Veröffentlichen auch Sie Ihre Arbeiten - es ist ganz einfach!
Mehr InfosDiplomarbeit, 2000, 116 Seiten
Psychologie - Klinische u. Gesundheitspsychologie, Psychopathologie
Diplomarbeit
1,3
1 Einführung
2 Epidemiologie
2.1 Erläuterungen zum Sexualstrafrecht
2.2 Häufigkeiten von Straftaten gg. d. sexuelle Selbstbestimmung in Dts
3 Ätiologie
3.1 Psychoanalytische Theorien
3.1.1 Psychodynamik
3.1.2 Dimensionalität
3.1.3 Bedeutungsgehalt
3.2 Lern- und Handlungstheorien
3.3 Biologische Ansätze
4 Tätertypologien
4.1 Allgemeine Klassifikationen
4.2 Deliktspezifische Klassifikationen
4.2.1 Vergewaltigung
4.2.1.1 Die Typologie von Groth (1979)
4.2.1.2 Die Typologie von Rehder (1990)
4.2.2 Sexueller Missbrauch
4.2.2.1 Die Typologie von Groth (1978)
4.2.2.2 Das Vier-Faktoren-Modell von Finkelhor (1984)
5 Therapie
5.1 Theoretische Therapiekonzepte
5.1.1 Psychoanalyse
5.1.2 Kognitive Verhaltenstherapie
5.1.3 Relapse prevention
5.1.4 Chirurgische Eingriffe bzw. medikamentöse Behandlung
5.2 Therapieprogramme
5.2.1 Das Langenfelder Modell
5.2.2 Der Richtlinien-Katalog von Lösel & Bender (1997)
5.3 Therapie-Evaluation
5.3.1 Methodische Probleme
5.3.2 Internationale Evaluationen
5.3.3 Deutschsprachige Evaluationen
6 Methodik der Metaanalyse
6.1 Varianten
6.2 Kritik
6.3 Validitätsgefährdungen nach Cook & Campbell (1979)
6.4 Metaanalytisches Vorgehen
6.4.1 Fragestellung
6.4.2 Literaturrecherche & Auswahl der Studien
6.4.3 Kodierschema
6.4.3.1 Studienvariablen
6.4.3.2 Prädiktorvariablen
6.4.3.3 Kriteriumsvariablen
6.4.3.4 Methodenvariablen
6.4.3.5 Validitätsvariablen
6.4.4 Rückfälligkeit in Abhängigkeit verschiedener Variablen
6.4.5 Validitätseinschätz. d. Primärstudien & Stichprobengewichtungen
6.4.6 Berechnung der Effektstärken
6.4.7 Überprüfung der Ergebnishomogenität
6.4.8 Ermittlung von Moderatorvariablen
6.4.9 Diskussion
7 Fragestellung
8 Literaturrecherche & Auswahl der Studien
9 Deskriptive Statistik
9.1 Studienvariablen
9.2 Prädiktorvariablen
9.3 Rückfälligkeit in Abhängigkeit verschiedener Variablen
9.3.1 Behandlung
9.3.2 Behandlungsart
9.3.3 Behandlungsdauer
9.3.4 Deliktarten
9.3.5 Vorstrafen
9.3.6 Alter bei Behandlungsbeginn
9.3.7 Jahr der Publikation
9.3.8 Follow-up-Zeiträume
10 Validitätseinschätzungen der Primärstudien & Stichprobengewichtung
11 Effektstärken & Ergebnishomogenität
11.1 Gruppenvergleiche mit unbehandelten Sexualstraftätern
11.2 Gruppenvergleiche mit Anderen Tätern
11.3 Zusammenfassung der Effektstärken
11.4 Ergebnishomogenität & Gesamtsignifikanz
12 Moderatoranalyse
12.1 Stichprobengrösse
12.2 Follow-up-Zeitraum
12.3 Therapieart
12.4 Setting
13 Diskussion
13.1 Methodisches
13.2 Ergebnisse
13.3 Ausblick
14 Literatur
14.1 Verzeichnis der verwendeten Literatur
14.2 Verzeichnis der analysierten Studien
14.3 Verzeichnis der ausgeschlossenen Studien
15 Anhang
Immer wieder haben in den letzten Jahren spektakuläre Einzelfälle von sexuellem Missbrauch, sexuell motivierter Tötung und ähnlichem ein enormes Medienecho hervorgerufen. Von „Triebtätern“ und „Monstern“ ist die Rede, selbst eine Diskussion über die Wiedereinführung der Todesstrafe für derartige Taten erscheint Einigen nicht mehr abwegig.
Die Auseinandersetzung über Ursachen solcher Taten, mögliche Ahndungen sowie den generellen Umgang mit diesem Thema wird leider in der Mehrzahl von Medienspektakeln und politisch-populistischen Äusserungen geführt. Nicht nur für den Laien ist es schwer, in einer derart polarisierten Stimmung objektiv überprüfbare Fakten auszumachen, die ihm den realen Sachgehalt dieses Themas erschliessen.
Hier nun muss die wissenschaftliche Forschung auf den Plan treten. Empirische Daten über Behandlungschancen und Rückfallrisiken müssen erarbeitet und ausgewertet werden. Mythen über „den“ Sexualverbrecher müssen aufgehellt und Diskussionen über rechtsstaatliche Ansprüche gegenüber diffuser Bevölkerungsangst in Gang gesetzt werden.
Betrachtet man das Forschungsgebiet der Therapie von Sexualstraftätern, so fällt - was die metaanalytische Aufarbeitung betrifft - die Dominanz nordamerikanischer bzw. anglo-amerikanischer Veröffentlichungen auf (vgl. Furby, Weinrott & Blackshaw, 1989; Hanson & Bussiere, 1998). Dies mag zum einen am Thema selbst liegen, das bis vor einigen Jahren hierzulande einen deutlich niedrigeren Stellenwert einnahm. Obwohl deren Darstellung oft genug sensationslüstern und übertrieben ist, hat die Presse sowie die Medienpräsenz des Themas nicht zuletzt die wissenschaftliche Forschung sensibilisiert und in die Pflicht genommen (vgl. Drieschner, 1998; Hoffmann-Richter & Dittmann, 1998; Wehrmann, 1998).
Zum anderen kann es an den Studien liegen, die die Basis jeder Metaanalyse darstellen. Es ist zu beklagen, dass deutschsprachige Autoren meist keinen geregelten Mindeststandards (wie etwa im anglo-amerikanischen Raum) folgen. Dies kann eine Integration verschiedener Studien durchaus erschweren. Trotz dieser Aspekte beginnt auch im deutschsprachigen Raum eine metaanalytische Auseinandersetzung mit dem Komplex der Sexualstraftaten (vgl. Marwinski, 1998).
Ziel dieser Arbeit nun ist es, in einer quantitativen Metaanalyse Aussagen über Rückfallrisiken, Rückfallqouten sowie mögliche bedeutsame Variablen im Zusammenhang mit der therapeutischen Effektivität herauszuarbeiten. Hierzu wurden ausschliesslich Studien aus dem deutschsprachigen Raum untersucht. Dieses Kriterium versucht eine Lücke zu schliessen, die in letzter Zeit vermehrt beklagt wurde (vgl. Lösel, 1999).
Inzwischen liegen für den Bereich der Sexualstraftäter-Behandlung für den deutschsprachigen Raum genügend Studien vor, die eine quantitativ-statistische Integration nicht nur zulassen, sondern geradezu erfordern. Um es mit den Worten von G.V. Glass zu verdeutlichen: „Our problem is to find the knowledge in the information.“ (Glass, 1976, S. 4).
Aus diesem Problembewusstsein heraus stellt sich die quantitative Metaanalyse als ein für die in diesem Fall gewünschte Integration von Forschungsergebnissen geeignetes Instrument dar:
1. Mit der vergleichenden Zusammenfassung von Designs, Kennwerten etc. und einer entsprechenden inferenzstatistischen Auswertung lassen sich vielversprechende therapeutische Ansätze aufdecken, weniger effektive Therapien identifizieren und Variablen der Behandlung zueinander in Beziehung setzen.
