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Mehr InfosExamensarbeit, 2000, 126 Seiten
Examensarbeit
1,0
Die Fähigkeit zum Lesen von Texten jeder Art, d.h. die Sinnentnahme aus Geschriebenem, sei es zum Zwecke der Information oder der Unterhaltung, stellt in der heutigen Zeit eine wichtige, nicht zu unterschätzende Fertigkeit dar. Gerade in unserer im „Informationszeitalter“ lebenden Gesellschaft muß sich fast jeder täglich mit Texten aus den verschiedensten Bereichen auseinandersetzen. Auch neue Medien wie das Internet können nur dann sinnvoll genutzt werden, wenn der richtige Umgang mit Texten den Nutzern keine Schwierigkeiten bereitet. Im Zuge einer zunehmenden Globalisierung treffen diese Beobachtungen in gesteigertem Maße auf fremdsprachliche Texte zu, wobei dem Englischen, jedenfalls in unserem Kulturkreis, sicherlich eine führende Rolle zukommt. Die Entwicklung der zu einem reflektierten Textverständnis notwendigen textanalytischen Fähigkeiten in der Schule stellt daher eine wichtige Aufgabe dar; besonders dem Englischunterricht kommt dabei eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu.
Natürlich handelt es sich aber bei dem im folgenden zu untersuchenden Bereich der textanalytischen Fähigkeiten nur um einen Teil im Gesamtzusammenhang des allgemein als „Leseverstehen“ bezeichneten Komplexes, der wiederum seinerseits als eine von vier elementaren sprachlichen Fertigkeiten (four skills) gesehen wird. In dem von uns behandelten Kontext sind nun vor allem diejenigen Fertigkeiten von Interesse, die es ermöglichen, einen Text in allen wesentlichen[1] Einzelheiten zu verstehen, d.h. auf sprachlicher und auf inhaltlicher Ebene; wir bewegen uns demnach vor allem auf dem Gebiet des „intensiven“ Lesens. Man sollte nun jedoch nicht voreilig den Schluß ziehen, daß aufgrund dieser Tatsache Fähigkeiten zu vernachlässigen wären, die eher dem Bereich des „extensiven“ Lesens zugeordnet werden (skimming, scanning, etc.). Es hat sich vielmehr mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, daß diese beiden Bereiche sich gegenseitig überschneiden und bedingen; beide ‘Lesearten’ sind sie für das Verständnis von Texten aller Art unverzichtbar und werden deshalb im weiteren Verlauf näher untersucht.
Eine oft ins Felde geführte Kritik an der Textanalyse ist die Behauptung, sie führe durch die Konzentration auf Detailfragen zu einer unnatürlichen Lesehaltung und erziehe die Schüler somit zu einer Art klinischen Sezierens von Textmaterial. Dieser Vorwurf ist sicherlich gerechtfertigt, wenn man die allgemeine Vorgehensweise in der Oberstufe betrachtet, und wird auch durch meine persönlichen Erfahrungen bestätigt. Dennoch liegt das meiner Meinung nach weniger an dem Format Textanalyse selbst, sondern eher an der Form des Einsatzes im Englischunterricht mit mangelnder Themeneinführung und stereotypen Aufgabenapparaten. Es ist legitim, diesen Zustand zu kritisieren und Verbesserungsvorschläge anzubringen, was ja nicht zuletzt Ziel dieser Abhandlung sein soll. Was jedoch die dominierende Stellung der Textarbeit im fortgeschrittenen Englischunterricht an bayerischen Gymnasien angeht, so wird sich diese in absehbarer Zeit kaum ändern. Zumindest formuliert der bayerische Lehrplan eindeutig: „Texte sind Grundlage der Oberstufenarbeit.“[2]
Nicht zuletzt entfallen in der schriftlichen Abituraufgabe im Leistungskurs Englisch 60 Prozent der zu erreichenden Punkte auf den textanalytischen Teil. Diese Fakten können nicht ignoriert werden und deshalb steht im folgenden nicht so sehr die Frage nach der Daseinsberechtigung von textanalytischen Fähigkeiten im Zentrum der Betrachtung, sondern wie man diese am didaktisch sinnvollsten entwickeln kann.
Man kann nicht davon ausgehen, daß sich Fertigkeiten in dem anscheinend so wichtigen Bereich der Textanalyse nebenbei und automatisch entwickeln, ohne daß sie im Unterricht konkret thematisiert werden. Diese Fähigkeiten müssen vielmehr von Anfang an, d.h. bereits beginnend in der fünften Klasse, kontinuierlich geschult und ausgebaut werden. Es stellt sich die Frage, wie dieser Anspruch konkret umgesetzt werden kann; das ist im weiteren Verlauf dieser Untersuchung die Kernfrage. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Rahmenbedingungen.
Die Arbeit mit Texten nimmt im Englischunterricht an Gymnasien traditionell eine wichtige Rolle ein. Schon bereits mit Beginn des Erlernens dieser Fremdsprache, d.h. meist in der fünften Klasse, setzt sich der Schüler mit dem Textmaterial auseinander, das ihm entweder das im Unterricht eingesetzte Lehrwerk präsentiert oder ihm unmittelbar von seinem Englischlehrer dargeboten wird. Anhand dieser im Anfangsstadium oft einfachen, schriftlich fixierten Dialoge entwickelt der Schüler - idealtypisch gesehen - im Laufe seiner Schulzeit diejenigen Fähigkeiten, die er benötigt, um praktisch am Ende seiner Schullaufbahn ein gewisses Niveau zu erreichen, welches ihm ermöglicht, einen längeren und anspruchsvollen Abiturtext sowohl sprachlich als auch logisch so zu durchdringen, daß er diesen detailliert analysieren kann. Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Prozeß, für den in der Regel neun Schuljahre zur Verfügung stehen[3], eine intensive Ausbildung des Schülers erfordert, in der dieser einerseits die „handwerklichen“ Fähigkeiten einübt, die er bei der Auseinandersetzung mit Texten benötigt, und andererseits zudem das nötige Sachwissen erwirbt, um den Texten auch intellektuell gewachsen zu sein. Angesichts dieser Beobachtungen erscheint mir die Aufstellung der folgenden Hypothese sinnvoll:
Die Entwicklung textanalytischer Fähigkeiten im Englischunterricht an Gymnasien muß kontinuierlich und zielgerichtet verlaufen. Dabei gibt es wechselnde Schwerpunktsetzungen, d.h. bestimmte Aufgaben und Fragestellungen werden zu bestimmten Zeitpunkten eingeführt und eingeübt. Dies geschieht jedoch nicht willkürlich, sondern auf der Basis wissenschaftlich fundierter theoretischer Grundlagen. Der gesamte Prozeß der so gesteuerten Entwicklung textanalytischer Fähigkeiten ist anhand von formalen Bedingungen, wie sie z.B. Lehrplanvorgaben oder verwendete Lehrwerke bilden, analysierbar und die Ergebnisse einer solchen Analyse in Bezug auf den derzeit geltenden Forschungsstand bewertbar.
