als meisterliches Kunstwerk. Neben den sozialen Voraussetzungen und Umgebungsbedingungen sind der Einfluß diverser Machtinstanzen, die Umstände, in denen einzelne soziale Klassen Musik produzieren und konsumieren sowie das Verhältnis von musikalischem Geschmack bzw. das kulturelle Verhalten zwischen den verschiedenen Klassen von besonderem Interesse.
Und gerade darum geht es, wenn ich mittels Pierre Bourdieus und Gerhard Schulzes Studien die genauen Hintergründe und Motivationen für den jeweiligen Konsum kultureller bzw. musikalischer Güter und etwaige dahinter verborgene Strategien hinterfragen möchte.
„Dem Spiel der Kultur und Bildung entrinnt keiner!“[25]
Um Einwände gegen die Auswahl des Autors vorwegzunehmen, möchte ich gleich an den Beginn dieses Kapitels jene Einschränkungen stellen, mit denen Bourdieu selbst begründet, warum seine Studie mit Vorsicht zu genießen sei: Erstens, da sie „sehr französisch“ aufgrund des Forschungsgegenstandes sei, könne sie fast schon „als eine Art Ethnographie Frankreichs gelesen werden“. Zweitens verweist er auf die Partikularität der französischen Traditionen in Form der „noch immer wirksame [n] Existenz des aristokratischen Modells der ‚höfischen Gesellschaft‘, inkarniert in einer Pariser Großbourgeoisie, die alles Prestige und alle – gleichermaßen ökonomischen wie kulturellen – Adelsprädikate in sich vereinigt.“[26] Drittens fügt er hinzu, „[f] ranzösisch ist dieses Buch ebenso seiner Form nach“, was den Leser nicht überraschen sollte, da sich die spezifische Darstellungs- und Ausdrucksweise stets nach den Gesetzen des Marktes richte, auf dem das entsprechende kulturelle Produkt angeboten werde.[27] Hinzu kommt als weiterer Einwand auch noch die zeitliche Distanz – Bourdieu betrieb seine Studie vorwiegend in den 60 und 70er Jahren, ich hingegen möchte mich vor allem mit den späten 80er und 90er Jahren beschäftigen.
Vier Argumente, die massiv gegen Bourdieu sprechen, warum stütze ich mich also dennoch in großen Teilen meiner Arbeit auf dieses so französische Werk, das für eine Beschreibung der (österreichischen) aktuellen Verhältnisse doch so höchst ungeeignet erscheint?
Bereits wenige Seiten weiter unten entkräftet Bourdieu selbst die oben vorgebrachten Einwände, indem er eingesteht, daß der Forschungsgegenstand, das „Modell der Wechselbeziehungen zweier Räume – dem der ökonomisch-sozialen Bedingungen und dem der Lebensstile“ Geltung besitze „und zwar für alle geschichteten Gesellschaften, selbst wenn das System der Unterscheidungsmerkmale, durch die sich soziale Unterschiede äußern oder verraten, ein je nach Epoche und Gesellschaft anderes ist." Vorläufiges Fazit: Kultureller Konsum ist (relativ) international.[28]
Zur Aktualisierung und vor allem auch als kritisches Gegengewicht und zur Ergänzung entscheidender Punkte dient mir wesentlich Schulzes „Erlebnisgesellschaft“, die sich auf das Deutschland der beiden vergangenen Jahrzehnte bezieht und viele Entwicklungen folglich in einem anderen Kontext, nämlich dem eines deutschsprachigen Landes, betrachtet und aufgrund der zeitlichen Differenz neue Tendenzen berücksichtigen kann.
Um in die Grundlagen von Bourdieus Studie „Die feinen Unterschiede“ einzuführen, erscheint es mir notwendig, den spezifischen Gebrauch fundamentaler Termini wie auch Bourdieus persönliche Definitionen teilweise im Alltagsgebrauch fest verankerter Schlagworte wie „Kultur“ und „Geschmack“[29] an den Anfang dieses Kapitels zu stellen. Interessant sind dabei vor allem die Querverbindungen zwischen den einzelnen Begriffen.
Auch kulturelle Güter unterliegen einer Ökonomie, die über ihre eigene Logik verfügt. Die Soziologie sieht Bourdieu als Versuch, die Bedingungen zu rekonstruieren, deren Produkt die Konsumenten dieser Güter und ihr Geschmack gleichermaßen sind. In weiterer Konsequenz beschreibt sie für ihn die unterschiedlichen Aneignungsweisen der zu einem bestimmten Zeitpunkt als Kunst rezipierten Kulturgüter, sowie die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Herausbildung der als legitim anerkannten Aneignungsweise. Diese sehr auf kulturelle Belange zugeschnittene Definition von Soziologie rechtfertigt für mich ein weiteres Mal die Auswahl dieses Autors und demonstriert deutlich die Wichtigkeit der Verbindungen zwischen Soziologie und Kunst-/Kulturwissenschaften wie der Musikwissenschaft.
Der Begriff „Kultur“ wird von Bourdieu im ethnologischen Sinne verwendet, da er somit über den beschränkten Sinn von Bildung hinausgeht und auch wieder die elementaren Erlebnisse, wie beispielsweise Geschmack umfaßt.[30] „Kultur“ ist für Bourdieu jedoch auch das Ergebnis eines Kampfes, wobei diejenigen, die unterliegen von ihr ausgeschlossen werden und sich in ihrer menschlichen Existenz getroffen fühlen. „Die Kultur ist hierarchisch organisiert und sie trägt zur Unter- und Überordnung von Menschen bei, wie etwa ein Möbel- oder ein Kleidungsstück, an denen man sofort erkennen kann, auf welcher Sprosse der sozialen und kulturellen Hierarchie sein Besitzer steht. Im Bereich der Politik, aber nicht allein dort, verurteilen die offiziöse Kultur und der von ihr beanspruchte Respekt diejenigen zum Schweigen, die nicht als Träger dieser Kultur anerkannt sind. […] Der Umstand, daß kulturelle Erscheinungen immer auch als sinnlich faßbare Äußerungen von Personen in Erscheinung treten, erweckt den Eindruck, als sei Kultur die natürlichste und die persönlichste und damit also auch die legitimste Form des Eigentums.“[31] „Geschmack“ und insbesondere „kultureller Geschmack“ wiederum sind zentrale Ausdrücke in dieser Studie Bourdieus, die, wie noch zu zeigen sein wird, von den verschiedensten Bedingungen abhängig sind und in weiterer Folge eng mit dem Terminus der „(sozialen) Klasse“ verbunden werden. Diese repräsentiert einen anderen für Bourdieu wichtigen Punkt; „Die Bestimmung dessen, was ‚kulturellen Adel‘ ausmacht, bildet vom 17. Jahrhundert bis in unsere Tage Gegenstand einer fortwährenden, mehr oder minder offen geführten Auseinandersetzung zwischen Gruppen, die nicht allein in ihrer jeweiligen Auffassung von Kultur und Bildung und vom legitimen Verhältnis zu dieser differieren, sondern auch im Hinblick auf die Bedingungen, unter denen diese Einstellungen und Dispositionen erworben werden“.[32]
Wie steht es jedoch um die Verbindung zwischen Klasse, (kulturellem) Geschmack und Kultur an sich?
Jede kulturelle Praxis (Besuch von Konzerten, Theater, Museen, Ausstellungen, Erlernen eines Instrumentes, Lektüre...) wie auch die Präferenz für gewisse Musik läßt einen engen Zusammenhang primär mit dem Ausbildungsgrad, sekundär mit der sozialen Herkunft erkennen. „Das Gewicht der familialen respektive der schulischen Erziehung […] variiert gemäß dem Grad der Anerkennung der kulturellen Praktiken durch die Schule und deren Vorbereitung auf diese […]. Der gesellschaftlich anerkannten Hierarchie der Künste und innerhalb derselben der Gattungen, Schulen und Epochen korrespondiert die gesellschaftliche Hierarchie der Konsumenten. Deshalb auch bietet sich Geschmack als bevorzugtes Merkmal von ‚Klasse‘ an.“[33] Nichts dokumentiert die eigene Klassenzugehörigkeit besser oder hilft eindrucksvoller die eigene Klasse in Geltung zu setzen als der musikalische Geschmack, denn aufgrund der nur selten gegebenen Voraussetzungen zum Erwerb der entsprechenden Disposition gibt es keine andere Praxis, die auch nur annähernd so klassifikationswirksam wäre wie Konzertbesuche oder das Spielen eines vornehmen Musikinstruments (gemeint sind damit Instrumente, deren Erlernen über das Schlagen einiger Akkorde auf einer Gitarre zur allgemeinen Liedbegleitung hinausgehen). Ein weiterer Grund für die spezielle Bedeutung musikalischen Geschmacks liegt in der Tatsache, daß das Vorzeigen musikalischer Bildung keine Parade wie bei den übrigen kulturellen Praktiken darstellt, denn ihrer gesellschaftlichen Bestimmung nach ist musikalische Bildung etwas anderes, als eine bloße Summe von Kenntnissen und Erfahrungen, verbunden mit der Fähigkeit darüber zu reden. Musik verkörpert die am meisten vergeistigte aller Geisteskünste, und die Liebe zur Musik daher gilt als sicherer Bürge für die eigene Vergeistigung, denn „[d] ie Musik ist die ‚reine‘ Kunst schlechthin – sie sagt nichts aus, und sie hat nichts zu sagen. In diesem letztendlichen Fehlen einer wirklichen Ausdrucksfunktion liegt ihr Gegensatz zum Theater, das noch in seinen am stärksten gereinigten Versionen Träger einer sozialen Botschaft bleibt.“ Sie bewirkt aber auch das Gegenteil und „verkörpert die radikalste, die umfassendste Gestalt jener Verleugnung der Welt, zumal der gesellschaftlichen, welche das bürgerliche Ethos allen Kunstformen abverlangt.“[34]
Kultur wird demnach von Bourdieu als wichtiger Parameter bei der Konstruktion von Geschmack gesehen; kultureller Geschmack wiederum spielt eine zentrale Rolle bei der Differenzierung der verschiedenen sozialen Klassen, wobei er ausdrücklich auf die spezielle Bedeutung von Musik in diesem Kontext verweist. Gerade Musik gilt als reinste, da absichtsloseste und vergeistigste Kunst, die nur selten gegebenen Möglichkeiten entsprechende musikalische Kenntnisse zu erwerben, verweisen bereits an sich auf eine gehobene gesellschaftliche Stellung. Musikalische Bildung ist aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bestimmung etwas anderes als das bloße Herzeigen angehäufter Erkenntnisse und Erfahrungen verbunden mit gelehrter Kommunikation darüber. Von diesem Zusammenhang zwischen dem Erwerb kultureller Kompetenz, dem demonstrativen kulturellen Konsum, den damit verbundenen Strategien und der sozialen Stellung der Ausführenden handelt das nun folgende Kapitel. Darin soll geklärt werden, wieso man für das Verständnis der angeblichen Weltsprache Musik spezielle Kenntnisse benötigt und weshalb diese nicht für jedermann gleichermaßen zugänglich sind.