2. Solcherart quantitative Methoden lassen sich nur mit genügend grossen Stichproben realisieren, die nun auch für den Bereich der Sexualstraftäter-Behandlung im deutschsprachigen Raum vorliegen.
3. Bis jetzt gibt es nach Kenntnisstand des Autors für den deutschsprachigen Raum noch keine Metaanalyse zu diesem Thema, mit Ausnahme der qualitativen Metaanalyse von Marwinski (1998). Diese setzt jedoch einen anderen methodischen Schwerpunkt (qualitativ-deskriptiv), grenzt die untersuchte Deliktgruppe auf Vergewaltiger ein und erfasst ebenso viele anglo-amerikanische wie europäische Veröffentlichungen (insgesamt 13, davon sieben deutschsprachige).
4. Folgt man dem Argument einer notwendigen Integration empirischer Studien, bietet die Metaanalyse gegenüber dem herkömmlichen Literatur-Review deutliche methodische Vorteile bzw. die Möglichkeit, „...die Methodik der Bewertung den Standards der Methodik der bewerteten Studien anzupassen.“ (Wittmann & Matt, 1986, S. 23).
Im theoretischen Teil dieser Arbeit wird zunächst die tatsächliche Auftretensrate von Sexualdelikten diskutiert. Dies mündet unter anderem in der Frage, ob die - prozentual gesehen - selten auftretenden, unterschiedlichen Deliktarten (Exhibitionismus, Pädophilie etc.) das entstandene, manchmal an Hysterie grenzende Medienecho rechtfertigen.
Weiterhin werden Aspekte der Ätiologie von Sexualverbrechen und -tätern vorgestellt. Einschlägige Theorien über die Entstehung von Sexualverbrechen werden erörtert. Das schliesst eine Auseinandersetzung über verbreitete Mythen betreffend „den“ Sexualstraftäter ein. Auf persönlichkeitspsychologischer Seite wird die Entwicklung und Bedeutung von Tätertypologien diskutiert.
Betreffs der Therapie von Sexualstraftätern werden die wichtigsten theoretischen Konzepte vorgestellt. Ferner wird die konkrete Umsetzung in Therapieprogramme diskutiert. Es folgt ein Überblick über den Stand der therapeutischen Evaluationsforschung. Bisherige Metaanalysen werden kurz dargestellt sowie die wichtigsten Forschungsergebnisse diskutiert.
Schliesslich erfolgt eine kurze Einführung in die Methodik der Metaanalyse. Das generelle Verfahren einer Metaanalyse wird erläutert sowie deren Varianten vorgestellt. Auch die Validitätsgefährdungen und mögliche Gültigkeitseinschränkungen werden diskutiert.
Der methodische Teil folgt in seiner Gliederung dem standardisierten Vorgehen einer Metaanalyse:
1. Die Fragestellung wird spezifiziert und erörtert, mögliche Hypothesen vorgestellt.
2. Der Prozess der Literaturrecherche wird dokumentiert.
3. Das Ergebnis der Datensammlung wird in seinen Grundzügen dargestellt; erste methodische Umformungen (z.B. Bildung eines Altersmittelwertes aus möglicherweise weit streuenden Einzelwerten) werden dokumentiert. Auf diesbezügliche Validitätsprobleme wird hingewiesen.
4. Die Ergebnisse der statistischen Auswertung werden vorgestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt der deskriptiven Statistik auf einer Darstellung der Rückfälligkeit in Abhängigkeit verschiedener Variablen. Darüberhinaus werden für jede Studie Effektstärken berechnet. Es erfolgt eine Auseinandersetzung mit den eingangs gemachten Hypothesen. Anderweitige statistische Erkenntnisse und mögliche Perspektiven für eine weitergehende Fragestellung werden dokumentiert und diskutiert.
5. Im Hinblick auf den theoretischen Teil der Arbeit erfolgt eine generelle Diskussion der Ergebnisse sowie eine mögliche Impulsgebung für künftige Forschungsfragen.
Eine Einweisung in den Massregelvollzug - wie sie für einen Teil der hier zugrundeliegenden Stichprobe Voraussetzung war - kann, muss aber nicht Folge einer Verurteilung wegen einer Sexualstraftat sein. Die Anklage fusst, falls ein Sexualdelikt als Hauptdelikt angesehen wird, auf den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, formuliert im 13. Abschnitt des StGB in den Paragraphen §§ 174-184c StGB. Dabei handelt es sich um folgende Deliktgruppen (vgl. Block & Hoch, 1997):
1. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im engeren Sinne (§§ 174a Abs. 2, 177, 178, 179),
2. Missbrauch im Rahmen von Abhängigkeitsverhältnissen (§§ 174a Abs. 1, 174b),
3. Beeinträchtigung der Entwicklung des Sexuallebens (§§ 174, 176, 180, 182, 184b),
4. Sexuelle Belästigung Unbeteiligter (§§ 183, 183a, 184a) und
5. Förderung der Prostitution und Verbreitung pornographischer Schriften (§§ 180a, 181a, 184) Anm.: § 175, der „Homosexuellen-Paragraph“, wurde gestrichen. Als Beispiel sei hier § 177 StGB zitiert:
§ 177. Vergewaltigung. (1) Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben zum ausserehelichen Beischlaf mit ihm oder einem Dritten nötigt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.
(3) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren.
Wird die Person verurteilt, folgt daraus nicht notwendigerweise eine Verurteilung zum Massregelvollzug. Die Gesetze zur Anordnung einer Massregel sind in §§ 61-72 StGB festgelegt. Für eine mögliche Überstellung eines Sexualstraftäters in den Massregelvollzug gilt in der Regel § 63 StGB (§ 64 StGB dagegen für primäre Suchtdelikte):
§ 63. Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Wird der Täter zu einer Haftstrafe verurteilt und § 63 StGB nicht angewandt, verbüsst der Täter seine Strafe im Regelvollzug. Das Strafmass richtet sich nach der Tatschwere, wobei das zuständige Gericht einen individuellen, begrenzten Spielraum bei der Strafzumessung hat. Im Falle einer Verurteilung wegen Vergewaltigung beispielsweise liegt das Strafmass in keinem möglichen Fall unter sechs Monaten.
Auf den ersten Blick mag die Anwendungsmöglichkeit des § 63 StGB wie eine Einladung zur anwaltlichen „Schuldunfähigkeitsstrategie“ erscheinen. Auch die Boulevardpresse äussert sich meist ablehnend über diese Möglichkeit der Strafumwandlung, um dem „Rechtsempfinden des Volkes“ (Hoffmann-Richter & Dittmann, 1998) zu entsprechen. Die beiden Autoren kommen in ihrer Analyse der schweizerischen Presselandschaft zu dem Schluss: „Die meisten Artikel beschränken sich darauf, Straftaten oder ihre Verhandlung vor Gericht mehr oder weniger sensationsheischend darzustellen. [..] Psychisch Kranke [..] werden als unberechenbar, unheimlich, gefährlich, wenn nicht gar bösartig betrachtet.“ (Hoffmann-Richter & Dittmann, 1998, S. 23).
Auf den zweiten Blick jedoch ist die Inanspruchnahme des § 63 StGB für den Angeklagten ein zweischneidiges Schwert, da nun die Verbüssung der Strafe nicht mehr an die Tat schwere, sondern an ein Prognosegutachten der zuständigen Behörde gekoppelt ist. In § 136 StVollzG heisst es hierzu:
§ 136. Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Die Behandlung des Untergebrachten in einem psychiatrischen Krankenhaus richtet sich nach ärztlichen Gesichtspunkten. Soweit möglich, soll er geheilt oder sein Zustand soweit gebessert werden, dass er nicht mehr gefährlich ist. Ihm wird die nötige Aufsicht, Betreuung und Pflege zuteil.