Im folgenden möchte ich diese Feststellung auf den Prüfstand stellen und die schulische Realität näher beleuchten. Dabei werde ich folgendermaßen vorgehen:
In einem ersten theoretischen Teil versuche ich zunächst, die Grundlegungen darzustellen, die für eine spätere Analyse von Lehrplan und Lehrwerk dringend notwendig sind. Dabei werde ich einerseits auf den Leseprozeß an sich eingehen, d.h. auf die wesentlichen Abläufe, soweit diese im Rahmen der Betrachtung von gesteigerter Bedeutung sind. Andererseits soll knapp erläutert werden, was eigentlich ein Text ist bzw. welche Arten von Texten im Schulgebrauch auftreten.
Nach diesen einleitenden Untersuchungen werde ich mich der Rolle, Funktion und Bedeutung, die textanalytische Fähigkeiten innerhalb der Schule spielen, widmen; dabei versuche ich, die Positionen und Argumente darzustellen, die die Stellung der Textanalyse im Unterricht rechtfertigen.
Im Hauptteil möchte ich zunächst den derzeitigen Forschungsstand umreißen und Folgerungen aus den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten, d.h. versuchen, ein idealtypisches Modell von Textarbeit zu entwerfen, das die Entwicklung von textanalytischen Fähigkeiten zum Ziel hat. Die Absicht ist es, grundlegende Rahmenfaktoren für einen sinnvollen gymnasialen Englischunterricht in dem untersuchten Teilbereich zu ermitteln. Dabei liegt es in der Natur der Sache, daß kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Vielmehr möchte ich einen Überblick auf interessant erscheinende, neuere didaktische Ansätze geben und diese näher erläutern.
In dem sich anschließenden analytischen Teil werde ich die schulische Wirklichkeit, die sich aufgrund der Untersuchung von Lehrplan und Lehrwerk ableiten läßt, unter Anwendung der aufgestellten Hypothese in bezug auf die theoretische Grundlegung kritisch analysieren und anschließend bewerten. In diesem Zusammenhang werde ich mich auf den bayerischen Gymnasiallehrplan beschränken und bei der Lehrwerksanalyse ausschließlich die Publikation Learning English Green Line - Ausgabe Bayern bzw. Skyline verwenden. Dies erscheint mir zum einen im Hinblick auf die Begrenzung des Analysematerials sinnvoll, zum anderen kann sich eine hypothetisch angenommene logische Entfaltung der Vermittlung textanalytischer Fähigkeiten nur innerhalb eines geschlossenen Systems[4] sinnvoll überprüfen lassen. Schließlich bietet mir die Konzentration auf das bayerische Schulsystem außerdem die Möglichkeit, Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit miteinzubringen; chauvinistische Beweggründe liegen nicht vor.
In der Schlußbetrachtung werden die gewonnenen Erkenntnisse schließlich in größere Zusammenhänge eingeordnet und abschließend bewertet.
Allgemein sei noch bemerkt, daß aus Gründen der Einfachheit bei Begriffen, die Personen betreffen, stets die männliche Form verwendet wird.
Um ein solch komplexes und weiträumiges Thema wie das der Entwicklung von textanalytischen Fähigkeiten angemessen bewältigen zu können, ist es zu Beginn notwendig, die zwei wesentlichen Begriffe zu definieren, aus denen sich der Begriff „Textanalyse“ zusammensetzt. Konkret gesagt, scheinen folgende Leitfragen besonders wichtig zu sein:
1) Was ist ein „Text“?
2) Was bedeutet es, einen Text „analysieren“ zu können? Welche grundlegenden Fähigkeiten sind dazu notwendig? Vor allem: Wie funktioniert ‘Lesen’?
Ich möchte zunächst auf den zweiten Fragenkomplex eingehen, da dieser meiner Ansicht nach elementar für das weitere Verständnis ist; die Frage nach den Kennzeichen eines Textes wird im Anschluß daran behandelt. In beiden Fällen wird versucht, den allgemeinen Bezug zum Gesamtthema herzustellen, d.h. es werden bevorzugt diejenigen Aspekte behandelt, die in unserem Zusammenhang relevant sind. Auf genaue praktische Konsequenzen für den Fremdsprachenunterricht kann in diesen theoretischen Grundlegungen noch nicht eingegangen werden; das geschieht jedoch ausführlich zu einem späteren Zeitpunkt der Abhandlung.
Es ist wohl unstrittig, daß die Grundvoraussetzung für die Analyse eines Textes darin besteht, den Text zunächst lesen zu können. Aus diesem Grund möchte ich in einem ersten Teilabschnitt kurz die wesentlichen Mechanismen des Lesevorgangs erläutern. Dabei wird auf einige Schlagwörter eingegangen, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung über dieses Thema in den letzten Jahren geprägt haben („passiver“ Leser, „aktiver“ Leser, „Interaktionsmodell“, etc.). Wenden wir uns zunächst dem Leseprozeß zu.
Zu Beginn der Abhandlung gilt es die wesentlichen Prozesse darzustellen, die mit dem Lesen im allgemeinen und damit mit der Entwicklung textanalytischer Fähigkeiten im besonderen in Verbindung stehen bzw. diese erst ermöglichen. Natürlich würde eine detaillierte Schilderung aller relevanten Vorgänge den Rahmen dieser Arbeit sprengen; daher werden nur diejenigen Abläufe näher beleuchtet, die tatsächlich innerhalb des Untersuchungsgegenstandes unmittelbar von Bedeutung sind. Das bedeutet, daß ein tieferer Einblick in z.B. biochemische Vorgänge innerhalb des Gehirns o.ä. nicht geleistet werden kann.
Es wird darüber hinaus im folgenden ein Modell („Interaktionsmodell“) vorgestellt, mit dessen Hilfe die neuere Forschung versucht, ein so schwer durchleuchtbares und nicht direkt beobachtbares Phänomen wie den Lesevorgang zu erfassen. Die praktischen Folgerungen für den Unterricht, die sich aus diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben, werden aus Gründen der Übersichtlichkeit zu einem späteren Zeitpunkt betrachtet.