Der Konsum von Kunst stellt sich laut Bourdieu als ein Moment innerhalb eines Kommunikationsprozesses dar, der mit dem Akt einer Dechiffrierung und Decodierung verglichen werden kann, der die bloß praktische oder bewußte und auch explizite Beherrschung einer Geheimschrift oder eines Codes voraussetzt – „Jede künstlerische Wahrnehmung ist mit einem bewußten oder unbewußten Dechiffrierungsvorgang verbunden.“[35] Daher gilt: Die Fähigkeit des Sehens bemißt sich am Wissen oder, wenn man möchte, an den Begriffen, den Worten, über die man zur Bezeichnung der sichtbaren Dinge verfügt und mit deren Hilfe man gleichsam Wahrnehmungsprogramme erstellen kann. Dasselbe gilt natürlich auch für das musikalische Hören: Klänge, deren Sinn ich nicht entschlüsseln kann, können wohl kaum auf eine adäquate Weise konsumiert und interpretiert werden, worin das zentrale Problem bei der Rezeption zeitgenössischer Musik zumindest eine Teilerklärung gefunden haben dürfte.[36] Von Bedeutung und Interesse ist Kunst einzig für denjenigen, der kulturelle Kompetenz, das heißt den angemessenen Code besitzt. Wenn diese besonderen Bedingungen nicht erfüllt sind, kommt es zu Mißverständnissen, die Informationen werden ohne Strukturierung und Organisation wahrgenommen und in weiterer Folge bedeutungslos. Die bewußte oder unbewußte Anwendung des Systems der mehr oder minder expliziten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, welche die künstlerische Bildung ausmachen, bildet die verborgene Voraussetzung jeder elementaren Form von Erkenntnis. Damit gemeint ist etwa das Wieder-Erkennen der Stile, die eine Epoche, eine Schule oder einen Autor oder Komponisten prägen, und allgemeiner die Vertrautheit mit der immanenten Logik der Werke, die der künstlerische Genuß erheischt. Wem der entsprechende Code fehlt, der fühlt sich überwältigt und verschlungen, kann die eingehenden Informationen nicht verwerten.[37] In letzter Konsequenz heißt das, daß sich dem „Betrachter die genuine Wahrnehmung von Kunstwerken, deren Sinn oder besser Wert sich einzig im Kontext der spezifischen Geschichte einer künstlerischen Tradition erschließt“ – und sich dem Unkundigen somit verschließt. Kurz zusammengefaßt bedeutet dies zum ersten, daß Kunst nicht von jedem auf dieselbe Art und Weise verstanden wird und werden kann, sich demnach zum zweiten demjenigen nicht eröffnen kann, der sich nicht in der erforderlichen Form mit den entsprechenden besonderen Codes auseinandergesetzt hat. Der vielzitierte Mythos, daß Musik „alle Sprachen spreche“ wird somit als unrealistisch entlarvt.[38] Nur kurz erwähnt sei an dieser Stelle folgende wichtige, damit verknüpfte Erkenntnis: „Die ästhetische Einstellung, die Produktionen eines zu hoher Autonomie gelangten künstlerischen Feldes erheischen, ist nicht zu trennen von einer besonderen kulturellen Kompetenz“,[39] ein Zusammenhang auf den weiter unten expliziter eingegangen wird.
Bourdieu folgert nun: „Die Konfrontation mit einem Kunstwerk hat mithin nichts von jenem Spontanerlebnis an sich, das man gemeinhin so gern in ihr sehen möchte; wie auch jener Akt der affektiven Verschmelzung, die ‚Einfühlung‘, einen Erkenntnisakt voraussetzt und die Anwendung eines kognitiven Vermögens, eines kulturellen Codes impliziert.“ Diese sehr intellektualistische Theorie der Kunstwahrnehmung steht in eklatantem Widerspruch zur Erfahrung des der Kunst blindlings folgenden Kunstliebhabers und dem darum aufgebauten (und gepflegten) Mythos, der gerade im musikalischen Bereich, wie bereits kurz angedeutet, von einiger Bedeutung ist. Ein Grund für diese offensichtlich verzerrte Wahrnehmung dürfte im steten Prozeß der Vertrautheit liegen, die im Schoß der Familie garantierte Aneignung von legitimer Kultur läßt den langwierigen Aneignungsprozeß vergessen.[40] Aus dieser Tatsache, daß das Verständnis von Kunst Bildung voraussetzt, deren Erwerb jedoch eingeschränkt ist, ergibt sich die logische Konsequenz: „Der Konsum von Kulturgütern höchster Legitimität stellt einen Sonderfall der Konkurrenz um seltene Güter und Praktiken dar“.
Um diese Konkurrenz, die den kulturellen Betrieb offenbar maßgeblich beeinflußt und prägt im Zusammenhang mit kulturellem Konsum untersuchen zu können, muß die offensichtlich magische Barriere, die aus legitimer Kultur eine abgehobene Welt für sich macht, überwunden werden, um die rational durchaus nachvollziehbaren Zusammenhänge zwischen scheinbar unvergleichbaren Richtungen zu ermöglichen. Das Verdienst dieser „barbarischen“ Wiedereingliederung des Konsums ästhetischer Objekte in den Rahmen des gewöhnlichen Konsums ist darin zu sehen, daß es bewußt macht, daß Konsum sicherlich immer Aneignung voraussetzt und der Konsument selbst zur Hervorbringung des von ihm konsumierten Produkts beiträgt, durch jene Art des Aufspürens und Entschlüsselns, die beim Kunstwerk nicht nur Zeit und im Laufe der Zeit erworbene Einstellungen verlangt, sondern den ganzen Konsumationsakt und alle Befriedigung ausmachen kann.[41]
Gerade weil nicht jeder an diesem Konsum teilhaben kann und den Rezipienten dadurch eine gewisse Exklusivität verliehen wird, ist der Konsum von Kulturgütern, und, wie weiter oben ausgeführt speziell von Musik, von besonderer Bedeutung. „Von allen Produkten, die der Wahl der Konsumenten unterliegen, sind die legitimen Kunstwerke die am stärksten klassifizierenden und Klasse verleihenden, weil sie nicht nur in ihrer Gesamtheit distinktiven, will heißen Unterschied und Anderssein betonenden, Charakter tragen, sondern kraft des Spiels der Teilungen und Unterteilungen in Gattungen, Epochen, Stilrichtungen, Autoren, Komponisten, etc. eine endlose Reihe von distinguos zu erzeugen gestatten. Dementsprechend lassen sich im Universum der individuellen Geschmacksrichtungen, das durch aufeinanderfolgende Unterteilungen generativ zu reproduzieren ist, unter Beschränkung auf die zentralen Gegensatzpaare drei Geschmacksdimensionen unterscheiden, denen wiederum im großen ganzen [!] drei Bildungsniveaus sowie drei gesellschaftliche Klassen korrespondieren“.
Diese drei unterschiedlichen Geschmäcker, die sich aufgrund der wissenschaftlichen Auswertung der Fragebögen ergeben haben, werden von Bourdieu folgendermaßen charakterisiert:
1. Der „legitime Geschmack“ als Vorliebe für die anerkanntermaßen legitimen Werke der Hochkultur (Johann Sebastian Bach: „Das Wohltemperierte Klavier“ und „Die Kunst der Fuge“, Maurice Ravels „Konzert für die linke Hand“, sowie gediegene Filmmusik, Jazz, Chanson), sein Auftreten wächst mit steigender Bildung, um bei den Kreisen der herrschenden Klasse (Oberschicht) mit den größten schulischen Kapitalien[42] zu kulminieren.
2. Der „mittlere Geschmack“ bezieht sich auf die minderbewerteten Werke der legitimen Künste (George Gershwins „Rhapsody in blue“, Johannes Brahms’ „Ungarische Rhapsodie“, aber auch Sänger wie Jacques Brel, Gilbert Bécaud) und ist typisch für die Mittelklasse, das sogenannte Kleinbürgertum.
3. Der „populäre Geschmack“, charakterisiert durch eine Auswahl von Werken der sogenannten „leichten“ oder aber durch ihre weite Verbreitung bereits völlig entwerteten „ernsten“ Musik („Schöne Blaue Donau“, „La Traviata“, „Arlésienne-Suite“), repräsentiert den Geschmack der unteren Schichten.[43]
Wie bereits weiter oben erwähnt, sind die legitimen Kulturgüter die am stärksten klassifizierenden und Klasse verleihenden Güter, zusätzlich besitzen sie noch die Eigenschaft, dank endloser Unterteilungen in Epochen, Gattungen, Stile immer neue distinguos zu produzieren. „Je mehr man sich den legitimen Bereichen wie Musik und Malerei nähert – und innerhalb derselben, die entsprechend ihrem jeweils typischen Legitimitätsgrad hierarchisch gestaffelt sind, bestimmten Gattungen und Werken –, umso stärker gehen die Unterschiede an Bildungskapital einher mit gewichtigen Differenzen im Hinblick auf Kenntnisstand und Vorlieben.“ Der Unterschied zwischen E-Musik und U-Musik wird gemäß der Erzeugungsprinzipien jedes einzelnen Bereiches, die wiederum nach Gattungen, Epochen, Komponisten und Werke differenzieren, vertieft, Geschmacksunterschiede entsprechen folglich auch Unterschieden an Bildungskapital.[44]
Aus diesem Abschnitt wird ersichtlich, warum kulturelle Kompetenz ein unverzichtbarer Bestand für das Verständnis von Kunst und daher den gesamten kulturellen Konsum ist. Zwei wichtige Tatsachen sind im Zusammenhang mit dieser Kompetenz unbedingt zu erwähnen, erstens ihre Weitergabe vor allem im Rahmen der primären (und daher sehr prägenden) Sozialisation, sowie zweitens der limitierte Zugang zu adäquater Ausbildung. Zusammenfassend umschreibt Bourdieu kulturelle oder künstlerische Kompetenz wie folgt: „[Sie] ist also als vorherige Kenntnis der eigentlichen künstlerischen Einteilungsprinzipien zu erklären, die es erlauben, eine Darstellung durch die Einstufung der in ihr enthaltenen stilistischen Merkmale unter die Darstellungsmöglichkeiten zu plazieren, die das Universum der Kunst bilden“.[45] Und weiter: „Die Neigung, sich die Kulturgüter zu eigen zu machen, ist das Produkt allgemeiner oder spezifischer Erziehung, die die künstlerische Kompetenz erschafft oder als Beherrschung des Instrumentariums der Aneignung dieser Güter pflegt und die das ‚kulturelle Bedürfnis’ erschafft, indem sie die Mittel zu seiner Befriedigung liefert.“[46] Welche genauen Voraussetzungen beim Erwerb dieser Kompetenzen eine Rolle spielen, soll im folgenden Abschnitt eingehend erläutert werden.