Der Massregelvollzug folgt den Richtlinien der Besserung und Sicherung. Einerseits sollen dessen Insassen geheilt werden, andererseits will die Öffentlichkeit vor - im juristischen Sinne - gefährlichen Straftätern bewahrt sein. Die Anordnung der Massregel hat primär keine Straffunktion für den Täter, sondern eine Schutzfunktion für die Allgemeinheit. Besserung und Sicherung sind also ineinander verzahnt, die Massregel als „Gefahrenabwehr“ (Dessecker, 1996) soll solange aufrechterhalten werden, bis - laut §§ 63, 64 StGB - keine „erheblichen rechtswidrigen Taten“ mehr zu erwarten sind.
Beide Richtlinien, Besserung und Sicherung, stehen gleichberechtigt nebeneinander, ein Umstand, dessen Diskussion meist in der Frage mündet: Hat der Schutz der Bürger nicht Vorrang vor der Besserung des Inhaftierten? Oder polemischer: Hat nicht der (Sexual-) Straftäter durch sein Verbrechen, welches in der Regel Ekel und Abscheu hervorruft, sein Recht auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft verwirkt?
Die forensische Psychiatrie sieht sich oft in die Rolle des Buhmanns gezwungen. Bemüht, den gesetzlich verankerten Aufträgen Besserung und Sicherung Rechnung zu tragen, steht sie oft genug einer unzureichend informierten, grollenden Volksmeinung gegenüber, die den forensischen Gutachter als „’Störer’ einer ordentlichen Rechtsprechung“ empfindet (Hoffmann-Richter & Dittmann, 1998). Entsprechend thematisiert wird diese Situation in zahlreichen Publikationen (z.B. Pfäfflin, 1995; Dessecker, 1996; Schüler-Springorum et al., 1996; Fehlenberg, 1997; Weber & Narr, 1997).
Erfolgt aufgrund einer gutachterlichen, positiven Beurteilung eine Aussetzung der Massregel nach § 67d Abs. 2 StGB, wird der Straftäter auf Bewährung entlassen. Nun muss sich zeigen, ob neben der organisatorischen Funktion der Sicherung auch die therapeutische Funktion der Besserung verwirklicht wurde bzw. ob und wann der Entlassene rückfällig wird.
Ungeachtet der verstärkten Medienpräsenz zum Thema „Sexualdelinquenz“ (vgl. Hoffmann, 1997; Ankowitsch, 1998; Drieschner, 1998; Rüther, 1998; Wehrmann, 1998) gilt es zu fragen: Wie häufig sind Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung? Gibt es eine Zunahme sexueller Übergriffe? Eine „Explosion“, die auch nur annähernd das immense Medienecho rechtfertigt? Existieren unterschiedliche Entwicklungen in einzelnen Deliktformen?
Wenn auch nur näherungsweise, spiegeln (offizielle) Statistiken die Grössenordnung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung doch annehmbar wider. Im folgenden werden einige Zahlen genannt. Diese erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern lassen vielmehr einen Trend erkennen:
Baurmann (1992) nennt für den Zeitraum von 1980 bis 1990 Zahlen der Anzeigen statistik des Bundeskriminalamtes (s. Tab. 1):
Tab.1: Prozentuale Veränderung des Sexualdeliktanteils an der Gesamtkriminalität von 1980-1990
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bemerkenswerterweise zeigt sich hier eine Gegenläufigkeit zwischen den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und der Gesamtkriminalität. Dies ist umso auffälliger, als die verstärkte Aufklärungsarbeit der Frauenbewegung eine zunehmende Bereitschaft zur Anzeige insbesondere von Vergewaltigungen erwarten lässt.
Laut Schmitt (1996) beträgt für das Jahr 1992 der Anteil der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung einschliesslich der Sexualmorde gerade 0,7% der Gesamtkriminalität (Anzeigenstatistik).
Schliesslich seien Zahlen aus dem Bericht des Bundeskriminalamtes (1998) für das Jahr 1997 genannt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: Bundeskriminalamt, 1998)
Abb. 1: Ausgewählte Delikte zur sexuellen Selbstbestimmung
Betrachtet man nach der Statistik des BKA alle Delikte zur sexuellen Selbstbestimmung, so ist die Anzahl aller erfassten Fälle 1996 um 4,2% und 1997 um 8,3% gestiegen. Diese Gesamttendenz muss, wie Abb. 1 zeigt, aufgeschlüsselt werden:
1. Die erfassten Fälle von Vergewaltigung (§ 177 StGB) liegen seit nunmehr zehn Jahren konstant um N=6000 pro Jahr. Die Hinzunahme der neuen Bundesländer verursachte keinen „Knick“ nach oben. Lediglich eine leichte, konstante Gesamterhöhung ist zu verzeichnen.
2. Exhibitionistische Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses (§§183, 183a StGB) pendeln ebenfalls leidlich konstant, ohne grössere Schwankungen, um N=9500 pro Jahr.
3. Im Gegensatz dazu zeigen die erfassten Fälle des sexuellen Missbrauchs an Kindern (§ 176 StGB) eine stetige Tendenz nach oben. Daraus lässt sich jedoch nicht stringent eine faktische Häufung von Delikten dieser Gruppe ableiten:
- Die Statistik des BKA stellt alle erfassten Fälle, d.h. alle angezeigten Fälle dar. Diese Zahl muss reduziert werden um diejenigen Fälle, deren Anzeige aufgrund von Unzulänglichkeit der Beweismittel, falscher Anschuldigung etc. nicht zu einer Verurteilung führt.
- Es kann eine nicht unerhebliche Interaktion zwischen tatsächlichen Urteilen, dem darauffolgenden Medienecho und einer zunehmenden Anzeigenbereitschaft existieren. Dass gerade der sexuelle Missbrauch an Kindern zu einer höheren Sensibilität in der Bevölkerung führt, zeigt Rüther (1998). Nach seinen Angaben hat sich die Zahl der Artikel über Kindesmissbrauch in der Bundesrepublik innerhalb von vier Jahren (1994-1998) auf 800 verdoppelt. Rüther führt weiter aus: „Dabei wird man davon ausgehen können, dass vor allem der rasante Anstieg der öffentlichen Meinung zur Thematisierung des ‘sexuellen Missbrauchs von Kindern’ und speziell seiner am meisten gefürchteten und gravierendsten Variante des ‘sexuellen Kindesmordes’ kein entsprechendes quantitatives Pendant in den realen zugrundeliegenden Geschehnissen findet.“ (Rüther, 1998, S. 247).
Auf der anderen Seite darf man bei der Beurteilung dieser Zahlen das Problem des Dunkelfeldes nicht vernachlässigen. Das Dunkelfeld wirkt sich 1. bei der quantitativen Erfassung von Delikten generell und 2. bei der Erfassung von Rückfällen verzerrend aus. Die offizielle Statistik kann das Dunkelfeld nicht erfassen. Lediglich werden mehr oder weniger methodisch genaue Schätzungen durchgeführt.
Die Grösse und damit die Wichtigkeit des Dunkelfeldes wird für den Bereich der Sexualdelinquenz kontrovers diskutiert. Feldmann (1992) zeichnet für das Delikt der Vergewaltigung ein düsteres Bild: Nach seinen Berechnungen kommen nur 10% aller Vergewaltigungen zur Anzeige, von denen wiederum nur 25% verurteilt werden. Das bedeute eine Gesamtquote der strafrechtlichen Ahndung von nur 2,5%. Gers & van der Starre (1987) sprechen von geschätzten 70.000 - 140.000 Vergewaltigungen jährlich, von denen nur ca. 6.000 (8,6% bzw. 4,3%) zur Anzeige kämen. Leider benennen Gers & van der Starre die Datenquelle ihrer Hochrechnung nicht.