Zunächst liegt der Schwerpunkt der Analyse auf dem Leseprozeß und den damit zusammenhängenden Phänomenen. Hierbei ist anzumerken, daß sich die wissenschaftlichen Untersuchungen zumeist auf den muttersprachlichen Spracherwerb und Leseverstehensprozeß konzentrieren; inwieweit sich diese vom fremdsprachlichen unterscheiden, ist bis zum heutigen Tage nicht abschließend geklärt. Im folgenden wird jedoch davon ausgegangen, daß zentrale Prozesse weitgehend analog ablaufen und die gewonnenen Erkenntnisse auch für das Lesen einer Fremdsprache gelten.
Wie bereits kurz erwähnt, besteht die besondere Problematik bei der Untersuchung derjenigen kognitiven Vorgänge, die beim Lesen ablaufen, darin, daß sie sich weitgehend der direkten Betrachtung von außen entziehen. Sie können folglich nur indirekt durch Maßnahmen, wie z.B. Introspektion, Computersimulationen oder Experimente analysiert werden; neuere Untersuchungsarten wie die ERP-Methode[5] versprechen dabei interessante Aufschlüsse. Der Umstand der indirekten Hypothesenüberprüfung führt fast zwangsläufig zu einem riesigen Spektrum von Erklärungsansätzen, in dem die jeweiligen Extremauffassungen so gut wie immer diametral entgegengesetzt aufeinanderstoßen; ich versuche deshalb im folgenden, die momentan verbreitetsten Positionen darzustellen.
Jedem, der sich näher mit der Problematik des Lesens beschäftigt, wird sehr bald klar, daß eine rein technische Beschreibung des Lesevorgangs als bloßes Dekodieren von sprachlichen Zeichen das Phänomen nur ansatzweise beschreiben kann. Lesen, wie es in unserem Zusammenhang relevant ist, ist eben mehr als das Entschlüsseln von Geschriebenem auf graphologischer, morphologischer, syntaktischer und semantischer Ebene. Es geht vielmehr darum, die Bedeutung eines Textes zu verstehen, d.h. die darin enthaltenen Informationen richtig zu deuten. Aus diesem Grund möchte ich auf die Kernbegriffe der Diskussion eingehen.
Dabei stellt sich vor allem die Frage, welche Rolle der Lesende einnimmt, wenn er sich mit Geschriebenem auseinandersetzt. Handelt es sich dabei – wie lange Zeit vermutet wurde – um einen passiven Vorgang oder muß man vielmehr von einem ‘aktiven Leser’ ausgehen? Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Begriff ‘Interaktivität’?
Um die Rolle des Lesers im Leseprozeß adäquat analysieren zu können, muß meiner Ansicht nach zunächst ein der Analyse zugrunde liegendes Kommunikationsmodell erläutert werden.
Aus der großen Menge an differenzierten Kommunikationsmodellen habe ich, Nuttal folgend[6], ein stark vereinfachtes Beispiel ausgewählt, weil es einerseits angemessen knapp dargestellt werden kann, andererseits aber die wesentlichen Aspekte enthält, die für die weitergehende Untersuchung von Bedeutung sind.
Sehr verallgemeinernd gesprochen kodiert darin ein Sender eine Nachricht, die vom Empfänger wieder dekodiert werden muß, um verstanden zu werden; auf diese Weise wird Kommunikation hergestellt. In unserem Fall handelt es sich bei dem Sender um jemanden, der einen schriftlichen Text verfaßt, d.h. ein Schreiber kodiert die Nachricht, die er übermitteln möchte als Text; als Code wird die Schrift verwendet. Ein Leser muß das Geschriebene schließlich wieder dekodieren; er nimmt also die Rolle des Empfängers ein. Erst nachdem das erfolgt ist, ist die Nachricht erfolgreich übertragen. Folgendes Schaubild soll den Vorgang verdeutlichen:
Abbildung 1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(aus: C. Nuttall, Teaching reading skills in a foreign language. Oxford u.a. , 1996, S.4)
Es würde zu weit führen, jeden Aspekt dieses Vorgangs im Detail zu beleuchten; entscheidend erscheint mir jedoch die Beantwortung der Frage nach der Rolle des Empfängers, bzw. des Lesenden.
Lange Zeit wurde das Lesen, vor allem im Vergleich zu so offensichtlich aktiven Tätigkeiten wie Schreiben und Sprechen, als passiv-rezeptiver Vorgang angesehen. Es wurde angenommen, daß das Dekodieren eines Textes und die Sinnentnahme im großen und ganzen automatisch geschehe, sofern nur der Schreiber seine Aufgabe richtig erfüllt hat. Diese behavioristisch geprägte Auffassung von einem nur in eine Richtung gehenden Reiz-Reaktions-Modells ist jedoch mittlerweile nicht mehr haltbar, zumal triftige Argumente gegen solch eine passive Rolle des Lesers sprechen.
Zum einen erschließt sich nicht jeder Text jedem Leser in der gleichen Weise. Was der eine als leicht bezeichnet, kann den anderen vor schier unlösbare Probleme stellen; die Dekodierung läuft demnach unterschiedlich und keineswegs automatisch ab. Zum anderen könnte man aus obengenannter These folgern, daß bei optimalen Voraussetzungen ein totales Textverständnis möglich wäre; dies erweist sich bei genauerer Betrachtung jedoch sehr bald als Trugschluß. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Jeder Leser unterscheidet sich von anderen sowohl durch unterschiedliches Vorwissen, als auch durch divergierende Erfahrungswerte und Einstellungen, was ein abweichendes Herantreten an den gleichen Text erklärt. Aber natürlich unterscheiden sich in der gleichen Hinsicht auch Schreiber und Leser, was ein wirklich „totales“ Verstehen in der Realität ausschließt. Beim Lesen eines fremdsprachlichen Textes wirken sich diese Faktoren natürlich noch viel stärker aus, vor allem was das Vorwissen (bzw. das Hintergrundwissen) anbetrifft.
Zieht man die obengenannten Faktoren in Betracht, so läßt sich eher auf einen aktiven Lesevorgang schließen. Was bedeutet jedoch der Begriff ‘aktiv’ in diesem Zusammenhang? Wie kann man beim Lesen eines Textes aktiv werden? Es ist ja in der Regel nicht möglich, den Verfasser eines Textes bei Unklarheiten direkt zu befragen, wie das bei einer mündlichen Kommunikation vorstellbar ist. Wenden wir uns also den Fähigkeiten zu, die einen ‘aktiven Leser’ auszeichnen.