Wie bereits im vorigen Kapitel kurz angedeutet, besteht zwischen Bildungskapital und sozialer Herkunft eine statistische Relation, hinter der sich Gruppen verbergen, „deren Verhältnis zu Kultur und Bildung ein unterschiedliches bis antagonistisches sein kann – je nach Bedingungen, unter denen sie ihr kulturelles Kapital erworben haben“.[47] Für Bourdieu steht eindeutig fest, was „Praktiken wie den aktiven Umgang mit einer bildenden Kunst oder das Musizieren anbelangt, die ein kulturelles Kapital voraussetzen, das in der Regel außerhalb der Schule erworben wird und auch (relativ) unabhängig vom Grad schulischer Betätigung ist, so stellt sich hier die gleichfalls hohe Korrelation mit der sozialen Klasse vermittels der sozialen Laufbahn her“.[48] Kulturelle Kompetenz bleibt – auch in ihrer Anwendung – bestimmt durch die Bedingungen des Erwerbs und ist daher durchaus im Sinne von „Herkunftszeichen“ zu verstehen. „Wenn die ‚Manier‘, d. h. ‚Stil‘ und ‚Eigenart‘, eine symbolische Manifestation darstellt, deren Sinn und Wert gleicherweise von dem abhängt, der sie wahrnimmt, wie von dem, der sie äußert, dann wird verständlich, warum die Eigenart des Gebrauchs symbolischer Güter [wie Kultur] und zumal jener, die als Attribute des Vortrefflichen gelten [wie Musik] , eines der privilegiertesten Markenzeichen von ‚Klasse‘ wie zugleich das strategische Mittel zur Darstellung von Distinktion bilden“. Man kann zwei Arten des Erwerbs von Kultur und Bildung unterscheiden: einerseits das umfassende und unmerklich vor sich gehende, bereits in frühester Kindheit in der Familie einsetzende Lernen, als unabdingbare Voraussetzung des schulischen Lernens, das dieses zugleich vollendet; andererseits das später einsetzende, methodische Lernen im Schnellverfahren.
Ersteres verleiht die seinen Besitzern typische Gewißheit im Besitz kultureller Legitimität zu sein, gibt Selbstsicherheit und Ungezwungenheit. Es schafft jenes paradoxe Verhältnis der Sicherheit aus Ignoranz und Souveränität, das den alteingesessenen Bourgeois (folglich Mitglied der herrschenden Klasse) als eine Art Familiengut, als dessen legitimer Erbe er sich betrachtet, kennzeichnet. „Die Kompetenz des ‚Kenners‘, diese aus langem vertrauten Umgang mit den Werten hervorgegangene, die Vertrautheit mit ihnen begründende unbewußte Beherrschung der Aneignungsmittel, ist eine ‚Kunst‘, ist praktische Beherrschung, die wie jede Kunst zu denken oder zu leben nicht ausschließlich durch Regeln und Vorschriften weitergegeben wird, deren Erlernung vielmehr einen übers normale Maß hinausgehenden Kontakt voraussetzt […], den wiederholten Kontakt mit kulturellen Werken und gebildeten Menschen gleicherweise.“[49] Die genaue Wirkungsweise dieser so effizienten kulturellen Primärsozialisation beschreibt Bourdieu folgendermaßen: „Das inkorporierte kulturelle Kapital der vorausgegangenen Generationen fungiert als eine Art Vorschuß und Vorsprung: indem es dem Neuankömmling ohne weiteres das Beispiel einer in familiären Mustern realisierten Kultur und Bildung gewährleistet, wird diesem von Anbeginn an und von Grund auf, d. h. auf völlig unbewußte und unmerkliche Weise der Erwerb der Grundelemente der legitimen Kultur ermöglicht […] . Ihren Wert verdanken die Formen des legitimen Lebensstils dem Umstand, daß sie Illustrationen höchst seltener Erwerbsbedingungen darstellen, d. h. eine gesellschaftliche Macht über die Zeit dokumentieren, die stillschweigend als die Form des Excellenten anerkannt ist“.[50] In der Praxis bedeutet dies, daß derjenige, der in einer Familie aufwächst, in welcher Musik nicht nur über Radio und Stereoanlage gehört, sondern auch aktiv praktiziert wird und der daher bereits früh selbst ein Musikinstrument erlernt, zumindest über einen ungleich vertrauteren Umgang mit (klassischer) Musik verfügt und sich prägnant vom ein wenig distanzierten, kontemplativen und leicht kopflastigen Verhältnis desjenigen unterscheidet, der über Konzerte oder Schallplatten erst später zur Musik gelangt ist. „Der ganze Unterschied zwischen der Theorie der Kunst und ihrer Erfahrung durch den Kenner besteht ja gerade darin, daß dieser in der Regel die sein Urteil tragenden Prinzipien nicht offenzulegen vermag. Jedes institutionalisierte Lernen setzt demgegenüber ein Minimum an Rationalisierung voraus, die auch im Verhältnis zu den konsumierten Gütern ihre Spuren hinterläßt. Der souveräne Genuß des Ästheten will begriffslos sein. Er setzt sich vom gedankenverlorenen Genuß des ‚Naiven’ (durch den Mythos des unvoreingenommenen Blicks und der Kindheit ideologisch gepriesen) ebenso ab wie vom vorgeblich lust-losen Denken des Kleinbürgers und ‚Parvenus’ “.[51]
Dieses Erbe, in Form des Familienbesitzes, trägt praktisch zur moralisch-geistigen Reproduktion von Identität bei, das heißt zur Weitergabe von Werten, Tugenden und Kompetenzen (zumeist innerhalb der herrschenden Klasse), offenkundig wird damit ein bestimmter Geschmack erworben, der sich als unmittelbare Vertrautheit mit geschmackvollen Dingen präsentiert und eindeutig erkenntlich macht, wer dazu gehört und wer nicht. Was sich derart einstellt, ist das Verhaftetsein bis hinein in die Tiefen des Habitus, bis ins Innerste von Geschmack, was im Unbewußten die Einheit der Klasse weitaus nachdrücklicher begründet als die erklärten Meinungen und Ansichten.[52] Bourdieu führt in diesem Zusammenhang ein Heidegger-Zitat an: „Für denjenigen, der eine Brille trägt, die ihm so nahe ist, daß sie ihm fast auf der Nase sitzt, ist dieses Gerät inmitten der Umwelt von ihm entfernter als das auf der gegenüberliegenden Wand aufgehängte Bild. Die Nähe dieses Gerätes ist so groß, daß es gewöhnlich unbemerkt bleibt.“[53] Das Vertrautwerden mit Kultur im Rahmen der steten Wiederholung im familiären Kreis ist die privilegierte Art des Erwerbs der kulturellen Kompetenz, das sich das Kunstwerk immer als konkrete Individualität darstellt und sich nie auf stilbestimmende Prinzipien und Regeln zurückführen läßt.
Welchen Einfluß besitzt die Institution Schule im Rahmen der Weitergabe kultureller Kompetenz, deren Kenntnis von offensichtlich sehr großer Bedeutung ist? Kann sie vereinheitlichen oder verstärkt sie die ohnehin bereits aufgrund der sozialen Herkunft vorhandenen Diskrepanzen?
Als den bestverborgensten Effekt der Institution Schule sieht Bourdieu – infolge der Durchsetzung von Titeln wie Schulabschlüssen und Bildungspatenten – den Effekt der Statuszuweisung, der jede Gruppe durch Zuweisung der Individuen zu hierarchisch gestaffelten Klassen gliedert. Inhaber von Bildungspatenten (ähnlich den Trägern von Adelstiteln, deren Sein bestimmt durch Vergangenheit und Tradition, auf kein Tun, Können oder Funktion zurückzuführen ist) brauchen nur zu sein, was sie sind, da der Wert ihrer Taten und Handlungen sich einzig und allein am Wert ihrer selbst bemißt. Definiert anhand der Titel, die sie vorbereiten und berechtigen zu sein, was sie sind, erscheint ihr Tun als Offenbarung einer ihren Ausdrucksformen übergeordneten Essenz. Eine unüberbrückbare Wesensdifferenz trennt sie von den über kein Adelsprädikat verfügenden Bildungsplebejern, die sich zudem meist autodidaktisch ihr Wissen angeeignet haben. Die illegitime freiwillige Bildung, das angehäufte Wissen des Autodidakten hat keinen sozialen Mehrwert.[54]
Bourdieu führt nun den Begriff der „Allokation“[55] ein und beschreibt damit die Zuweisung des gesellschaftlichen Images einer Abteilung, Disziplin, Ausbildungsstätte, der fraglichen Position und der darin objektiv eingeschriebenen Zukunft (wozu vor allem die Akkumulation von Bildung und ein bestimmtes Bild von kultureller Vollkommenheit zählt), auf ein Individuum. Dieser Allokationseffekt samt der darin implizierten Statuszuweisung trägt zentral dazu bei, daß Schule spezifische Formen von kultureller Praxis symbolisch durchzusetzen und zu prägen vermag, Formen, die nicht ausdrücklich verlangt werden, jedoch zu den wesentlichen Statusattributen vor allem der herrschenden Klasse gehören. (Dies bildet gleichzeitig die Erklärung, warum die Fähigkeit scheinbar zweckfreies und sinnloses Wissen wie Namen oder Daten anzuhäufen in einem sehr viel engeren und exklusiveren Zusammenhang mit dem Bildungskapital steht, als beispielsweise ein Kinobesuch, da das gesellschaftliche Image eines Kinos nicht sehr hoch ist.) Vieles von diesem zweckfreien Wissen ist in der Regel das Ergebnis unbeabsichtigter Lernprozesse, ermöglicht durch eine, über familiäre oder schulische Aneignung der legitimen Kultur erworbene Disposition oder Einstellung, denn „[d] er Bildungstitel bildet eine Art Folie, auf der sich bestimmte Existenzbedingungen abzeichnen“. Bildungsprädikate erscheinen somit (aufgrund des Allokationseffektes) als Garantie, sich eine gewisse ästhetische Einstellung zu eigen machen zu können, da sie entweder direkt an eine bürgerliche Herkunft, oder an die – sich durch den verlängerten Bildungsgang fast automatisch einstellende – bürgerliche Lebensweise gebunden sind.[56] Der Haupteinfluß der Institution Schule – die von den Wertvorstellungen der herrschenden Klassen zutiefst durchdrungen ist – könnte als „ eine Kulturdisposition“ umschrieben werden, mit der Aufgabe „ dauerhafte und verallgemeinerte Einstellung einzuprägen, die die Anerkennung des Wertes der Kunstwerke und die Fähigkeit, sich diese Werke mit Hilfe von Gattungskategorien anzueignen, mit sich bringt.“[57]
Welche Voraussetzungen sind aus den eben dargestellten Aneignungsweisen in Familie und Schule für den Einzelnen zu erkennen?