Demgegenüber warnt Baurmann (1992) - auch für den Bereich der Sexualdelinquenz - vor einer Überschätzung des Dunkelfeldes: „Auch im Bereich der Dunkelfeldschätzungen sind [..] viele Angaben überhöht oder einfach falsch.“ (Baurmann, 1992, S. 82). Besonders beliebt sei, so Baurmann, hohe Dunkelziffern eines Delikts hochzurechnen und kritiklos auf andere, seltenere Delikte zu übertragen. Ein weiteres Problem stelle die ungeprüfte Übernahme von Dunkelziffern aus möglicherweise verfälschter Sekundärliteratur dar. Baurmann schlussfolgert, dass „...eine [..] Klarstellung bei manchen Expertinnen und Experten unerwünscht ist, weil sie anscheinend der Meinung sind, ein wichtiges soziales Problem - was sexuelle Gewalt zweifellos ist - könne erst dann ‘richtig’ angegangen werden, wenn die statistischen Angaben möglichst atemberaubend sind.“ (Baurmann, 1992, S. 82).
Eine umfangreiche Dunkelfeldstudie zum sexuellen Missbrauch und allgemeiner Gewalt an Kindern liefert Wetzels (1997). Er zitiert Studien aus Finnland (Sariola & Uutela, 1994, 1996), der Schweiz (Halperin, Bouvier, Jaffe, Mounoud, Pawlak, Laederach, Wicky & Astie, 1996), Würzburg (Elliger & Schötensack, 1991) und Leipzig (Schötensack, Elliger, Gross & Nissen, 1992), die - nach Anlegen halbwegs vergleichbarer Kriterien und Definitionen - eine Prävalenzrate für sexuellen Missbrauch von 3% für Jungen und 10% für Mädchen sichtbar machen. Wetzels (1997) warnt jedoch davor, weitere Untersuchungen (v.a. aus anderen europäischen Ländern und der USA) vergleichen zu wollen bzw. die dort gefundenen Prävalenzraten auf Deutschland zu übertragen. Aufgrund übermächtiger methodischer und definitorischer Differenzen wäre ein solcher Vergleich nicht seriös (vgl. Wetzels, 1997, S.44ff). In seiner eigenen Studie fördert Wetzels (1997) Prävalenzraten von 2,8% für Jungen und 8,6% für Mädchen zutage, ein Ergebnis, welches mit den meisten anderen bundesdeutschen Studien konform geht. Bleibt - wie in dieser Studie - der Deliktsbereich des Dunkelfeldes auf sexuellen Missbrauch auch eingeschränkt, so sollten doch die Schwierigkeiten deutlich geworden sein, die eine Hochrechnung oder gar eine Übertragung von Dunkelziffern auf andere Deliktformen nur selten zulassen.
Fazit: Das Ausmass und die polemisierende Darstellung von Sexualdelinquenz in den Medien werden durch die Fakten wenig unterstützt. Die Anzeigenstatistik der meisten Sexualdelikte (das gilt auch für die sexuell motivierte Kindstötung) bleibt seit Jahren konstant. Auch auf der politischen Ebene dominieren allgemeine Tendenzen und konkrete, populistische Äusserungen, die auf die Angst der Bevölkerung setzen und an der Realität vorbeigehen (vgl. Weber & Narr, 1997; Hoffmann-Richter & Dittmann, 1998). Dennoch bleiben einige Kritikpunkte real: das Problem des Dunkelfelds bei der Erfassung von Sexualdelikten (Baurmann, 1986, 1992), Quantität und Qualität von Gutachten sowie die unzureichende Versorgung von sexuellen Straftätern mit therapeutischen Angeboten und entsprechender Nachsorge in der Bewährungshilfe (Schmitt, 1997).
Beschäftigt man sich mit dem Bereich der Sexualstraftaten, stellt man schnell fest, dass es DIE Theorie zur Erklärung sexueller Devianz nicht gibt. Dies gilt nicht nur für die Superebene der generellen sexuellen Devianz, sondern in noch grösserem Ausmass für die einzelnen Delikte und für mögliche zugrunde liegende Persönlichkeitsstörungen. Um das theoretische Feld überblicken zu können, wird in diesem Abschnitt auf grundsätzliche Überlegungen zur Erklärung sexueller Devianz eingegangen.
In der Literatur zeigen sich mehrere Modelle mit manchmal völlig unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugängen und Methoden. Teils sind diese älteren Datums und (wie die Psychoanalyse) über Jahrzehnte hinweg verfeinert und modifiziert worden, teils ergeben sie sich aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten (wie der Genforschung). Obwohl in der heutigen therapeutischen Praxis meist eklektische Konzepte verfolgt werden (vgl. Urbaniok, 1995), stehen in der Theoriebildung mehrere Ansätze weitgehend gleichberechtigt nebeneinander. Frühere, konkurrierende Perspektiven der einzelnen Schulen sind grösstenteils einem integrativen Vorgehen gewichen, das sich durch einander ergänzende Erklärungsmodule auszeichnet.
In der Diagnostik und Therapie sexueller Delinquenz nehmen psychoanalytische Deutungen einen breiten Raum ein. Dies mag nicht zuletzt an den psychiatrisch-medizinischen Veröffentlichungen liegen, die vor allem traditionelle, tiefenpsychologische Ansätze widerspiegeln (vgl. Sigusch, 1975; Schorsch, Galedary, Haag, Hauch & Lohse, 1985).
Über alle spezifischen Ausformungen sexueller Devianz hinweg gehen tiefenpsychologische Überlegungen für den Bereich der Sexualdelinquenz von einem Kompensationsmodell (Schorsch et al.,1985) aus.
1. Der „Triebtäter“ handelt - entgegen der landläufigen Meinung - unbewusst meist nicht aus primärem Lustgewinn, sondern um seine Defizite betreffs eines normierten, gesellschaftlich akzeptierten Rahmens auszugleichen. Die sexuelle Devianz hat eine reparative Funktion für die Definition und Überprüfung des Selbst. Dennoch kann er die physiologisch erlebte Erregung und das Lustgefühl bewusst als angenehm und damit positiv umdeuten. Die Psychodynamik der Störung jedoch, die wiederherzustellende und wiederhergestellte „Kohäsion des Selbst“ (Kohut 1973a, b) bleibt ihm verborgen.
2. Der deviante Akt muss als individueller Lösungsversuch verstanden werden, die mit der sexuellen Sphäre an sich verbundenen Ängste (Loslassen, Verschlungenwerden, Kollusion, Macht, Selbstaufgabe) zu unterdrücken. Diese Ängste spiegeln sich auf einer vorbewussten Ebene in den Motiven von Sexualdelinquenten wider: Wiederherstellung einer beschädigten männlichen Identität, Nähe, Geborgenheit, auch Dominanz und infantile Allmachtsphantasien bis hin zur schlichten Wut auf alles Weibliche. Diese ist oft fokussiert in einer pathologischen Eltern-Kind-Beziehung. Besondere Bedeutung für die Therapie erlangt hier die Identifikation des Hauptmotivs. Stolorow (1979) spricht von „motivationaler Priorität“. Duncker (1995) betont das Spezifische, Originäre einer sexuellen Devianz und zieht den Schluss, dass der Therapeut nicht umhin kommt, „...diese Störungen trotz ihres grauenhaften und brutalen äusseren Erscheinungsbildes als kreative Ich-Leistung verstehen zu müssen.“ (Duncker, 1995, S. 171).
3. Die angesprochenen Ängste und eine damit verbundene mögliche Gefährdung der narzisstischen Organisation des Individuums muss in einem Abwehrmechanismus der Sexualisierung (Schorsch, 1985) umgangen werden. Dies gilt sowohl für das Phänomen der forcierten Sexualität („Don-Juanismus“) als auch für die perverse Symptombildung. Diese Symptombildung ist - zusätzlich zu den meist prä-ödipalen Ängsten - mit massiven Ängsten vor einer reifen genitalen Sexualität überfrachtet.