Die obige Bezeichnung legt die Vermutung nahe, daß der Lesevorgang in vielfältiger Weise Eigeninitiative vom Leser erfordert. Zunächst muß sich der Leser schon vor dem Lesen eines Textes bewußt sein, daß er nicht alles in allen Einzelheiten verstehen wird. Diese Erkenntnis schärft den Blick für Unklarheiten, die sonst in der falschen Annahme eines totalen Verständnisses übersehen werden können. Daneben muß der Leser aktiv und gezielt sein Vorwissen aktivieren, was Textsorte, Thema, Autor, usw. anbetrifft, um die im Text enthaltenen Informationen richtig identifizieren, d.h. auch in einem über den hinausgehenden, differenzierteren Zusammenhang einordnen zu können. Schließlich muß der ‘aktive Leser’, und das gilt besonders beim Lesen fremdsprachlicher Texte, schwieriges Vokabular erschließen, sei es textimmanent aus dem Kontext oder mit Hilfe eines Wörterbuches. Von passivem Rezipieren kann demnach keine Rede sein; der Leser befindet sich eindeutig in einem aktiven Prozeß:
Lesen ist eine aktive Auseinandersetzung des Lesers mit dem vom Autor im Text versprachlichten Wissen. Im Verlauf der Textverarbeitung trägt der Leser sein in Form von Schemata organisiertes Sach- und Handlungswissen an den Text heran und verknüpft es mit den dort präsentierten Wissensstrukturen.[7]
Man geht heute sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnet das Lesen als „interaktiven“ Vorgang. Die Schlagwörter „Interaktion“ und „Interaktivität“ sind ja in der heutigen Zeit weit verbreitet und werden in vielen Bereichen leider oft auch unkritisch und unreflektiert verwendet. Inwieweit man von einem interaktiven Leseprozeß sprechen kann, soll im folgenden untersucht werden.
„Interaktiv“[8] im Bezug zum Leseprozeß bedeutet, daß der Leser in der bereits weiter oben geschilderten Art und Weise zunächst aktiv werden muß. Die Resultate, die sich aus diesem aktiven Herangehen an den Text ergeben, sozusagen das ‘Feedback’ des Textes, beeinflussen nun wiederum ihrerseits das weitere Vorgehen des Lesers. Es kommt zu einem ständigen Austausch zwischen Text und Leser. Diese sehr theoretisierende Beschreibung des Lesevorgangs erfordert jedoch auf beiden Seiten, d.h. sowohl beim Textverfasser als auch beim Leser, gewisse Grundvoraussetzungen. Die Bedingungen, die diesen gemeinhin als „kooperatives Prinzip“[9] bekannten Grundsatz der Kommunikation konstituieren, erscheinen möglicherweise selbstverständlich, müssen aber meiner Meinung nach trotzdem kurz explizit benannt werden.
1.2.4.1. Das kooperative Prinzip
Zum einen geht der Leser (oder Rezipient) davon aus, daß der Verfasser eines Textes einen ihm bekannten Code (=Sprache) verwendet. Weiterhin nimmt er an, daß der Text einen Sinn- bzw. Bedeutungsgehalt hat und dem Schreiber wiederum daran gelegen war, daß der Leser diesen Inhalt auch verstehen kann.
Der Verfasser (oder Emittent[10] ) eines Textes setzt voraus, daß der Leser gewisse Anstrengungen unternimmt, um die von ihm kodierte Nachricht zu entschlüsseln. Dazu gehören neben vorhandener Aufmerksamkeit auch die bereits weiter oben behandelte Aktivierung des Vorwissens seitens des Lesers. Außerdem wird sich der Emittent in der Regel bemühen, den Text so zu gestalten, daß möglichst viele Leser ihn interessant und informativ finden. Mißachtet einer der beiden Kommunikationspartner eine dieser grundsätzlichen Forderungen, so ist der Leseprozeß von vornherein zum scheitern verurteilt.[11]
1.2.4.2. Konkrete Ausformungen von „interaktivem“ Lesen
Was bedeutet nun aber „interaktives“ Lesen konkret? Auf welche Weise liefert ein Text dem Leser ‘Feedback’, d.h. inwieweit kann der Leser im Text Hinweise erkennen, die ihm bei der Bedeutungsfindung und Interpretation nützlich sind?
Eine erste im Bezug auf die Zeitschiene rückwärts gewandte Anwendungsmöglichkeit liegt auf der Hand: Der Leser kann an schwierigen Stellen des Textes innehalten, Textpassagen nochmals lesen, schwierige Wörter nachschlagen oder sich über das Thema des Textes anderweitig informieren; all das erleichtert es ihm, sich der vom Autor intendierten Nachricht zu nähern. Von einer bestimmten Stelle des Textes ausgehend können bereits zurückliegende Abschnitte auf diese Weise analysiert werden.
Daraus ergibt sich jedoch zusätzlich eine zweite, nicht minder interessante und erfolgversprechende Vorgehensweise. Analog zur (zeitlich) rückwärtsgewandten Untersuchung des Textes kann andererseits ebenfalls bereits im Vorgriff auf die tatsächliche Lesetätigkeit ein „interaktives“ Herangehen an den Text vorbereitet und geleistet werden. Das bedeutet konkret, daß der Leser während des Lesens ständig bestimmte Voraussagen zum weiteren Verlauf des Textes trifft, welche sich dann im folgenden bewahrheiten oder als falsch erweisen. Das führt zu einem erweiterten Verständnis des Lesevorgangs als ein „psycholinguistic guessing game“:
It does seem to be the case that as we read we make hypotheses about what the writer intends to say; these are immediately modified by what he actually does say, and are replaced by new hypotheses about what will follow. [...] Such occurrences lend support to the notion of reading as a constant making and remaking of hypotheses - a ‘psycholinguistic guessing game’.[12]
„Interaktives“ Lesen wird in diesem Zusammenhang als „das Ergebnis von parallel verlaufenden Verarbeitungsschritten, die wechselseitig vom Text (data-driven) und vom Leser (concept-driven) initiiert werden“[13] angesehen.
Dieser „interaktive“ Aspekt des Lesens läßt sich auch im Unterricht gut anwenden und einüben; auf die genaue Ausgestaltung solcher Übungsformen wird in einem später folgenden, auf die praktische Anwendung ausgerichteten Abschnitt näher eingegangen werden.