Mit steigendem Bildungskapital (längere Ausbildung), wächst der Anspruch, ein Werk unabhängig von seinem Inhalt, somit „zweckfrei“ und „uneigennützig“ zu würdigen. Grund dieser Korrelation ist die Abhängigkeit der ästhetischen Einstellung von den vergangenen wie gegenwärtigen materiellen Existenzbedingungen, die zugleich Voraussetzung für Ausbildung und Anwendung des kulturellen Kapitals sind, bei dem es ausschließlich um die Darstellungsweise, den Stil geht, der erfaßt und im Vergleich zu anderen Stilen bewertet wird. Mit anderen Worten: Grundlage jeder Form des Lernens von legitimer Kultur sind die Existenzbedingungen.[58] „Die ästhetische Einstellung als Vermögen zur Wahrnehmung und Dechiffrierung der eigentlichen Stilmerkmale ist folglich nicht zu trennen von der eigentlichen künstlerischen Kompetenz. Erworben in ausgesprochenen Lernsituationen oder durch bloßen Umgang mit den Werken […] versetzt diese praktische Beherrschung in die Lage, jedes Element aus einem Bereich künstlerischer Darstellungen innerhalb einer Klasse einzuordnen, welche in Abhebung von der Klasse aller bewußt oder unbewußt ausgeschlossenen künstlerischen Darstellungen definiert ist.“[59]
Familie und Schule sind folglich jene Orte, an denen sich durch bloße Verwendung sowohl die für einen bestimmten Zeitpunkt als nötig erachteten Kompetenzen, als auch deren Preis herausbilden. Sie fungieren als Märkte, die kraft positiver und negativer Sanktionen die Leistung kontrollieren, verstärken was annehmbar ist und entmutigen, was nicht den Erwartungen entspricht. „Der Erwerb der kulturellen Kompetenz ist mit anderen Worten nicht zu trennen vom unmerklichen Erwerb eines Gespürs für das richtige Anlegen kultureller Investitionen, eines ‚Anlage-Sinns‘, der als Produkt der Anpassung an die objektiven Chancen der Verwertung der Kompetenz […] bildet.“[60] Der Rang von Künsten, Gattungen, Werken, Autoren hängt von dem ihm aufgedrückten sozialen Stempel zum jeweiligen Zeitpunkt ab – Kompetenz ist also nicht gleich Kompetenz. Der Sinn für kulturelle Anlage sorgt dafür, daß man immer gerade das und das allein sein mag, was „in“ ist und sich der unbewußten Entzifferung zahlloser Zeichen bedienen kann. Die besondere Kompetenz (für beispielsweise zeitgenössische Musik) hängt von den Chancen ab, welche die verschiedenen Märkte ihrer Akkumulation, Umsetzung und Verwertung einräumen, soll heißen, in welchem Ausmaß der Erwerb einer derartigen Kompetenz begünstigt wird, Gewinne suggeriert oder garantiert werden und damit zu neuen Investitionen bestärken oder überhaupt erst veranlassen. Die jeweilige Kompetenz zahlt sich um so mehr aus, je höher der Legitimitätsgrad eines bestimmten Bereiches ist – im Falle kultureller Güter ein maximaler Gewinn.
Familie und Schule sind demnach die entscheidenden Stationen für den Erwerb von kultureller Kompetenz, wobei das langsame und gründliche Vertrautwerden mit Kultur in familiärem Rahmen die privilegierte Art des Erwerbs darstellt. Diese Kinder profitieren später in erhöhtem Ausmaß von den in der Schule vermittelten Kenntnissen, da sie einerseits mit einem Wissensvorsprung in die Schule kommen und aufgrund der bereits vorhandenen Prädisposition leichter aufnehmen, andererseits sich die Schule genau an jenen bürgerlichen Werten orientiert, die ihnen von Kindesbeinen an vertraut sind. In der Folge stellt sich nun die Frage nach den Auswirkungen dieser Kompetenz im gesellschaftlichen Leben. Die wichtigste Konsequenz kultureller Kompetenz liegt in der Ausprägung eines gewissen „typischen“ Geschmacks, der wiederum gewisse logische Entscheidungen, Präferenzen, Handlungsweisen nach sich zieht.
Kein Bereich der Praxis kann sich der Stilisierung des Lebens verschließen, sie zeitigt überall ihre Auswirkungen, doch Kultur und alles damit in Zusammenhang Stehende, bieten sich offensichtlich als Anwendungsfeld der ästhetischen Einstellung par excellence an, denn „[n] ichts hebt stärker ab, klassifiziert nachdrücklicher, ist distinguierter als das Vermögen, beliebige oder gar ‚vulgäre‘ […] Objekte zu ästhetisieren“.[61] Kultur ist nicht das, was man ist, sondern das, was man hat, bzw. was man geworden ist, sie erinnert an die sozialen Bedingungen und an den Umstand, daß sich das Kunstwerk nur denjenigen eröffnet, welche die Möglichkeiten haben, sich die Mittel zu Aneignung zu erwerben. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einer symbolischen Verlagerung des Klassenunterschieds aus dem Bereich der Wirtschaft in den der Kultur – die Heiligung der Kunst und Kultur trägt zur Bestätigung der sozialen Ordnung bei, die Gesellschaft wird in Barbaren und Zivilisierte unterteilt, in Besitzer der Kultur und Besitzlose. Durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit soll das Gefühl des Ausgeschlossenseins verstärkt werden: „Wenn das Kunstwerk durch seinen heiligen Charakter besondere Dispositionen oder Prädispositionen verlangt, bringt es umgekehrt denjenigen seine Segnung, die seine Forderungen erfüllen, diesen Auserwählten, die sich durch ihre Befähigung, auf seinen Appell zu antworten, selbst auserwählt haben.“[62] In welchem Zusammenhang steht diese Stilisierung des Lebens mit den bisherigen Ausführungen?
Bourdieu führt einige Zeilen tiefer aus: „Vermittelt über die entsprechenden sozialen und ökonomischen Bedingungen, stehen die verschiedenen […] Arten, sich zu den Realitäten und den Fiktionen zu stellen, an die Fiktionen oder die von diesen simulierten Realitäten zu glauben, in engem Zusammenhang mit den diversen möglichen sozialen Positionen und sind dadurch auch weitgehend in die charakteristischen Dispositionssysteme (Habitus) der verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen eingebunden. Geschmack klassifiziert – nicht zuletzt den, der die Klassifikation vornimmt.“[63]
Die ästhetische Einstellung bildet eine Dimension eines objektiven, Sicherheit und Abstand voraussetzenden, distanzierten und selbstsicheren Verhaltens zur Welt, sie stellt darüber hinaus vor allem den distinktiven Ausdruck einer privilegierten Stellung innerhalb des Sozialraumes dar. Ein Schlüsselsatz Bourdieus, der gerade auch für die theoretische Untermauerung meiner Arbeit von großer Bedeutung ist, findet sich in diesem Zusammenhang: „Wie jede Geschmacksäußerung eint und trennt die ästhetische Einstellung gleichermaßen. Als Produkt einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen eint sie all jene, die aus denselben Bedingungen hervorgegangen sind, unterscheidet sie aber zugleich von allen anderen vermittels dessen, was sie wesentlich besitzen. Der Geschmack ist die Grundlage dessen, was man hat – Personen und Sachen –, wie dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird.“ Geschmacksäußerungen und Neigungen sind demnach die praktische Bestätigung einer unabwendbaren Differenz, bestehend zunächst einmal vor allem aus Ekel und Widerwillen gegenüber dem anderen Geschmack oder auch dem Geschmack der anderen. „Über Geschmack streitet man nicht“, lautet ein geläufiges Sprichwort, dessen Wurzeln durchaus in diesem Kontext zu sehen sind, weil sich jeder in der Natur begründet glaubt. Wie wichtig die Auswirkungen dieser Feststellung im alltäglichen sozialen Umgang sind, umschreibt Bourdieu folgendermaßen: „Vermutlich stellt die Aversion gegen andere unterschiedliche Lebensstile eine der stärksten Klassenschranken dar“. Es gibt daher auch (im Zusammenhang mit den Fragestellungen meiner Arbeit) „keine Auseinandersetzung um Kunst, bei der es nicht auch um die Durchsetzung eines Lebensstiles ginge, will heißen die Umwandlung einer willkürlichen Lebensform in eine legitime, die jede andere Form in die Sphäre der Willkürlichkeit verbannt. Der Lebensstil des Künstlers stellt immer auch eine Herausforderung gegenüber dem des Bürgers dar“.[64]
Die ästhetischen Positionen beweisen und bekräftigen den eigenen Rang und die Distanz zu anderen im sozialen Raum, nicht alle gesellschaftlichen Klassen werden jedoch im gleichen Umfang dazu verleitet und darauf vorbereitet.[65] Äußerlich sichtbare Optionen bewußt gewählter ästhetischer Positionen und Konzeptionen sind faktisch den Angehörigen der herrschenden Klasse vorbehalten, „letztlich sogar nur den höchsten Kreisen der Bourgeoisie sowie den Künstlern, den Erfindern und Professionellen der ‚Lebensstilisierung‘. Sie allein sind in der Lage, ihre Lebensform zu einer Kunstform zu erheben.“ Die Unterschichten spielen in diesem System ästhetischer Positionen kaum eine andere Rolle als diejenige einer Art Kontrastfolie, eines negativen Bezugspunktes, von dem sich alle Ästhetiken in fortschreitender Negation absetzen.[66]
Diese einleitenden Bemerkungen zur Theorie der Distinktion stellen den bislang wichtigsten Teil dieser Arbeit dar, da aufgrund der vorgebrachten Thesen und Argumente eindeutig hervorgeht, daß ästhetische Positionen (und zwar vor allem im kulturellen Bereich) häufig mit einer definitiven Distinktionsabsicht verbunden sind. Kultur wird demnach nicht (nur) um ihrer selbstwillen konsumiert. Um die praktischen Auswirkungen dieses Willens zur Distinktion zu verdeutlichen, schiebe ich an dieser Stelle eine Beschreibung der drei charakteristischen Geschmäcker ein, die auf höchst unterschiedliche Art und Weise am Kulturleben Anteil haben und die kulturelle Weiterentwicklung in einem dementsprechenden Ausmaß beeinflussen und vorwärtstreiben. Die folgenden Darstellungen sollen vor allem der Illustration der realen Auswirkungen unterschiedlicher kultureller Kompetenzen dienen. Es soll klar werden, in welchem Ausmaß welche Klasse woran partizipiert und durch ihre Präsenz (oder Nichtpräsenz) in die Weiterentwicklung des Angebots eingreifen (kann).