4. Nach Stoller (1979) ist jede perverse Symptombildung im Kern zumindest teilweise von Wut- und Hassgefühlen getragen. Darüberhinaus postuliert er ein Trauma in der männlichen Identitätsentwicklung, welches sich in allen perversen Symptombildungen niederschlägt.
Hinsichtlich einer klinischen Differenzierung ergeben sich nach Schorsch (1985) drei Dimensionen, auf denen perverse Symptombildungen abgebildet werden können:
1. Zuerst gilt es, die unterschiedliche Intensität einer perversen Symptombildung auszuloten. Hier reicht das Spektrum von sporadisch auftretenden, in Lebenskrisen akut werdenden Impulsen über habituelle Konfliktlösungsmuster bis hin zu seltenen „echten“ Perversionsbildungen. Besonders bei echten Perversionsbildungen ist auf einen progredienten Verlauf mit suchtähnlichen Merkmalen (Verkürzung der Zeitintervalle bei abnehmender Befriedigung etc.) zu achten. Für die Angstabwehr bedeutet ein progredienter Verlauf, dass die fragile narzisstische Organisation massiv bedroht und somit „einsturzgefährdet“ ist.
2. Weiter muss man den Stellenwert der Perversion in der Persönlichkeitsstruktur untersuchen. In leichteren Fällen beobachtet man eine mehr oder weniger starke Ritualisierung der sexuellen Ersatzhandlung, eine feste zeitliche und/oder örtliche Festlegung. Morgenthaler (1984) spricht vom „Fremdkörper in der Persönlichkeit“. Schwerer Gestörte zeichnen sich durch eine geringere Impulskontrolle und einen Hang auch zu polymorph-perversen Durchbrüchen aus. Die perverse Symptombildung entspricht hier einer - häufig aggressiven - Dekompensation. Selten gibt es explizit perverse Charakterstrukturen. In solchen Fällen überdeckt die perverse Symptombildung die gesamte Persönlichkeit und reduziert die Schnittstellen für ein „normales“ (soziales) Erleben auf ein Mindestmass.
3. Schliesslich gibt es Unterschiede in der Ich-Nähe der Perversion. Diese Unterschiede bewegen sich auf einem Kontinuum zwischen den Polen „ich-dyston“ und „ich-synton“. Entscheidend sind die kognitiven und emotionalen Prozesse, in denen sich die Person mit ihrer Perversion auseinandersetzt. Ich-dystone Symptombildungen werden mit Scham und Angst registriert; sie lassen sich nicht oder nur schwer in des Selbstbild einfügen. Ich-syntone Störungen werden als im Einklang mit der Gesamtpersönlichkeit erlebt und weitgehend positiv bewertet. Diese beiden idealtypischen Pole markieren nur die Grenze, zwischen denen die Ich-Nähe einer Perversion pendelt. Diese Ich-Nähe beschreibt auch intrapersonal ein dynamisches Konzept, d.h. die individuell erlebte Ich-Nähe einer Perversion kann sich abschwächen oder verstärken, verdrängt werden etc.
Auf einer konkreteren diagnostischen Ebene lassen sich die unterschiedlichen Motive für eine perverse Symptombildung in drei Hauptproblematiken unterteilen, die ihrerseits ausdifferenziert werden:
1. Männliche Identität. Sie umfasst nach Reiche (1984) die „Kerngeschlechtlichkeit“, die „soziale Potenz“ sowie „Sex“ im engeren Sinne. Störungen finden sich meist die Bereiche „Sex“ und „soziale Potenz“ betreffend. Die unsichere eigene Geschlechtlichkeit münzt sich um in Angst vor weiblicher Sexualität, vor „der Frau“, weiterhin in ausgeprägte Kastrationsängste. Im perversen Symptom zeigen sich eine (gewaltsame ) Demonstration von Männlichkeit und ein gleichzeitiges Ausweichen vor der angstbesetzten Genitalität. Die Männlichkeitsdemonstration (z.B. bei der Vergewaltigung) ist eine aktive „Flucht nach vorn“, während bei eher passiven Techniken (z.B.Voyeurismus) die regressive Tendenz des Ausweichens vor Genitalität dominiert.
2. Aggression. Hier muss man das individuelle Aggressions potential und die reale Ausübung von Aggression unterscheiden. Grundsätzlich gilt: Je tiefer Ängste verwurzelt und je leichter sie aktivierbar sind, desto grösser ist das Aggressionspotential. Ob Aggression wirklich ausgelebt wird, hängt hauptsächlich vom Ausmass der Aggressions hemmung ab. Diese ist meist das Resultat einer nicht geglückten Ablösung von der Mutter. In einem solchen Fall sind innerhalb der individuellen Autonomieentwicklung aggressive Impulse sehr wohl noch vorhanden, bleiben jedoch auf oral-destruktivem Niveau. Die Aggression kann nicht neutralisiert bzw. sozial akzeptiert ausgelebt werden. Es kann offensiv zu unkontrollierten aggressiven Durchbrüchen und defensiv zu depressiven Reaktionen kommen. Auf der motivationalen Ebene, im Rahmen der Tat, geht es unspezifisch schlicht um Wut und Hass, um oppositionellen Ausbruch aus der Rolle des sozialen Funktionierens oder auch um ein Erleben von Omnipotenz.
3. Selbsterleben und Beziehungsfähigkeit. Beide Aspekte sind ineinander verzahnt. Bei einem Grossteil perverser Symptombildungen spielt ein weitgehend negatives Selbstkonzept eine wichtige Rolle. Abhilfe schafft sich das narzisstische Selbst durch Grössenphantasien oder durch eine identifikatorische Teilhabe an der elterlichen Macht und Grösse. Basierend auf diesem disharmonischen Selbstbild und gekennzeichnet durch unbewältigte Ablösungskonflikte, bleiben Beziehungsversuche in der Regel rudimentär. Es dominieren Misstrauen, Selbstüberhöhung und narzisstische Kränkungen. Oft werden Partner funktionalisiert, umklammert, beherrscht, idealisiert oder entwertet. Diese Psychodynamik zeigt sich in einem bewussten Auffüllen innerer Leere und einer identifikatorischen Wunscherfüllung. Beide Funktionen dienen der Depressionsabwehr. Deutet man die Depression als eine Reaktion auf fehlende Zustimmung von aussen, erweist sich die Dominanz eines überwiegend narzisstischen Selbst als Strategie der „Hilfsbestätigung“.
Einen gänzlich anderen Zugang zum Verständnis menschlichen Verhaltens allgemein und sexueller Devianz im Speziellen wählen Lern- und Handlungstheorien. Lerntheorien gründen ihre Annahmen nicht auf dem theoretischen Gebäude einer inneren „Konstruktion“ des Menschen (wie die Psychoanalyse), sondern sie versuchen, auf der Grundlage der Verhaltensbeobachtung und gezielter -beeinflussung allgemeingültige Prinzipien der Steuerung und Organisation menschlichen Erlebens abzuleiten. Pioniere auf diesem Gebiet waren zu Beginn dieses Jahrhunderts I.-P. Pawlow, B.-F. Skinner und J.-B. Watson. Die Anfänge dieses evolutionär-naturwissenschaftlichen Ansatzes waren von einer „Dogmatik der Reaktion“ geprägt: Der Mensch als Reiz-Reaktions-Wesen war der primären Beeinflussung durch seine Umwelt mehr oder weniger ausgeliefert. Später wurde, verstärkt durch eine Weiterentwicklung an sich und durch die Ansätze einer humanistischen Psychologie, eine mehr interaktionistische Umwelt-Mensch-Perspektive propagiert. Dieser Perspektive entsprangen die Handlungstheorien, die sich vor allem mit den Handlungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten des Menschen gegenüber seiner Umwelt beschäftigen. Grundlegend ist hier die Annahme, dass Individuen gleiche Umweltreize unterschiedlich verarbeiten, bewerten und verschiedene Handlungsalternativen wählen können. Somit konzentriert sich die Fragestellung auf das „Warum“ der Wahl einer bestimmten Handlungsalternative und auf die Bedingungen ihres Zustandekommens.