Ich hoffe, daß in diesem ersten einleitenden Kapitel deutlich geworden ist, daß der Leseprozeß ein äußerst vielschichtiger Vorgang ist, der in all seinen Details nur sehr schwierig darzustellen ist. Dennoch läßt sich zusammenfassend festhalten, daß Lesen nicht nur die mechanische, teils automatisierte Dekodierung von Buchstabenfolgen bedeutet. Es schließt darüber hinaus auch die sich aus einer aktiven Beteiligung des Lesers, in gewissem Sinne aus einem „interaktiven“ Vorgang, ergebende Interpretation des Textmaterials mit ein. Lesen ist mit Sicherheit kein passiver Vorgang; es muß vielmehr als ein auf mehreren Ebenen gleichzeitig ablaufender, „interaktiver“ Prozeß angesehen werden, oder anders ausgedrückt: „Es ist eine Form sprachlichen Handelns mit allen Charakteristika menschlicher Handlungen.“[14]
Nach dieser grundlegenden und keinen Vollständigkeitsanspruch erhebenden Darstellung des Leseprozesses scheint es mir sinnvoll, an dieser Stelle auf einen zweiten wesentlichen Punkt einzugehen, der mit dem Lesen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis steht, nämlich auf den Begriff ‘Text’. Es ist äußerst schwierig und – wie oben gesehen – in der Praxis kaum möglich, den einen Terminus ohne Zuhilfenahme des anderen näher zu erläutern, besonders wenn es um die Erklärung von Begriffen wie Interaktion oder Kooperation geht. Es ist jedoch unstrittig, daß Lesen die Grundlage für die Auseinandersetzung mit Texten ist, egal ob es um das Rezipieren oder das Konstruieren geht; aus diesem Grund hatte die Beschäftigung mit den grundlegenden Vorgängen des Lesens zunächst Vorrang.
Nun stellt sich jedoch die Frage, welche Faktoren gemeinhin einen Text kennzeichnen. Was unterscheidet einen Text von einem „Nichttext“ oder „Pseudotext“[15] ? Gibt es Merkmale, die Textualität konstituieren? Wie können solche Kriterien aussehen? Diese Fragen stehen zunächst im Mittelpunkt der Betrachtung und sollen kritisch überprüft werden. Anschließend sollen speziell diejenigen Texte näher betrachtet und typisiert werden, die tatsächlich im Schulgebrauch eingesetzt werden, also die sog. „Lehrbuchtexte“.
Versucht man sich einem Thema wie der Entwicklung textanalytischer Fähigkeiten zu nähern, so stellt sich zunächst grundlegend die Frage, was denn überhaupt mit dem Begriff ‘Text’ gemeint ist. Dabei stößt man im Verlauf der Nachforschungen auf eine Vielzahl möglicher Definitionen und Beschreibungen. Wolfgang Lörscher stellt stellvertretend für viele andere Autoren richtig fest: „Die Bestimmung des Gegenstands der Textlinguistik ist naturgemäß von entscheidender Wichtigkeit. Gleichwohl gibt es bislang keine akzeptierte Definition von Text.“[16]
Diese Beobachtung überrascht nicht, wenn man davon ausgeht, daß Definitionen in der Sprachwissenschaft immer in Hinblick auf konkrete Fragestellungen und Untersuchungsschwerpunkte zu sehen sind und, wissenschaftlich gesehen, generell keinen dauerhaften Geltungsanspruch stellen können und dürfen. Aus diesen Gründen habe ich mich entschlossen, aus der großen Vielfalt kursierender Definitionen zum Thema Text und Textualität diejenige von Beaugrande/Dressler[17] zum Hauptgegenstand einer näheren Betrachtung zu machen. Zum einen ist diese Abhandlung Grundlage vieler anderer Publikationen; zum anderen kann der von Beaugrande/Dressler verfolgte „prozedurale Ansatz“[18] als kennzeichnend und beispielhaft für die dominierende Forschungsrichtung innerhalb der Textlinguistik gelten. Außerdem gelten die Autoren als Vertreter einer kommunikationsorientierten Textlinguistik, die Anfang der 80er Jahre im Gegensatz zu der verbreiteten sprachsystematisch ausgerichteten Textlinguistik entwickelt wurde.
Die von den beiden aufgestellten und in vielfacher Weise rezipierten ‘Sieben Kriterien der Textualität’ sollen einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Insgesamt wird das Thema aus offensichtlichen Gründen jedoch nur insoweit beleuchtet, als es im Zusammenhang mit dem übergeordneten Untersuchungsgegenstand von Relevanz und Interesse ist.
In unserem alltäglichen Leben sind wir ständig mit den verschiedensten Texten konfrontiert, bzw. mit dem, was wir gemeinhin als „Text“ bezeichnen. Dazu zählen Texte in Musikstücken, aber auch Gesetzestexte, Gebrauchstexte, literarische Texte, Bibeltexte, der Text eines Theaterstückes, etc.. Der Begriff leitet sich im übrigen vom lateinischen „textus“ ab und bedeutet „Gewebe“. Beim Versuch einer ersten Definition können wir uns zunächst Brinker anschließen, auch wenn dessen Formulierung sehr allgemein bleibt und gewisse Schwachstellen[19] enthält: „’Text’ ist eine (schriftlich) fixierte sprachliche Einheit, die in der Regel mehr als einen Satz umfaßt.“[20]
Diese grundlegende Aussage ist jedoch im Rahmen einer wissenschaftlichen Betrachtung des Themas nicht ausreichend. Deshalb soll im folgenden der Ansatz von Beaugrande/Dressler näher untersucht werden, vor allem im Hinblick darauf, ob deren ‘Sieben Kriterien der Textualität’ wirklich hinreichend genau das Phänomen Text erfassen und beschreiben können. Textualität, wie ihn auch Beaugrande/Dressler verstehen, meint „die Gesamtheit aller Eigenschaften, die einen Text zum Text machen, die ‘Textlichkeit’.“[21]
Die Kernaussage ihrer Textdefinition wird bereits im einleitenden Kapitel formuliert und lautet:
Wir definieren TEXT als eine KOMMUNIKATIVE OKKURENZ [...], die sieben Kriterien der Textualität erfüllt. Wenn irgendeines dieser Kriterien als nicht erfüllt betrachtet wird, so gilt der Text nicht als kommunikativ. Daher werden nicht kommunikative Texte als Nicht-Texte behandelt [...][22]
Es wird sich im folgenden zeigen, ob dieser „ziemlich schillernde“[23] Textbegriff einer kritischen Überprüfung standhält. Wenden wir uns also nun den sieben Kriterien im Einzelnen zu.