1. Legitimer Geschmack
Der Geschmack der herrschenden Klasse wird von Bourdieu als E-Geschmack, Luxus- der ungebundener Geschmack umschrieben, dessen wichtigstes Kennzeichen Luxus ist, was heißen soll, daß diese Klasse von ökonomischen Zwängen weitgehend befreit ist und dementsprechend locker und unbeschwert handeln kann. „Als allgemeines Vermögen zur Neutralisierung der im Alltag sich manifestierenden Zwänge und zur Ausklammerung praktischer Zwecke, als dauerhafte Neigung und Fähigkeit zu einer Praxis ohne praktische Funktion, bildet sich die ästhetische Einstellung einzig und allein in einer von Dringlichkeit befreiten Welt-Erfahrung und in Tätigkeiten aus, die ihren Zweck in sich selbst tragen“ und weiter: „Sie setzt, mit anderen Worten, jene Distanz zur Welt voraus […], die das Fundament der bürgerlichen Welt-Erfahrung ausmacht.“ Wirtschaftliche Macht bildet die Basis, sich von Not und ökonomischen Zwängen zu distanzieren, zeigt sich in der demonstrativen „Zerstörung“ von Reichtum, der ostentativen Verschwendung, sowie in allen Ausprägungen des zweckfreien Luxus. Darauf aufbauend bildet das Bürgertum den Gegensatz zwischen Interessegeleitetem und Interesselosem aus, in Gestalt von Industrie und Kunst, erstere eine Welt der ökonomischen Zwänge und zweitere die Welt der durch ökonomische Potenz von allen Zwängen befreiten künstlerischen Freiheiten.
Wieso ist die Betonung dieser Unterschiede, vor allem der Akzent auf der Befreiung von ökonomischen Zwängen derart hervorgehoben?
„Der materielle wie symbolische Konsum des Kunstwerks stellt eine der höchsten Manifestationen jener inneren wie äußeren ‚Leichtigkeit‘ (aisance) dar, die in Ungezwungenheit und Wohlhabenheit sich gleichermaßen bekundet. Die Distanziertheit des reinen Blicks ist nicht zu lösen von einer allgemeinen Disposition zum ‚Zweckfreien’, ‚Interesselosen‘ als dem paradoxen Produkt einer negativen ökonomischen Bedingtheit, die über Erleichterungen, über Leichtigkeit und Ungebundenheit die Distanz zur Notwendigkeit erzeugt.“ Dieser „reine“ Blick schließt einen Bruch mit dem alltäglichen Verhalten zur Welt ein, der zugleich einen gesellschaftlichen Bruch darstellt.[67] „Die reine Ästhetik wurzelt in einer Ethik oder besser, in einem Ethos frei gewählter Distanz zu den Zwängen und Nöten der natürlichen wie sozialen Umwelt […]. Verständlich, daß die Teilnahmslosigkeit des reinen Blicks nicht zu trennen ist von einer generellen Haltung zur Welt, die als paradoxes Produkt der Konditionierung durch negative, nämlich fehlende elementare ökonomische Zwänge und Notwendigkeiten der Distanzierung gegenüber diese Sphäre von Zwang und Notwendigkeit Vorschub leistet.“[68] Folglich kann dieselbe ästhetische Einstellung von den Mitgliedern der Unterschicht kaum erreicht werden, auch bei noch so gutem Willen wird sie die „Sphäre von Zwang und Notwendigkeit“ immer im selben Umfeld festgeschweißt halten. Sehr negativ ausgedrückt, charakterisiert Bourdieu diese Schicht folgendermaßen: „Das ‚Menschliche’ verwerfen, das heißt offensichtlich verwerfen, was allgemein, will heißen, gemein, ‚leicht‘ und unmittelbar zugänglich ist, in erster Linie all das wodurch das ästhetische Tier auf pure Tierheit, auf Sinneslust und sinnliche Begierde erniedrigt wird“.[69] Je mehr die objektive Distanz wächst, um so stärker wird der Lebensstil auch Ausdruck dessen, was Max Weber eine „Stilisierung“ des Lebens nannte, eine systematische Konzeption, welche die vielfältigsten Praktiken leitet und organisiert, sowie stets auch den Anspruch auf die legitime Überlegenheit denen gegenüber bekräftigt, die von den Interessen und Nöten des Alltags beherrscht bleiben.[70]
Vorläufiges Fazit: Die herrschende Klasse stellt einen relativ autonomen Raum dar, dessen Struktur durch die Verteilung der verschiedenen Kapitalsorten unter ihren Angehörigen bestimmt ist. Jede Fraktion innerhalb der herrschenden Klasse ist durch eine bestimmte Verteilung für sich gekennzeichnet, der, vermittelt über den Habitus, ein charakteristischer Stil der Lebensführung entspricht.[71] Die Verteilung des ökonomischen wie kulturellen Kapitals unter den Fraktionen weist eine umgekehrt symmetrische Anordnung auf. Die verschiedenen Strukturen des ererbten Besitzes begründen gemeinsam mit dem sozialen Werdegang den Habitus – diese Strukturen müßten daher auch im Bereich des Lebensstils wiederauffindbar sein, das heißt in den verschiedenen Systemen charakteristischer Merkmale, in denen unterschiedliche Bündel von Dispositionen ihren Ausdruck finden.[72]
2. Mittlerer Geschmack
Das sogenannte „Kleinbürgertum“ investiert laut Bourdieu seinen Eifer vielfach in Aneignungsweisen und Gegenstände, die unter den legitimen die trivialeren darstellen – ganz wie ein Kind, das groß spielen will, ist es ganz Ergebenheit gegenüber der Kultur. Dennoch: „Dieser reine, aber leere Eifer weiß nicht, wo oben und unten ist, weil er über keine Orientierungspunkte verfügt, oder sie nicht zu deuten versteht; er macht aus dem Kleinbürger das designierte Opfer der kulturellen Allodoxia, d. h. all jener Fehlidentifikationen und irrtümlichen Aha-Erlebnisse, in denen sich der Abstand zwischen Kenntnis und Anerkennung verräterisch zu erkennen gibt. […] In den Augen der Mittelklassen, Vorzugsadressaten der ‚mittleren Kultur‘, verdankt diese ihren Reiz zum Teil der Nähe zur legitimen Kultur, die dazu verleitet und ermächtigt, die beiden miteinander zu verwechseln.“ Kleinbürger sind nach diesem harten Urteil unsicher in ihren Wertungen, folgen dabei halb ihren Neigungen, halb ihrer Bildungsbeflissenheit und werden dadurch zum Opfer disparater Entscheidungen; sie kumulieren beispielsweise Geschmack für Unterhaltung mit dem Interesse an Kultursendungen, zwei Klassen von Gütern, die einander normalerweise ausschließen. Ein spezielles Charakteristikum der mittleren Kultur liegt vor allem in der Tatsache, daß sie gestern noch dem raffiniertesten Geschmack recht gewesen und morgen durch einen ästhetischen Gewaltstreich bereits auch wieder rehabilitiert sein kann – was beweist, daß „mittlere Kultur“ nichts als die kleinbürgerliche Beziehung zur Kultur ist, falsche Objektwahl, Mißdeutung, fehlinvestierter Glaube an Allodoxia.[73]
Woraus resultiert dieses unglückliche Verhältnis der sogenannten Kleinbürger zur Kultur?