Kröger (1997) legt Wert auf die kognitive Komponente im Entscheidungsprozess des Täters und postuliert auf der Grundlage eines kognitiv-behavioralen Ansatzes folgende Annahmen:
1. Sexuell delinquentes Verhalten geschieht zielgerichtet. Es beruht auf vorher getroffenen Entscheidungen des Täters und ist kein blosses Symptom einer Störung.
2. Der Entscheidungsprozess unterliegt meist einem typischen Muster.
3. Einige dieser Entscheidungen werden nicht mehr bewusst vollzogen, sondern gewohnheitsmässig „abgespult“.
4. Der Wille des Täters allein kann den Entscheidungsprozess nicht mehr verändern.
5. Individuell stark befriedigende sexuelle Delikte können zu suchtartigen Entwicklungen führen.
Kröger (1997) leitet aus diesen Annahmen ein konkretes therapeutisches Programm ab, welches sich vor allem mit der Rekonstruktion der Tat, mit dem zugrundeliegenden Entscheidungsprozess und seiner Modifizierung befasst.
Nach Wieczoreks (1997) Ansicht „...bewegen sich die Vorstellungen über den sexuellen Antrieb [...] immer noch innerhalb antiquierter Triebmodelle: Triebstau, sexueller Notstand, Triebstörung oder krankhafter Trieb sind [...] die verbreiteten impliziten und expliziten Modelle [...].“ (Wieczorek, 1997, S. 161). Bezogen auf das Feld der sexuellen Devianz schlägt er folgendes Modell vor:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.2: Handlungstheoretisches Ätiologiemodell sexueller Devianz
Deutlich wird hier die Zweidimensionalität der auslösenden Faktoren. Über einen biologischen Ansatz hinaus werden nicht nur die angeborene sexuelle Erregbarkeit (oder „der Trieb“ (im psychoanalytischen Sinne!)), sondern ebenfalls sie modifizierende und verstärkende Lernmechanismen angenommen (Laws & Marshall, 1990). Solche Lernmechanismen wirken in der „Prägephase“ über klassische und operante Konditionierungen, später wird die Devianz - meist mit dem Orgasmuserleben als positivem Verstärker - durch operante Konditionierung aufrechterhalten. Seligman (1970, 1971) postuliert darüberhinaus ein „gerichtetes Lernen“ (prepared learning) als eine biologisch-evolutionäre Grundlage der Lernmechanismen gerade für den Bereich der Sexualität. Das Lernen insgesamt ist jedoch nicht im Sinne kurzzeitiger Konditionierungen, sondern als Beeinflussung über längere Zeiträume hinweg gedacht.
In der kriminalhistorischen Forschung hat man - neben psychologischen Forschungsbemühungen - immer wieder versucht, zwischen kriminellem Verhalten (und damit auch sexuelle Devianzen betreffend) und genetisch-hormonellen Bedingungen eine Verbindung aufzudecken. Eine Zusammenfassung bisheriger Bemühungen auf dem Gebiet der Sexualdelinquenz liefern Berner & Karlick-Bolten (1986).
Bisher ist es (erwartungsgemäss) nicht gelungen, das komplexe Phänomen der sexuellen Devianz auf vergleichsweise einfach strukturierte physiologische Bedingungen (wie z.B. chromosomale Abnormitäten oder überhöhten Testosteronspiegel) zu reduzieren. Erkenntnisse auf diesem Gebiet sind selten eindeutig und können daher nur als vorläufig betrachtet werden. Trotzdem sind auch solche Forschungsergebnisse Bausteine auf dem Weg zu einem vertieften Verständnis sexueller Devianzen. Im folgenden seien die wichtigsten Hypothesen und Ergebnisse biologischer Forschung angeführt:
1. Chromosomale XYY-Störung. 1961 entdeckt, wurde die Chromosomenkombination XYY auf Gen 21, d.h. ein verdoppeltes Y-Chromosom, bei Männern mit erhöhtem aggressivem Verhalten in Verbindung gebracht. Die Ergebnisse waren jedoch uneinheitlich (vgl. Jacobs et al., 1965; Murken, 1973). Heute geht man bei dieser chromosomalen Konstellation eher von einer Disposition zu erhöhten impulsiven Reaktionen aus. Ob sich diese wiederum in manifest aggressiven oder aggressiv-sexuellen Handlungen niederschlagen, hängt von weiteren, noch nicht identifizierten Variablen ab.
2. Lokalisationstheorien. Bis in die 70er Jahre hinein wurden aufgrund eines angenommenen Zusammenhangs zwischen der Steuerung des „Sexualtriebs“ und einer bestimmten Region des Hypothalamus (Nucleus Cajal) stereotaktische Operationen an Sexualstraftätern vorgenommen (vgl. Orthner, 1971; Roeder, 1971). Dieser Zusammenhang kann heute seiner Schlichtheit wegen nicht mehr aufrecht erhalten werden; derartige stereotaktische Operationen spielen in der heutigen Therapie fast keine Rolle mehr. Ebenso wurden in Einzelfällen Gehirntumore als Auslöser sexuell abnormen oder devianten Verhaltens angenommen (vgl. Erickson, 1945; Entwhistle & Sim, 1961). Andere Forscher (z.B. Tercian & Daleore, 1955; Brain & Walton, 1969) postulierten Zusammenhänge zwischen sexueller Aggression und abnormen Veränderungen des Temporallappens (Temporallappen-Epilepsie, temporale Lobektomie). Auch die mögliche Existenz eines „Triggering-Locus“ - als Auslöser sexueller Impulse - im Bereich der temporal gelegenen Amygdala wird diskutiert. Eben genannte Hypothesen beruhen jedoch in der Mehrzahl auf Einzelfalluntersuchungen und weisen weder die notwendige Systematik noch eine befriedigende stochastische Absicherung auf.
3. Hormonelle Besonderheiten. Unter diese Gruppe fallen in erster Linie die Forschungen über die Rolle von Testosteron im Sexualhaushalt des Organismus. Bezüglich der Wirkung von Testosteron bzw. eines erhöhten Testosteronspiegels folgte in der Historie Beweis, Gegenbeweis und so fort (vgl. Persky, Zuckerman & Curtis, 1968; Kreuz & Rose, 1972; Rada, Laws & Kellner, 1976; Rada, Laws, Kellner, Srivastava & Peake, 1983). Von einem eindeutigen, direkten Zusammenhang zwischen erhöhten Testosteronwerten und vermehrter Bereitschaft zu (sexueller) Aggression kann nicht die Rede sein - die Beweislage ist uneinheitlich. Freund (1980) z.B. vermutet, dass nicht das Testosteron selbst, sondern dessen Abbauprodukt Estradiol stark in die Verhaltensregulierung eingreift.
Die dargestellten theoretischen Ansätze, so unterschiedlich sie auch sein mögen, haben alle ihre Berechtigung. Um es zu wiederholen: Bis jetzt gibt es nicht DIE Theorie über das Entstehen sexueller Devianzen. Lübcke-Westermann (1995) kommt zu dem Schluss: „Um dem komplexen Störungsbild, das zumindest bei einem Teil der Sexualdelinquenten vorliegt, gerecht werden zu können, bedarf es eines Ansatzes, der es erlaubt, Theorien unterschiedlicher Provenienz und unterschiedlichen Erklärungsanspruchs zu integrieren. Ein in sich geschlossenes Modell [..] kann dem Phänomen der Sexualdelinquenz allein nicht hinreichend gerecht werden.“ (Lübcke-Westermann, 1995, S. 4). Verschiedene Modellvorstellungen müssen sinnvoll kombiniert und daraus eklektische Therapiekonzepte erarbeitet werden (was bereits überwiegend Praxis ist). Das Forschungsfeld der sexuellen Devianzen wird nicht zuletzt durch äussere Einflüsse geprägt, denen sich die Forschung stellen muss: Neue Methoden der Erkenntnis (z.B. die Genforschung) ermöglichen eine genauere Analyse der menschlichen chromosomalen Struktur. Juristische Neuerungen (z.B. die Streichung des Homosexuellen-Paragraphen) müssen akzeptiert und integriert werden. Auch aktuelle Fragen und Forderungen der Gesellschaft (wie die Diskussion um Psychodynamik und Behandlung von Kindesmissbrauchern) darf man nicht „á la Elfenbeinturm“ übersehen.