Das erste Merkmal, das laut Beaugrande/Dressler für Texte kennzeichnend ist, ist die Tatsache, daß sie Kohäsion besitzen. Kohäsion ist demnach ein Phänomen, daß sich auf die Oberfläche eines Textes bezieht, also „auf GRAMMATISCHEN ABHÄNGIGKEITEN beruht.“[24] Zu solchen grammatischen Abhängigkeiten zählen vor allem totale Rekurrenz („exakte Wiederkehr des sprachlichen Materials“[25] ) bzw. partielle Rekurrenz, Parallelismus, Paraphrase, Pro-Formen, Ellipse, Junktionen (Konjunktion, Disjunktion, Kontrajunktion und Subordination) und schließlich Tempus und Aspekt; daneben wird durch das Phänomen der Intonation in gesprochenen Texten ebenfalls in gewissem Maße Kohäsion hergestellt.[26]
Während, wie oben erläutert, Kohäsion die syntaktischen Mittel an der Textoberfläche beschreibt, bezieht sich der Begriff Kohärenz auf semantisch-kognitive Aspekte, d.h. auf die „Konstellation von KONZEPTEN (Begriffen) und RELATIONEN (Beziehungen), welche dem Oberflächentext zugrundeliegen [...].“[27] Diese Phänomene der „Sinnkontinuität“[28] sind jedoch nicht direkt im Text enthalten, sondern sind „vielmehr das Ergebnis kognitiver Prozesse der Textverwender“[29]. Eine direkte Folge daraus ist, daß „[...] ein Text [...] nicht von sich selbst Sinn ergibt, sondern erst durch die Interaktion von TEXTWISSEN mit gespeichertem WELTWISSEN“[30], die vom Rezipienten geleistet werden muß; die Beziehungen zwischen den einzelnen Konzepten sind zumeist[31] logisch, ontologisch oder kulturell begründet. Kann ein Leser in einer sprachlichen Äußerung, sei es schriftlicher oder mündlicher Art, auf Basis seines (Welt-)Wissens Sinnzusammenhänge herstellen, so ist das Kriterium der Kohärenz erfüllt. Die Bedeutung dieses Konzeptes ist auch nach Ansicht anderer Autoren nicht zu unterschätzen: „Kohärenz stellt offenbar das dominierende Textualitätskriterium dar; sie ist zentral für das Zustandekommen eines Textes.“[32]
Diese ersten beiden Begriffe der Kohäsion und der Kohärenz sind laut Beaugrande/Dressler als textzentrierte Termini zu verstehen, d.h. sie betreffen direkt das sprachliche Material. Betrachten wir nun diejenigen Kriterien, die sich vor allem auf die verschiedenen Faktoren innerhalb des Kommunikationsvorgangs beziehen (Produzent, Rezipient, Situation, Information, etc.) und nach Ansicht der beiden Autoren verwenderzentriert sind.[33]
Der Begriff Intentionalität beschreibt die „Einstellung [...] des Textproduzenten, der einen kohäsiven und kohärenten Text bilden will, um [...] Wissen zu verbreiten [...]“[34]. Damit entspricht es dem bereits in Punkt 1.2.4.1. angesprochenem kooperativen Prinzip, zumindest was die Rolle des Emittenten anbetrifft.
Auch der Rezipient muß laut diesem Kriterium gewisse Mindestanforderungen an das ihm präsentierte sprachliche Material stellen, um es als Text auffassen zu können. Er kann demnach „einen kohäsiven und kohärenten Text [...] erwarten, der für ihn nützlich oder relevant ist, z.B. um Wissen zu erwerben oder für Zusammenarbeit in einem Plan vorzusorgen.“[35] In diesem Postulat spiegelt sich ebenfalls das bereits mehrfach erwähnte kooperative Prinzip als Grundlage von Kommunikation wieder. Dieses vierte Kriterium zur Textualität ist jedoch nicht als passiv-fordernde Erwartungshaltung dem vermeintlichen Text gegenüber aufzufassen; vielmehr muß sich der Rezipient aktiv mit dem sprachlichen Material auseinandersetzen und gegebenenfalls Leerstellen und Ambiguitäten[36] selbst entschlüsseln, d.h. „durch [...] eigene Beiträge zum Textsinn die Kohärenz unterstützen.“[37] Dieses überaus wichtige Einbringen des Rezipientenwissens wird als Inferenzziehung[38] bezeichnet.
Das fünfte Merkmal im Katalog der Textualitätskriterien von Beaugrande und Dressler ist das der Informativität. Sie verstehen darunter „das Ausmaß der Erwartetheit bzw. Unerwartetheit oder Bekanntheit bzw. Unbekanntheit/Ungewißheit der dargebotenen Textelemente.“[39] Es wird zurecht darauf hingewiesen, daß die Auseinandersetzung mit informativen sprachlichen Material, also „echten“ Texten, zwar schwieriger aber auch interessanter ist, als die Beschäftigung mit wenig informativen, „marginalen“[40] Texten. Diese Skalierung von Textualität in Bezug auf Informativität birgt jedoch auch Gefahren, denn der Umkehrschluß erweist sich als problematisch: „Wenn ein Text, der nur Bekanntes enthält, nicht informativ ist, müßte umgekehrt ein Text, der nur Unbekanntes bringt [...] höchstgradig informativ sein.“[41]
Deshalb schränken Beaugrande/Dressler dieses Kriterium selbst ein und raten, „die Verarbeitung nicht so stark zu belasten, daß der Kommunikationserfolg gefährdet wird.“[42] Informativität tritt auf diese Weise praktisch in Konkurrenz zur Kohärenz, die vom Prinzip des Bekannten und Erschließbaren ausgeht; in einem Text muß daher ein Ausgleich zwischen neuer, unbekannter Information und kohärenzstiftendem Bekannten hergestellt werden, d.h. ein Kompromiß zwischen Informativität und Kohärenz.