Da die legitime Kultur, die sich der Kleinbürger ständig anzueignen versucht, nicht für ihn geschaffen ist, wird sie durch seine Aneignungs- und Verständnisbemühungen zur mittleren.[74] Bourdieu erklärt diesen Umstand folgendermaßen: „Die Kleinbürger haben kein spielerisches Verhältnis zum Bildungsspiel: sie nehmen die Kultur zu ernst, um sich einen Bluff oder Schwindel zu erlauben oder auch nur die lässige Distanz, die von wirklicher Vertrautheit zeugt; zu ernst, um nicht ständig besorgt zu sein, ob sie nicht bei Unkenntnissen oder Schnitzern ertappt werden […]. Die Kleinbürger machen aus der Bildung eine Frage von wahr und falsch, eine Frage auf Leben oder Tod“. Ein paar Zeilen tiefer erläutert Bourdieu die Gründe für diesen mühevollen Kampf um den richtigen Zugang, der sich doch nicht so recht einstellen will, denn „[a] ls Erwerbsmenschen können sie es sich nicht erlauben, mit der Welt der Bildung eine Vertrautheit zu kultivieren, die denjenigen alle Freiheiten und Kühnheiten einräumt, die ihr durch Geburt, also durch ihre Natur und ihr Wesen verbunden sind.“[75]
Innerhalb der Klasse des klassischen, etablierten Kleinbürgertums, werden von Bourdieu zwei besondere Gruppen differenziert: erstens das absteigende, zweitens das neue Kleinbürgertum. Erstere bevorzugen, nach den musikalischen Vorlieben befragt, systematisch die deklassierten Stücke der bürgerlichen Kultur (wie die „Schöne Blaue Donau“ oder „Arlésienne-Suiten“),[76] diese Auswahl „durchschnittlicher“ Werke kann als typisch für den Geschmack dieses absteigenden Kleinbürgertums angesehen werden, das über mehr guten Willen als tatsächliches kulturelles Kapital verfügt und daher schon eher dem Geschmack der unteren als dem der mittleren Schicht entspricht.[77]
Die zweite „Abspaltung,“ das neue Kleinbürgertum, stammt weitestgehend aus den oberen Schichten ab und ist wegen meist fehlenden Bildungskapitals gezwungen, in neue Berufe (wie Kulturvermittler) umzusatteln. Die Angehörigen dieses neuen Kleinbürgertums verfügen über hohes familiäres kulturelles und soziales Kapital, sind daher kulturell sehr kompetent und tendieren zu einer gewissen Form des symbolischen Protestes: durch Sympathie mit Gattungen am Rande der legitimen Kultur wollen sie sich an dieser revanchieren. Kennzeichnend erscheint – gerade auch aufgrund der Herkunft aus den oberen Schichten – ein fast schon systematischer Anspruch auf Distinguiertheit, ein peinlich-methodisches Sich-Abgrenzen von Geschmack und Eigenschaften, die mit denen der etablierten Kleinbourgeoisie und den unteren Klassen assoziiert werden. Absicht und Wille zu Distinktion sowie Absetzung tauchen somit erstmals in dieser Schicht explizit auf: „Der gewappnete Anspruch, zu dem die Vertrautheit mit der Kultur in Verbindung mit einer hohen sozialen Herkunft verhilft – in seinen Mitteln wie seiner Modalität völlig verschieden vom ängstlich erhobenen Anspruch des aufsteigenden Kleinbürgertums – , funktioniert wie eine Art soziales Gespür, das ermöglicht, sich in schwierigen Situationen zurechtzufinden, in denen die normalen Orientierungsmittel fehlen“.[78]
Die unteren Klassen sind allen möglichen (vor allem ökonomischen) Zwängen ausgesetzt und folgen daher einer pragmatisch wie funktionalistisch ausgerichteten Ästhetik, in der die Entscheidung für das Notwendige, die jedes l‘art pour l‘art wie auch formale Experimente als sinnlos und läppisch zurückweist. Diese Ästhetik beeinflußt auch die alltäglichen Entscheidungen sowie die Wahl des Lebensstils, der notwendigerweise (aus materiellen Gründen) rein ästhetische Intentionen als „hellen Wahnsinn“ ablehnt.[79] Typisch für Angehörige der unteren Klassen ist ein schwaches Interesse an Werken der legitimen Kultur, zu denen sie – vor allem durch das Fernsehen – Zugang haben könnten. Dieses Desinteresse erklärt sich nicht bloß aufgrund eines Mangels an Kompetenz und Vertrautheit, sondern vielmehr aufgrund des außerordentlichen Realismus der unteren Klassen: dieser Raum der Möglichkeiten ist für sie geschlossen.[80] Der Lebensstil der unteren Klassen ist logischerweise auch durch die Abwesenheit von Luxuskonsum gekennzeichnet.
Wie sieht nun die Umsetzung dieses Notwendigkeitsgeschmacks, dieser funktionellen Ästhetik aus? Diejenigen Menschen, die aus populären Schichten stammen, erwarten von jedem Bild, daß es eine Funktion erfüllt, definieren die verschiedenen Gattungen jeweils unter dem Aspekt ihrer Verwendung und Vollendung, ihre Wertungen greifen dabei stets auf ein ethisch fundiertes Normensystem zurück. „Indem er auf die legitimen Werke die Schemata des Ethos anwendet, die auch in den Alltagssituationen und den normalen Umständen des Daseins zur Geltung kommen, damit eine systematische Reduktion der Dinge der Kunst auf die Dinge des Lebens vollzieht, bezeichnet der populäre Geschmack, […] gewissermaßen a contrario die Tendenz des reinen Geschmacks, die ‚naive’ Verhaftung ans Gegebene zu suspendieren, um damit ein gleichsam spielerisches Verhältnis zu den elementaren Zwängen des Daseins zu gewinnen.“[81]
Der Wert eines Kunstwerkes bemißt sich neben dem Gewicht der Information, das es transportiert, daran, in welchem Umfang es diese Kommunikationsfunktion klar erfüllt, von Bourdieu subsumiert unter dem Begriff der „Lesbarkeit“. Klassische Musik verstört, da man sich unter anderem außerstande fühlt, zu verstehen, was sie als Zeichen bedeuten soll, welche Informationen sie überbringt. Da man diese Intention nicht erkennt, vermag man zwischen wirklicher Meisterschaft und Ungeschicklichkeit nicht zu unterscheiden – die Lesbarkeit ist für die Mitglieder dieser Schicht nicht ausreichend. Ein Werk erscheint somit nur dann umfassend gerechtfertigt, wenn das Dargestellte dies auch verdient und zwar dadurch, daß für diese Schichten die Darstellungsfunktion immer einer höheren untergeordnet bleibt: ein Stück Wirklichkeit, das es würdig ist verewigt zu werden, dadurch zu glorifizieren, daß man es festhält. Dies ist die Grundlage des „barbarischen Geschmacks“,[82] der nur das eine anerkennt: die realistische (und damit respektvolle, bescheidene, folgsame) Darstellung von Gegenständen, die durch ihre Schönheit wie gesellschaftliche Bedeutsamkeit dazu prädestiniert sind.
Wichtiger Grund für Zurückhaltung und Ablehnung von moderner Kunst durch die unteren Schichten ist folglich nicht allein die fehlende Vertrautheit, sondern eine tiefsitzende, von der experimentellen Form immer wieder enttäuschte Erwartung, einbezogen zu werden (sich in den Charakteren wiederfinden zu können, Traditionelles wiederzuhören, sich mit Freud und Leid auf der Bühne identifizieren zu können, am Schicksal wirklich Anteil nehmen zu können, Hoffnungen zu teilen). Dieses Mitleben und Einfühlen steht im schroffen Gegensatz zum „Détachement“ des Ästheten, der als Distanz schaffende Distinktion sein Interesse weg vom „Inhalt“ auf die Form und die spezifischen künstlerischen Aspekte verlagert, die sich nur relational, durch den völlig exklusiven Vergleich mit anderen Werken würdigen lassen, welchen die Versenkung in die Einzigartigkeit des gerade vorliegenden Werkes erschließt: Distanziertheit, Interesselosigkeit, Gleichgültigkeit – ästhetische Theorie meint, daß sie es allein ermöglichen, das Kunstwerk als das zu erkennen, was es wahrhaft sei, nämlich autonom, selbständig. Es gilt daher als naiv und vulgär, allzuviel Leidenschaft in Geistiges zu stecken, oder allzu Ernsthaftes von ihm zu erhoffen (wie dies die unteren Schichten tun).[83] Formale Experimente sind in dieser Bevölkerungsschicht Symptom dafür, was sie gelegentlich als die Absicht empfinden, Nicht-Eingeweihte auf Distanz zu halten, oder „über die Köpfe hinweg zu sprechen“.
Obwohl Bourdieus Ausführungen zu den unterschiedlichen Geschmäckern in sich stimmig konstruiert scheinen, wurde wiederholt die doch sehr traditionelle Betrachtungsweise der Gesellschaft und ihres dementsprechend ein wenig überholt wirkenden Aufbaus kritisiert. Man muß bedenken, daß diese Studie auf Daten aus den späten 60er und 70er Jahren basiert, die Gesellschaft hat sich seitdem rasant weiterentwickelt. Der Klassenkampf scheint weniger ausgeprägt, statt Klassen kämpfen nun Milieus um die kulturelle Vorherrschaft. Gerade Gerhard Schulze, bezieht sich auf diese Tatsache, wenn er davon spricht, daß sich seit Bourdieu viel verändert hat und daher neue Betrachtungs- und Beschreibungsweisen erfordert. Er betont jedoch, daß Bourdieus System nach wie vor große Bedeutung hat, vor allem in Form der Nachwirkungen, welche die Strukturen des kulturellen Lebens noch langfristig beeinflussen werden und sowohl das kulturelle Angebot, als auch den Konsum desselben betreffend.
Im ersten Teil der Theorie der Distinktion wurde dargelegt, daß sich kein Bereich der Praxis der Stilisierung des Lebens verschließen kann, Kultur jedoch ein bevorzugtes Anwendungsfeld für distinktive Geschmacksäußerungen darstellt: Keine Auseinandersetzung um Kultur, bei der es nicht auch (vor allem?) um die Durchsetzung des eigenen Lebensstiles ginge. Man will sich eindeutig vom Geschmack der anderen, vor allem der unteren distanzieren. Verschiedene Definitionen (Habitus, Geschmack, Lebensstil) sind dabei jedoch ins Hintertreffen geraten und werden in diesem zweiten Teil der Theorie der Distinktion nachgeholt.
Um die Eigenheiten des Phänomens „Geschmack“ gründlicher darstellen zu können, ist es notwendig, einen Blick auf den Begriff des „Habitus“ zu werfen. Dieser bereits mehrmals erwähnte Ausdruck, ein für Bourdieu zentrales Konzept dieser Studie, bezeichnet einerseits ein Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Werken, das auf die vielfältigsten Bereiche des Lebens übertrag- und anwendbar ist. Andererseits ist Habitus zugleich auch die Unterscheidung und Bewertung dieser Praxisformen und Produkte (in Form des Geschmacks). In der Beziehung dieser beiden Eigenschaften konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten: der Raum der Lebensstile.
Die Konstruktion des Habitus ist deshalb von so großer Bedeutung, da sich „zugleich die klassifizierbaren Formen der Praxis und Produkte wie die diese Formen und Produkte zu einem System distinktiver Zeichen konstituierenden Urteile und Bewertungen erklären lassen.“ Er soll keinesfalls nur eine einzelne (wenn auch vielleicht relevante) Eigenschaft eines Individuums beschreiben, sondern versuchen, „das Erzeugungsprinzip aller ihrer Eigenschaften wie ihrer Werturteile über die eigenen so gut wie die Eigenschaften der anderen begrifflich zu fassen.“[84] Daraus geht eindeutig hervor, daß unterschiedliche Existenzbedingungen variierende Formen des Habitus hervorbringen, die als systematische Konfigurationen typischer Eigenschaften und Merkmale verstanden werden können. Somit dient Habitus nicht nur dem Ausdruck unterschiedlicher Existenzbedingungen, sondern wird von Akteuren mit den erforderlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata zum Erkennen, Interpretieren und Bewerten der relevanten Merkmale als „Lebensstil“ wahrgenommen.