Das Feld der sexuellen Devianzen ist, wie schon festgestellt wurde, sehr breit gestreut. Aus dieser Tatsache ergeben sich bezüglich einer übersichtlichen, einheitlichen Klassifikation von Sexualstraftätern Schwierigkeiten. So kann man auf einer generellen Ebene zunächst nicht mit (deliktbezogenen) psychodynamischen Kategorien operieren, sondern muss nach übergeordneten Strukturen (z.B. im Tatverhalten oder in der Täterpersönlichkeit) suchen. Klassifikationen haben naturgemäss den Nachteil, dass sie unterschiedliche, voneinander abgegrenzte Kategorien von „Idealtypen“ erzeugen. In den allermeisten Fällen entsprechen diese Idealtypen realen konkreten Täterpersönlichkeiten nicht. Dennoch kann es von Vorteil sein, einen Täter wenigstens versuchsweise einer Kategorie zuzuordnen (vgl. Wyre & Swift, 1991, S. 30). Die meisten Klassifikationen (besonders die deliktbezogenen) implizieren für einen spezifischen, „idealen“ Tätertyp bestimmte Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale, deren Kenntnis eventuell bei der Aufklärung, für eine Fahndung oder bei einer Täterbefragung nützlich sind (vgl. Douglas & Olshaker, 1998).
Folgende allgemeine Einteilungen versuchen, die Vielfalt der konkreten Tatmuster und Täter verschiedenen Kategorien zuzuordnen:
1. Hands-on / Hands-offhandHHan - Delikte. Diese Einteilung geschieht auf der reinen Verhaltensebene des Täters. Hands-on-Delikte geschehen unter Körperkontakt mit dem Opfer: Missbrauch, Vergewaltigung etc., aber auch leichtere Delikte wie Frotteurismus. Hands-off-Delikte dagegen (wie Exhibitionismus oder Voyeurismus) werden „aus der Ferne“ begangen. Der Täter nimmt keinen aktiven Kontakt zum Opfer auf. Psychodynamische Überlegungen zur Tatmotivation bleiben in dieser Klassifikation aussen vor.
2. Der Psychoanalytiker Streitberg (1977) unterscheidet grob zwischen dem Sexualneurotiker und dem Hangtäter. Für den Sexualneurotiker ist das Delikt ein temporäres Geschehen, dessen er sich hinterher meist schämt. Infolgedessen leidet dieser Tätertyp oft unter massiven Schuldgefühlen. Streitberg leitet daraus eine bessere therapeutische Behandelbarkeit ab. Der Hangtäter hingegen hat die sexuelle Devianz internalisiert. Aufgrund einer frühen Persönlichkeitsstörung, kombiniert mit dem orgastischen Lustgewinn, gehört die sexuelle Devianz ich-synton zu seiner Persönlichkeitsstruktur. Dementsprechend gering schätzt Streitberg die Motivation und therapeutische Ansprechbarkeit des Hangtäters ein.
3. Kröger (1997) trifft eine lerntheoretisch orientierte, empirisch geleitete Unterscheidung zwischen sexuell devianten Tätern, antisozialen Tätern und rachsüchtigen Tätern. In dieser Klassifikation leiden sexuell deviante Täter unter extremen Kontaktstörungen und Ängsten. Unfähig, ihre sozialen Bindungen selbständig zu restaurieren, flüchten sie in Phantasievorstellungen und vermehrten Pornokonsum. Aufgrund der dürftigen Ersatzbefriedigung jedoch versuchen sie zuletzt, den sexuellen Kontakt zu erzwingen. Antisoziale Täter hingegen begehen Sexualdelikte als Variante unter verschiedenen Straftaten. Kennzeichnend für diesen Tätertyp ist die rücksichtslose Grenzüberschreitung im Dienst der eigenen, materiellen oder sexuellen Befriedigung. Beim rachsüchtigen Täter schliesslich spielt die narzisstische Kränkung als Tatauslöser eine grosse Rolle. Dieser Täter kann erlittene Kränkungen nicht angemessen bei sich selbst oder im Dialog mit dem Kränkenden abarbeiten, sondern lässt seine Wut meist an dritten, oft völlig unbeteiligten Personen aus.
Vor allem im Sektor der sexuellen „hands-on“-Straftaten haben sich verschiedene deliktspezifische Klassifikationen herausgebildet, d.h. zum Tatbestand der Vergewaltigung (inkl. sexuell motivierter Tötung als Folge), der Pädophilie, des sexuellen Missbrauchs und zum Inzest. Leider existiert in der Literatur eine oftmals unscharfe Trennung zwischen sexuellem Kindesmissbrauch und Pädophilie, sodass diese Gruppen klassifikatorisch unter „sexuellem Kindesmissbrauch“ subsummiert werden. Auch der Inzest wird meist als Unterform des Kindesmissbrauchs behandelt.
Im Laufe der letzten vierzig Jahre hat die Forschung etwa dreizehn verschiedene Klassifikationen zur Typologie von Vergewaltigern hervorgebracht (vgl. Gutmacher & Weihofen, 1952; Allen, 1962; Gebhard, Gagnon, Pommeroy & Christensen, 1965; Amir, 1971; Schorsch, 1971; Abel, Blanchard & Becker, 1976/1978; Cohen, Garafalo, Boucher & Seghorn, 1977; Rada, 1978c; West, Roy & Nichols, 1978; Groth, 1979; Schorsch, 1985; Wyre & Swift, 1991; Beier, 1995) sowie Versuche einer übergreifenden Typologie (Rehder, 1990). Die meisten dieser Ansätze fussen auf unterschiedlichen theoretischen Annahmen und Zugängen (Psychiatrie, Sozialtheorie, Tiefenpsychologie etc.). Trotzdem überschneiden sich alle diese Klassifikationen manchmal erheblich; einige Kategorien sind annähernd identisch. Unterschiede ergeben sich in vielen Fällen lediglich in der Ursachenzuschreibung des Verhaltens (Affekt, Projektion der dominanten Mutter in das Opfer, Alkohol etc.) und in der Anzahl der Subgruppen, meist drei oder vier (z.B. „Explosive“ Vergewaltiger - Sadisten - antisozial-aggressive Vergewaltiger).
Aufgrund dieser Ähnlichkeiten seien hier nur zwei Ansätze vorgestellt: Stellvertretend für die in der Literatur vorkommenden Klassifikationen wird der Ansatz von Groth (1979) ausgeführt. Dieser ist multifaktoriell an einem bio-psycho-sozialen Grundmodell orientiert und hat starke empirisch-pragmatische Ausrichtung. Es ist einer der - bis heute - einflussreichsten Typologieversuche von Vergewaltigern. Weiterhin wird die Typologie von Rehder (1990) behandelt. Diese versucht, bisherige Klassifikationsansätze zu integrieren und übergeordnete Gruppen zu bilden.
Groth legt die Grundzüge seines Modells folgendermassen dar: „Rape is complex and multidetermined. It serves a number of aims and purposes. Whatever other needs and factors operate in the commission of such an offense, however, we have found the components of anger, power and sexuality always present and prominent.“ (Groth, 1979, S. 13).