Als weiteres Textualitätskriterium wird die Situationalität aufgeführt. Dieses Merkmal bezieht sich auf die (äußeren) Umstände, die einen Text bedingen, d.h. es „betrifft die Faktoren, die einen Text für eine Kommunikations-SITUATION RELEVANT machen.“[43] Folglich ist ein Text immer abhängig von gewissen situativen Faktoren, oder anders gesagt, erst durch einen bestimmten situativen Zusammenhang wird eine sprachliche Äußerung zu einem Text. Es gibt demnach streng genommen keine Texte, die auf sich allein gestellt als solche bezeichnet werden könnten. Erst durch den außersprachlichen Kontext werden bestimmte Lesarten nahegelegt und gegebenenfalls bestehende Ambiguitäten eindeutig aufgelöst.[44] Dies trägt wesentlich zu einer ökonomischeren Textproduktion bei, da Sekundärinformationen oft nicht sprachlich explizit ausgedrückt werden müssen, sondern bereits die jeweiligen situativen Faktoren einen eindeutigen Sachzusammenhang nahelegen.
Das letzte Merkmal, das Beaugrande und Dressler in ihrem Kriterienkatalog zur Textualität anführen ist das der Intertextualität: „Diese betrifft Faktoren, welche die Verwendung eines Textes von der Kenntnis eines oder mehrerer vorher aufgenommener Texte abhängig macht.“[45]
Das Kriterium der Intertextualität wird hierbei, wie Vater richtig bemerkt[46], in zweierlei Hinsicht verstanden. Zum einen dient es einer Einteilung von Texten in Textsorten, welche jeweils gewisse Elemente und Eigenschaften gemeinsam haben. Zum anderen ist mit dem Begriff Intertextualität gemeint, daß ein Text unter Umständen nur dann verstanden werden kann, wenn man „den vorherigen Text zu Rate ziehen“[47] kann. Dies ist bei gewissen Textsorten wie Parodien, Kritiken, Entgegnungen oder Reportagen zwingend der Fall. Aber auch in anderen Textsorten gehören Erscheinungen wie Anspielungen, Andeutungen und Wortspiele oft zum Phänomen der Intertextualität; diese sind im ersten Moment vermeintlich zusammenhanglos und fehl am Platze, doch die „Erhöhung der Interessantheit gleicht den Mangel an unmittelbarer situationeller Relevanz aus“[48].
Die dargestellten sieben Kriterien sind nach Ansicht von Beaugrande/Dressler konstitutive Prinzipien der Textualität. Daneben führen die beiden Autoren noch drei regulative Prinzipien an, nämlich Effizienz, Effektivität und Angemessenheit.[49]
Ich hoffe, es ist im Verlauf dieses Abschnittes deutlich geworden, daß es nicht einfach ist, eine eindeutige Definition von ‘Text’ bzw. ‘Textualität’ zu leisten. Dennoch erschienen die einzelnen Aspekte und Kriterien einer kritischen Betrachtung wert. Auf Begriffe wie GEI, Thema, Thema-Rhema-Analyse, Quästio eines Textes, etc.,[50] kann jedoch in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Sie werden gegebenenfalls an einer späteren Stelle erläutert, falls sie dort relevant sind.
Die Auswahl von geeigneten Texten für den Unterricht unterliegt naturgemäß gewissen formalen Restriktionen. Während in einer späteren Stufe (etwa ab Klasse 10) des Gymnasiums verstärkt authentische Texte (unveränderte Originaltexte) verwendet werden oder sogar längere Werke unterrichtsbegleitend als Lektüre gelesen werden, so bilden in der Anfangsphase des Englischunterrichts vor allem die im verwendeten Lehrwerk enthaltenen und speziell dafür konzipierten Texte die Grundlage des textorientierten Unterrichts. Diese konstruierten Schulbuchtexte werden im allgemeinen als „didaktisch und methodisch gestaltete Texte, die im Lehrprozeß Verwendung finden und deren Fachlichkeitsgrad auf das Ausbildungsziel, das Alter und die fachlichen Vorkenntnisse des Lernenden abgestimmt ist“[51] definiert.
Unterschieden werden Lehrbuchtexte für den Schulunterricht, den Hochschulunterricht und die Erwachsenenbildung, wobei unser Schwerpunkt auf der Betrachtung des erstgenannten Bereichs liegt. Die Bedeutung von konstruierten Texte im Rahmen der Unterrichtsgestaltung ist mitunter stark hervorgehoben und als von zentraler Wichtigkeit gewertet worden. Diese eigens für das Lehrbuch erstellten Texte müssen jedoch begrifflich klar von authentischen Texten getrennt werden:
In addition to, and distinct from, those publications originally written for a different purpose which may be adopted as textbooks, there are publications produced as textbooks: with the purpose of presenting a body of knowledge in such a way that there is progression both in levels of complexity of content and in expression, so that the learner can advance step by step.[52]
Inhaltlich weisen alle Lehrbuchtexte gewisse unveränderliche Merkmale auf, die sich durch die intentionale Ausrichtung auf die Zielgruppe ‘Schüler’ erklären lassen: „Dazu zählen die Beschreibung und Erklärung fachbezogener Fakten und Sachverhalte, Beispiele mit Hilfe der Induktion und außerdem die Vermittlung von Nebeninformationen, die Interesse wecken, zur Selbsttätigkeit anregen, motivierend und stimulierend wirken.“[53]
Neben dem angesprochenen didaktischen Prinzip der Selbsttätigkeit muß außerdem das Prinzip der Anschaulichkeit in den Lehrbuchtexten verwirklicht werden.[54] Von den authentischen Texten und den Lehrbuchtexten unterscheidet man zusätzlich noch sog. ‘semi-authentische’ Texte, d.h. speziell für den Unterricht aufbereitete Originaltexte, die sich durch vereinfachte Vokabelwahl, grammatische Vereinfachungen, Kürzungen, etc. auszeichnen oder Texte, denen durch eine betreffende Gestaltung (à Layout) der Anschein von Authentizität verliehen wurde.
Die Frage nach einem sinnvollen Einsatz dieser drei Grundtypen der im Unterricht verwendeten Texte stellt sich erst an einer späteren Stelle, wenn es um eine Gesamtkonzeption fremdsprachlichen Unterrichts und die Entwicklung textanalytischer Fähigkeiten geht. In diesem Abschnitt sollten die relevanten Begriffe des Bereiches ‘Lehrbuchtexte’ zumindest kurz angesprochen und vorab geklärt werden.
Nachdem in den beiden einleitenden Kapiteln wichtige theoretische Grundlegungen zum Lesevorgang und zur Textualitätsbestimmung im Vordergrund der Betrachtung standen, wenden wir uns nun direkt dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand der, nämlich der Textanalyse, zu. Im nächsten Kapitel soll deren Stellung und Bedeutung, deren Möglichkeiten und Grenzen im Rahmen des Schulunterrichts analysiert werden.