Die zweite Funktion des Habitus, der Geschmack, dessen praktische Auswirkungen in Form der Geschmacksäußerungen bereits im vorigen Kapitel dargelegt wurden, beschreibt Bourdieu folgendermaßen: „Der Geschmack, die Neigung und Fähigkeit zur (materiellen und/oder symbolischen) Aneignung einer bestimmten Klasse klassifizierter und klassifizierender Gegenstände und Praktiken, ist die Erzeugungsformel, die dem Lebensstil zugrunde liegt, anders gesagt, dem einheitlichen Gesamtkomplex distinktiver Präferenzen, in dem sich in der jeweiligen Logik eines spezifischen symbolischen Teil-Raums – des Mobiliars und der Kleidung so gut wie der Sprache oder der körperlichen Hexis – ein und dieselbe Ausdrucksintention niederschlägt.“ Das Prinzip des Habitus bringt demnach verschiedene Geschmäcker hervor, um diese bildet sich ein System aufeinanderabgestimmter Eigenschaften, jenes System von Klassifikationsschemata, das nur höchst bruchstückhaft dem Bewußtsein zugänglich ist, obwohl der Lebensstil mit steigender sozialer Stufenleiter immer entscheidender durch die „Stilisierung“ des eigenen Lebens charakterisiert wird. „Der Geschmack bildet mithin den praktischen Operator für die Umwandlung der Dinge in distinkte und distinktive Zeichen, der kontinuierlichen Verteilungen in diskontinuierliche Gegensätze: durch ihn geraten die Unterschiede aus der physischen Ordnung der Dinge in die symbolische Ordnung signifikanter Unterscheidungen.“[85]
Habitus setzt zwar Grenzen, innerhalb derer ist jedoch Platz für Spontaneität und Kreativität: „Die Entsprechung von Lebensstil und künstlerischem Stil gewinnt von hier aus ihren Sinn: Der Stil einer Epoche ist genau das, nämlich schöpferische Kunst, das heißt, man weiß nie genau, was ein Künstler schaffen wird; aber sobald er etwas geschaffen hat, entdeckt man, daß er auch Grenzen hat, daß in der Romantik eben kein gotischer Stil entstehen kann. Mit anderen Worten: Jeder Künstler schöpft aus Vorhandenem. Das Gleiche gilt für jeden von uns: Wir haben alle unsere Grenzen.“[86] Habitus dient – allgemein gesprochen – als Vermittlungsglied zwischen der Position im sozialen Raum und den spezifischen Praktiken und Vorlieben, er kann als eine allgemeine Grundhaltung, als eine Disposition gegenüber der Welt beschrieben werden. Die theoretische Untermauerung bestätigt somit nachträglich den bereits weiter oben dargelegten distinktiven Charakter verschiedener Geschmacksäußerungen – doch wie funktioniert diese Distinktion? Es stellt sich die Frage nach einer genaueren Beschreibung dieser distinktiven Vorgänge, nach ihren Gründen und ihren Auswirkungen.
[...]
[1] Fuchs, Max: Kulturpolitik als gesellschaftliche Aufgabe. Eine Einführung in Theorie, Geschichte, Praxis. Opladen, Wiesbaden 1998, p. 167.
[2] Veblen, Paul: Theorie der feinen Leute. München 1971, p. 48, zitiert nach: Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge der Musiksoziologie. 2. erw. Aufl., Darmstadt 1996, p. 81f.
[3] Fuchs, Max: Kulturpolitik als gesellschaftliche Aufgabe, s. Anm. 1, p. 138.
[4] Ibidem, p. 156.
[5] Ibidem, p. 152f.
[6] Adler, Guido: Musik und Musikwissenschaft. Peters Jahrbuch 1898, enthalten in: Blaukopf, Kurt: Musiksoziologie. Eine Einführung in die Grundbegriffe mit besonderer Berücksichtigung der Soziologie der Tonsysteme. Köln, Berlin 1952, p. 14.
[7] Kaden, Christian: Musiksoziologie, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart: allgemeine Enzyklopädie der Musik; 21 Bände in zwei Teilen. Begründet von Friedrich Blume. 2., erw. Aufl., herausgegeben von Ludwig Finscher. Sachteil. Bd. 6., Kassel et al. 1997, Sp. 1618f.
[8] Boehmer, Konrad: Sociology of music, in: The New Grove Dictionary of music and musicians, edited by Stanley Sadie. Vol. 17., London et al. 1980, p. 432f.
[9] Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft, s. Anm. 2, p. 5f.
[10] Silbermann, Alphons: wovon lebt die musik. Die Prinzipien der Musiksoziologie. Regensburg 1957, p. 66f.
[11] Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft, s. Anm. 2, p. 3.
[12] Ibidem, p. 5.
[13] Blaukopf, Kurt: Musiksoziologie, s. Anm. 6, p. 8.
[14] Silbermann, Alphons: wovon lebt die musik, s. Anm. 10, p. 67f.
[15] Ibidem, p. 41.
[16] Mukerjee, R.: The Social Function of Art. New York 1954, p. X, enthalten in: Ibidem, p. 42.
[17] Ibidem, p. 71.
[18] Ibidem, p. 144.
[19] Ibidem, p. 51.
[20] Silbermann, Alphons (Herausgeber): Theoretische Ansätze der Kunstsoziologie. Herausgegeben und mit Einleitungen versehen von Alphons Silbermann. Stuttgart 1976, p. 6.
[21] Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft, s. Anm. 2, p. 246f.
[22] Silbermann, Alphons: wovon lebt die musik, s. Anm. 10, p. 171.
[23] Bontinck, Irmgard (Herausgeber): Wege zu einer Wiener Schule der Musiksoziologie. Konvergenz der Disziplinen und empiristische Tradition. Wien 1996, p. 18.
[24] Ibidem, p. 19.
[25] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. 11. Aufl. Frankfurt am Main 1999, p. 32.
[26] Ibidem, p. 11.
[27] Ibidem, p. 13.
[28] Ibidem, p. 11f.
[29] Mit dem Phänomen des musikalischen Geschmacks beschäftigte sich Alphons Silbermann bereits lange vor Bourdieu. Geschmack wurde über einen langen Zeitraum hinweg ausschließlich als ästhetisches Phänomen betrachtet, wobei man sich in der Forschung einfach der landläufigen Meinung „Man hat ihn oder hat ihn nicht“ anschloß und sich dementsprechend wenig um seine Entstehung oder diverse Abhängigkeitsfaktoren kümmerte. Für Silbermann war die Wichtigkeit des Geschmacks jedoch eindeutig: „Damit werden Werturteile begründet, Fortschritt verworfen oder anerkannt und auch jener Vorwurf der geistigen Trägheit als Ursache der Nichtanerkennung zeitgenössischer Musik, begründet.“ Er erkannte, daß Geschmack in seiner Erscheinung als soziales Phänomen von Verhalten, durch den sozialen Prozeß der interaktionellen Funktion zustande kommt – „Es sind Kräfte von außen, […] die die Sozialisierung des Geschmacks konsolidieren […] und zwar durch einen Prozeß, der von der Kreation, über die Verbreitung, die Aussöhnung, die Standardisierung bis zur Anpassung führt.“ Und einige Zeilen weiter unten führt Silbermann aus: „Es ist ein Irrtum, an einer Auffassung festzuhalten, nach der die Musik in einer Welt des Absoluten lebt und daher der musikalische Geschmack von sozialen Kräften unabhängig ist. Nein, der musikalische Geschmack ist ein soziales Phänomen, ist sozial bedingt, entsteht, lebt und stirbt innerhalb des sozialen Lebens, zu dem er gehört“. Silbermanns Schlußfolgerungen gingen davon ausgehend zwar in eine völlig andere Richtung (er beschäftigte sich mit Geschmackskontrolle und -diktatur), er kam allerdings nochmals auf einen Bourdieu sehr nahe verwandten Punkt zu sprechen: „[…] hier liegt der funktionell entscheidende Punkt jeglicher Form und jeglichen Grades von Geschmackskontrolle. Der milde Grad der Geschmacksnachahmung zum Beispiel, auch oft Vulgarisierung benannt, so wie er durch höchste Ausdehnung der Hörerschaft und des Repertoires von seiten sozio-kultureller Institutionen unternommen wird, oder wie er dadurch entsteht, daß die kulturell Armen versuchen, die kulturell Reichen nachzuahmen, ist eine funktionelle Frage der Separation der Kontrolle über den Zutritt, von Kontrolle über bevorzugte Behandlung in Fragen der Verteilung.“ Siehe dazu Silbermann, Alphons: wovon lebt die musik, s. Anm. 10, p. 158-163.
[30] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 17. Nach meinem Verständnis der Verwendung des Begriffes „Kultur“ schließt er für Bourdieu jedenfalls auch den Bereich von Kunst (und damit Musik) ein, weshalb letztere nicht ständig explizit erwähnt wird. Ich werde mich in weiterer Folge dieser Praxis anschließen und den Terminus „Kultur“ auch im Sinne von einschließlich Kunst und damit Musik verwenden.
[31] Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur. Herausgegeben von Margareta Steinrücke. 2. Aufl. Hamburg 1997, p. 26f.
[32] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 18.
[33] Ibidem, p. 18. Auch Fohrbeck und Wiesand stellen denselben Sachverhalt fest: Der Zugang zu Kunst hängt stark vom Bildungsgang ab, Personen mit höherem Schulabschluß haben offensichtlich weit eher die Möglichkeit sich mit künstlerischen Aktivitäten auseinanderzusetzen. Ähnlich kraß ist das Gefälle bei den verschiedenen Berufsgruppen, die kleinste Gruppe der künstlerisch Aktiven findet sich bei Personen mit niedriger Ausbildung, den Arbeitern. „Die aktive Beschäftigung mit Kunst ist […] im wesentlichen den ‚besseren Kreisen’, den privilegierten Gruppen unserer Gesellschaft vorbehalten, solchen mit höherem Bildungsstand, in gehobenen beruflichen Positionen, in den oberen Einkommensgruppen, in Großstädten mit entsprechendem kulturellen Angebot.“ Fohrbeck, Karla und Wiesand, Andreas Johannes (Herausgeber): Der Künstlerreport. Musikschaffende. Darsteller / Realisatoren. Bildende Künstler / Designer. München, Wien 1975, p. 42-45.
[34] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 41f.
[35] Bourdieu, Pierre: Elemente einer soziologischen Theorie der künstlerischen Wahrnehmung, in: Theoretische Ansätze der Kunstsoziologie, s. Anm. 20, p. 58. Schulze spricht in diesem Zusammenhang vom „semantischen Paradigma“, das die Art der Wahrnehmung entscheidend prägt.
[36] Für Bourdieu liegt ein weiterer Grund der Rezeptionsschwierigkeiten in dem Umstand, daß gebildete Menschen immer geneigt sind, ererbte Kategorien auf die Werke ihrer Epoche anzuwenden und deren Neuheit daher zu ignorieren. Ihr Denken wird daher vorrangig von den Idealen, die von den vergangenen Generationen überliefert worden sind, geregelt (siehe dazu auch Albrecht Göschel, p. 71f), neue Werke erfordern jedoch neue Schlüssel des Zugangs um adäquat rezipiert werden zu können. Ibidem, p. 70.
[37] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 19.
[38] An dieser Stelle kann man natürlich widersprechen und darauf verweisen, daß Unterhaltungsmusik sehr wohl für jedermann verständlich ist und ohne spezielle Vorkenntnisse rezipiert werden kann. Bourdieu hat jedoch vermutlich recht, was die sogenannte E-Musik (und hier vor allem die zeitgenössische Musik) betrifft, die ohne eine entsprechende musikalische Vorbildung sicherlich sehr schwer verständlich sein kann und gerade den sogenannten Laien oft überfordert. Auch Gerhardt Kapner meint in diesem Zusammenhang, daß man Kunst je nach Rezeptionsmodus (Decodierungsschlüssel) anders wahrnimmt: „Ein Kunstwerk ist nicht, was es ist, sondern es ist das, wozu es im Urteil seiner Betrachter wird. Seine Schöpfung liegt nicht bloß beim Künstler. Es existiert vielleicht schon, bevor es geschaffen ist als Vision eines Auftraggebers, es wird etwas anderes durch den Künstler, der es herstellt, und es erhält eine abermals gewandelte Existenz durch die, die es aufnehmen oder verwenden.“ Kapner, Gerhardt: Studien zur Kunstsoziologie. Versuch eines sozialhistorischen Systems der Entwicklung europäischer Kunst. Wien, Köln 1987, p. 117.
[39] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 22. Der Begriff „Feld“ wird bei Bourdieu als Synonym für einen sozialen Mikrokosmos verwendet, so gibt es beispielsweise das literarische Feld, das künstlerische, das wissenschaftliche. Diese Sphären gehorchen ihren jeweils eigenen Gesetzen und unterscheiden sich von der sie umgebenden sozialen Welt. Bourdieu, Pierre: Kultur in Gefahr, in: Der Standard (Mittwoch 17. Jänner 2001), p. 8f.
[40] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 20.
[41] Ibidem, p. 172.
[42] Eine Definition des Begriffs „Kapital“ lautet nach Bourdieu folgendermaßen: „Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter’ Form. Wird Kapital von einzelnen Aktoren oder Gruppen privat und exklusiv angeeignet, so wird dadurch auch die Aneignung sozialer Energie in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit möglich. Als vis insista ist Kapital eine Kraft, die den objektiven und subjektiven Strukturen innewohnt; gleichzeitig ist das Kapital – als lex insista – auch grundlegendes Prinzip der inneren Regelmäßigkeiten der sozialen Welt.“ Die Akkumulation von Kapital braucht Zeit, die Verteilungsstruktur der verschiedenen Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, siehe dazu: Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht, s. Anm. 31, p. 49f. Das Bildungskapital stellt das verbürgte Resultat der einerseits durch die Familie, andererseits durch die Schule gewährleisteten kulturellen Vermittlung und deren sich kumulierenden Einflüsse dar. Kraft der Einschärfung und Durchsetzung von Normen und Werten trägt die Institution Schule im weiteren dann je nach Herkunftsklasse, zur Herausbildung einer auf die legitime Kultur übertragbaren allgemeinen Disposition bei, die eine Akkumulation von Erfahrungen und Kenntnissen über die Grenzen des Schulischen hinaus erfährt, vgl. dazu Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 47f.
[43] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 36ff. Die in Klammern angeführten, repräsentativen Werke wurden für den Fragebogen, der die Grundlage zu Bourdieus Untersuchungen bildete, ausgewählt.
[44] Ibidem, p. 35.
[45] Silbermann, Alphons: Theoretische Ansätze der Kunstsoziologie, s. Anm. 20, p. 65.
[46] Ibidem, p. 71.
[47] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 32.
[48] Ibidem, p. 35.
[49] Ibidem, p.120f.
[50] Ibidem, p. 129. Auch Ernst Gombrich stellt denselben Sachverhalt fest: „Die Sache steht eben in Wirklichkeit so, daß zu allen Zeiten nur eine Minorität Gelegenheit hatte, diese Allgemeinwissen schon von Kindheit an in sich aufzunehmen, wenn im Elternhaus derartige Dinge zur Sprache kamen, oder beim Stöbern in der elterlichen Bibliothek. Sobald diese Kinder zu Studenten herangewachsen waren, hatten sie sich im wesentlichen schon orientiert und wußten, wo sie waren und wohin sie wollten.“ Gombrich, Ernst, H.: Die Krise der Kulturgeschichte. Gedanken zum Wertproblem in den Geisteswissenschaften. Stuttgart 1983, p. 20.
[51] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 122.
[52] Ibidem, p. 136f. Für eine genauere Definition des Begriffs und eine Beschreibung seiner Wirkungsweise siehe Kapitel „Habitus“ p. 34.
[53] Silbermann, Alphons: Theoretische Ansätze der Kunstsoziologie, s. Anm. 20, p. 60.
[54] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 49ff.
[55] Ibidem, p. 52f.
[56] Ibidem, p. 56f.
[57] Silbermann, Alphons: Theoretische Ansätze der Kunstsoziologie, s. Anm. 20, p. 74.
[58] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 100.
[59] Ibidem, p. 96f.
[60] Ibidem, p.151.
[61] Ibidem, p. 25
[62] Silbermann, Alphons: Theoretische Ansätze der Kunstsoziologie, s. Anm. 20, p. 81f.
[63] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 25.
[64] Ibidem, p. 104ff.
[65] Vgl. die beiden vorhergehenden Kapitel „Einfluß der familiären Herkunft“ und „Einfluß der Institution Schule“.
[66] Ibidem, p. 107. Man vergleiche genau zu diesem Thema die Aussagen Schulzes, der ebenfalls diverse Abgrenzungen feststellt, so grenzen sich beispielsweise die diversen Schemata (Hochkultur-, Trivial-, und Spannungsschema) aufgrund divergierender Interessen voneinander ab, ebenso die jeweiligen sozialen Milieus, wo zwar die beiden gehobeneren Milieus durchaus noch eine Abgrenzung gegen unten praktizieren. Im Gegensatz zu Bourdieu hält Schulze jedoch fest, daß das vertikale Modell aufgrund der Entvertikalisierung der Alltagsästhetik überholt ist, vgl. dazu p. 52.
[67] Ibidem, p. 103.
[68] Ibidem, p. 24f.
[69] Ibidem, p. 63. Diese negative Ausdrucksweise in bezug auf die unteren Schichten, die nur als Kontrastfolie der Privilegierten dienen und kaum Freiheiten noch Möglichkeiten haben, fast schon unmündig scheinen, da ihnen jegliches selbständige Denken und Handeln abgesprochen wird, wurde wiederholt als übertrieben kritisiert.
[70] Ibidem, p. 103f.
[71] Ibidem, p. 298f.
[72] Ibidem, p. 405.
[73] Ibidem, p. 503f.
[74] Ibidem, p. 511ff.
[75] Ibidem, p. 518f.
[76] Ibidem, p. 541.
[77] Ibidem, p. 551.
[78] Ibidem, p. 566ff.
[79] Ibidem, p. 591.
[80] Ibidem, p. 596f. Kapner befaßt sich intensiv mit der Hemmung unterer Schichten sich mit Kunst zu beschäftigen. Seiner Meinung nach fördert nicht alleine die Begabung (kulturelle Kompetenz) den Besuch kultureller Veranstaltungen. Der Arbeiter kann hineingehen, er will es auch, aber irgendetwas hindert ihn schon an der Schwelle: Die zur Schau gestellte Eleganz, die Art der Begrüßungen und Plaudereien, die Meinungen über Kunst – das ist nicht seine Welt, für die er sozialisiert worden ist. Als „Schwellhindernis“ bezeichnet Kapner diesen Umstand: Die soziale Kontrolle als generelles Hindernis; die Vereinzelung eines generellen Musters, die internalisierte Form eines allgemeineren Musters. Beim „Schwellhindernis“ handelt es sich um einen besonderen Fall sozialer Kontrolle durch die Eigengruppe, das Urteil der Kollegenschaft gilt als wichtig. Meinungen wie „Abweichler“, „Deviant“, „hält sich für einen Besseren“, „gibt Geld für Überflüssiges aus“ erschweren das Wagnis und letzte Reste des Klassenbewußtseins schlagen hier noch durch. Siehe: Kapner, Gerhardt: Studien zur Kunstrezeption. Modelle für das Verhalten von Publikum im Massenzeitalter. Wien, Köln, Graz 1982, p. 41. Als weiteres Schwellhindernis bezeichnet Kapner die Tatsache, daß Angehörige der Unterschicht den Rezeptionsmodus, den sie in der Sozialisation erlernt haben, aufgeben und einen anderen, mehr oder weniger bürgerlichen erlernen müssen, also den des „interesselosen Wohlgefallens“. Es ist allerdings enorm schwer, früh Erworbenes aufzugeben und durch Neues zu kompensieren: Statt Material, Technik oder Inhalt soll nun die Form des Kunstwerkes als dominant betrachtet werden. Denn genau darin unterscheidet sich der Rezeptionsmodus des Arbeiters für Kapner von dem der traditionellen Kunstrezeption: letztere drängt den Inhalt zurück, wird ihm gegenüber interesselos, und interessiert sich für das, was die Form mit dem Inhalt anfängt, diesen wie in einem Spiel zu verwandeln und dabei seine eigene Seele, mit all ihren Deutungen, Projektionen und Erfahrungen einzubringen. Diese Art der Kunstrezeption ist selbst Kunstprodukt raffinierter sozialer Entwicklungen, der Arbeiter erschrickt laut Kapner vor dieser Mischung aus halb Ernst, halb Spiel, vor diesem Kultivieren des eigenen Gefühls und Selbstgefühls. Siehe Kapner, Gerhardt: Studien zur Kunstsoziologie, s. Anm. 38, p. 113f.
[81] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, s. Anm. 25, p. 24
[82] Kant trifft genau den Geschmack jener Schichten, wenn er schreibt: „’Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.’“ Ibidem, p. 83f.
[83] Ibidem, p. 68.
[84] Ibidem, p. 278.
[85] Ibidem, p. 283f.
[86] Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht, s. Anm. 31, p. 33.
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