Es bestehen im allgemeinen wohl wenig Zweifel an der herausragenden Stellung der Textarbeit im Englischunterricht am Gymnasium; die Beschäftigung mit Texten, egal ob diese authentisch, semi-authentisch oder konstruiert sind, stellt ein wesentliches Kennzeichen des heutigen fremdsprachlichen Unterrichts dar und nimmt, v.a. in den fortgeschrittenen Lernjahren, einen Großteil der Unterrichtszeit ein. Die zentrale Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, ist: Gibt es objektive (wissenschaftliche) Legitimationsgrundlagen, die diese dominierende Rolle der Textarbeit rechtfertigen? Anders gefragt, wo liegen eigentlich die immanenten Vorteile der Textanalyse im Vergleich zu anderen Unterrichts- und Übungsformen wie Diktat, Übersetzung, Version, etc.? Wie können durch Textarbeit allgemeine, fächerübergreifende und fachspezifische Lehrziele besonders nachhaltig vermittelt werden? Ist Textarbeit wirklich notwendig, oder könnte man nicht zugunsten eines auf „oral drills“ ausgerichteten Unterrichts völlig darauf verzichten? Und schließlich: Wie ist dominierende Stellung von Textanalyse im Englischunterricht der gymnasialen Oberstufe zu bewerten?
Diese und ähnliche Frageansätze sollen im folgenden behandelt und geklärt werden. Zunächst möchte ich mich einigen neueren wissenschaftlichen Ansätzen zuwenden, die die Wichtigkeit von Texten, auch innerhalb des schulischen Spracherwerbs, unterstreichen. Anschließend wird auf die Stellung von Textarbeit im Unterricht eingegangen, wie sich diese nach Maßgabe des Lehrplans ergibt. Danach wird die Frage nach den spezifischen Möglichkeiten und Grenzen der Textarbeit im Hinblick auf den konkreten Unterricht und die Umsetzung der postulierten Ziele untersucht. In einem letzten Punkt soll schließlich noch kurz auf Sinn und Unsinn von Textaufgaben zu Prüfung und Lernzielkontrolle eingegangen werden. Wenden wir uns nun den wissenschaftlichen Legitimationsansätzen von schulischer Textarbeit zu.
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[1] Der Anspruch eines „totalen“ Verständnisses führt in der Regel zu einem „Zerpflücken“ des Textes und muß daher eingeschränkt werden. Diese Problematik wird im Rahmen der praktischen Anwendung nochmals genauer dargestellt werden.
[2] Amtsblatt der Bayerischen Staatsministerien für Unterricht und Kultus und Wissenschaft und Kunst, KWMBI So.-Nr. 2/1992, S. 92
[3] Einige Bundesländer vermitteln das Abitur in acht Jahren
[4] Schulsystem (Bayerische Gymnasien) und geschlossene Publikation (Learning English Green Line Ausgabe Bayern / Skyline Edition B)
[5] M. Lutjeharms, Lesen in der Fremdsprache, in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung , 5 (2), 1994 , S. 39
[6] C. Nuttall, Teaching reading skills in a foreign language. Oxford , 1996, S. 4 ff.
[7] H. Stiefenhöfer, Übungen zum Leseverstehen, in: K.-R. Bausch (Hrsg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht, Tübingen, 1994, S. 246
[8] Da eine wirkliche Interaktivität (wie etwa in einer mündlichen Kommunikationssituation) nicht vorliegt, wird der Begriff zunächst in Anführungszeichen gesetzt.
[9] vgl. C. Nuttall, Teaching reading skills, S.10
[10] Der Begriff „Emittent“ geht auf H. Glinz zurück.
H. Glinz, Textanalyse und Verstehenstheorie I, Wiesbaden, 1977
[11] Dieses kooperative Prinzip ist auch in den Textualitätskriterien von Beaugrande/Dressler (v.a. Intentionalität, Akzeptabilität) enthalten und wird an einer späteren Stelle näher dargestellt.
[12] C. Nuttall, Teaching reading skills, S. 12
[13] H. Stiefenhöfer, Übungen zum Leseverstehen,, S. 246
[14] H. Stiefenhöfer, Übungen zum Leseverstehen,, S. 247
[15] Diese Begriffe verwenden u.a. Beaugrande/Dressler
[16] W. Lörscher, Textstrukturen im Englischen, in: R. Ahrens (Hrsg.), Handbuch Englisch als Fremdsprache, Berlin, 1995, S. 165
[17] R.-A. de Beaugrande / W. U. Dressler, Einführung in die Textlinguistik, Tübingen, 1981
[18] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik
[19] vgl. H. Vater, Einführung in die Textlinguistik, München, 1994, S. 15
[20] Klaus Brinker, Linguistische Textanalyse, Berlin, 1992, S.12
[21] H. Vater, Einführung in die Textlinguistik, S. 31
[22] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S.3
[23] H. Vater, Einführung in die Textlinguistik, S. 23
[24] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 4
[25] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 86
[26] Für genaue Erläuterungen und Textbeispiele, siehe Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 50 - 87
[27] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 5
[28] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 88
[29] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 7
[30] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 8
[31] R. Harweg, Pronomina und Textkonstitution, München, 1979
[32] H. Vater, Einführung in die Textlinguistik, S. 65
[33] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 8
[34] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 8
[35] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 9
[36] Das Auftreten solcher die Akzeptabilität erschwerender Störungen kann unbeabsichtigt oder auch bewußt (als Stilmittel) geschehen. Vgl. hierzu Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 9
[37] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 9
[38] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 9
[39] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 11
[40] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 11
[41] H. Vater, Einführung in die Textlinguistik, S. 55; Als Beispiel nennt der Autor ein Gedicht von Christian
Morgenstern „Das große Lalula“
[42] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 11
[43] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 12
[44] vgl. das Beispiel: LANGSAM SPIELENDE KINDER nach Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 12
[45] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 12
[46] H. Vater, Einführung in die Textlinguistik, S. 58
[47] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 13
[48] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 13
[49] Beaugrande/Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 14
[50] einen Überblick bietet H. Vater, Einführung in die Textlinguistik, S. 74 ff.
[51] R. Gläser, Fachtextsorten im Englischen, Tübingen, 1990, S. 148
[52] vgl. R. Gläser, Fachtextsorten im Englischen, S. 150
[53] R. Gläser, Fachtextsorten im Englischen, S. 149
[54] vgl. R. Gläser, Fachtextsorten im Englischen, S. 149/150
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