Das Konzept seiner Typologie von Vergewaltigung ist eingebettet in ein Modell theoretischer Annahmen über Sexualstraftaten allgemein:
1. Jede Sexualstraftat enthält die Hauptkomponenten Wut, Macht und Sexualität.
2. Eine Sexualstraftat ist immer und in erster Linie eine aggressive Handlung.
3. Eine Sexualstraftat ist Ausdruck einer Symptombildung im Rahmen einer Störung oder Krise. Diese Symptombildung dient zur Angstbekämpfung, Impulsbefriedigung oder Konfliktlösung.
4. Alkohol- und Drogenkonsum kann eine Rolle für die Enthemmung des Täters spielen, ist aber nie die Ursache einer Sexualstraftat.
Groth stellt fest, dass in den allermeisten Fällen bei Vergewaltigung nicht von einem eigentlichen Sexual verbrechen gesprochen werden kann. Vielmehr steht hier die Sexualität im Dienst anderer Ziele wie Abbau von Frustration, Machtdemonstration etc. Diese Annahmen schlagen sich in den drei unterschiedlichen, von ihm entwickelten Kategorien von Vergewaltigern nieder:
1. „ Anger rape “. Das primäre Ziel dieses Typs ist der Abbau intensiver Wut und Frustration. Der Täter geht mit übersteigerter Brutalität vor; er will das Opfer verletzen und demütigen. Die Opfer sind meist völlig Unbekannte, die eben gerade verfügbar sind. Sie dienen dem Täter nicht selten als Fokussierung seiner Wut auf alles Weibliche. Da die Taten meist als Reaktion auf kurzzeitigen, massiven Stress hin geschehen, erfolgen sie ungeplant, eher sporadisch, impulsiv und sind meist nur von kurzer Dauer. Die sexuelle Befriedigung an sich ist meist gering. Der „Lustgewinn“ entsteht durch den Abbau von Wut und Stress. Mögliche Vorstrafen: kriminelle Vergehen mit aggressiver Komponente wie Verkehrsdelikte, tätliche Beleidigung oder Ruhestörung.
2. „ Power rape “. Dem Täter geht es um eine Demonstration seiner Macht, seiner Kontrollfähigkeit und Männlichkeit. Körperliche Gewalt erfolgt instrumentell, nicht explosiv-überschiessend wie beim „anger rape“. Die Tat kann geplant sein und speist sich aus einem tiefen, langgehegten Gefühl der Minderwertigkeit heraus. Niemals ist sie das erste oder einzige sexuelle Erlebnis das Täters. In der Regel gehen der Tat lange Phasen von Zwangsgedanken und Masturbationsphantasien über Vergewaltigung voraus; oft deutet der Täter - aus Gründen der Rationalisierung - die Vergewaltigung als für das Opfer angenehm um. Meist ist die spätere, reale Tat für den Vergewaltiger enttäuschend, da sie nicht an seine Phantasien heranreicht. Sexuelle Befriedigung spielt - ebenso wie beim „anger rape“ - keine grosse Rolle, und nicht selten dient die Tat der Abwehr eigener homosexueller Ängste. Zwei Faktoren können eine Wiederholungstat begünstigen:
a) Die Enttäuschung der vorphantasierten Tat verleitet zu der Hoffnung, beim nächsten Mal das „richtige“ Opfer zu finden. In einigen Fällen kann es zu Serien von Vergewaltigungen kommen.
b) Nicht entdeckt zu werden, erhöht beim Täter das Gefühl der Macht und bestärkt ihn in einer Wiederholung dieser Machtdemonstration.
Mögliche Vorstrafen: Diebstahl, Einbruch, Raub und/oder frühere Sexualstraftaten wie Erregung öffentlichen Ärgernisses.
3. „ Sadistic rape “. Diese Variante ist relativ selten. In ihr verschmelzen Aggression und Sexualität zu pseudo-befriedigendem, sadistischem Verhalten. Solche Taten wirken, falls sie aufgedeckt werden, meist bizarr und ritualisiert. Opfer sind in der Regel Unbekannte, die gemeinsame Merkmale wie Haarfarbe oder Beruf aufweisen. Meist symbolisieren diese Merkmale etwas, das der Täter bestrafen oder zerstören will. Diese Art der Vergewaltigung ist immer geplant: Der Täter braucht Zeit, um das Leid des Opfers auszukosten, und einen sicheren Ort. Der sadistische Vergewaltiger ist der einzige Typ, der primär sexuelle Befriedigung aus seiner Tat zieht; der Widerstand des Opfers und das eigene Gefühl der Omnipotenz erregen ihn. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine Wiederholung der Tat beträchtlich. Masturbationsphantasien sind geprägt von sadistischen Themen, vom Okkulten und Gewalttätigen. Es besteht ein Hang zu sadomasochistischer Pornographie. Die Tat steht jedoch oft in krassem Gegensatz zum sonstigen, alltäglichen Erscheinungsbild des Vergewaltigers: Oft werden solche Charaktere von ihrer Umwelt als submissiv, freundlich-hilfsbereit und aggressionsgehemmt beschrieben. Mögliche Vorstrafen: Vergewaltigung oder andere, minderschwere Sexualstraftaten.
Groth (1979) fand für die von ihm untersuchte Population folgende Häufigkeitsverteilung: anger rape: 40%, power rape: 55%, sadistic rape: 5%. Aufgrund der Erhebung unter überführten Vergewaltigern geht Groth jedoch davon aus, dass
1. die Zahl der „power rapes“ unterschätzt wird, da die instrumentelle Gewalt und damit geringere Verletzungen des Opfers schwerer nachweisbar sind, und dass
2. die Zahl der „sadistic rapes“ unterschätzt wird, da bei einigen Morden eventuell die sexuelle Komponente übersehen wird.
Rehder versucht, die bisherigen Klassifikationen in eine übergeordnete Typologie zu fassen. Unter Vernachlässigung einiger Details und Einschränkungen schliesst er auf sechs Gruppen von Vergewaltigern:
1. Sadistische Täter. Sie entsprechen weitgehend der Kategorie „sadistic rape“ von Groth (1979) (s.o.).
2. Sexualisiert-aggressive Täter. Bei diesem Typ wird Sexualität zur Waffe gegenüber einer bestimmten Frau oder „der“ Frau. Ihre eigenen Ängste auf das Opfer projizierend, wollen sie Frauen das Schlimmstmögliche, eben Sexualität, antun. Diese Kategorie ist identisch mit Groths (1979) „anger rape“.
3. Dissoziale Täter. Diese Kategorie hat grosse Ähnlichkeit mit Krögers (1997) „antisozialem Täter“. Dissoziale Täter versuchen in extrem egozentrisch-rücksichtsloser Manier, alles zu bekommen, was sie haben wollen. Dem Opfer wird ein geheimer Wunsch nach Vergewaltigung unterstellt; so spricht sich der Täter von jeglicher Verantwortung frei.
4. „Rollenverkennende“ Täter. Solche Täter wenden, falls nötig, in einer (vielleicht nur subjektiv) sexuellen Situation Gewalt an, um ans Ziel zu kommen. Legitimation erhalten sie durch eine fehlerhafte Sozialisierung, die sie ihre Grenzen nicht erkennen oder schlicht ignorieren lässt. Merkmale des Opfers wie Kleidung oder Make-up werden als “auffordernde Signale“ missdeutet. Nicht selten brüsten sich solche Täter mit ihren zahlreichen „Eroberungen“.
5. „Ohnmächtige“ Täter. Dieser Typ vergewaltigt aus einem generellen Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühl heraus, meist vermischt mit depressiven Strukturen. Die Vergewaltigung erlebt er als die „letzte Bastion“, wo er es den Frauen aufgrund seiner physischen Überlegenheit „zeigen kann“. Diese Kategorie überschneidet sich stark mit Groths (1979) „power rape“.
6. Psychotische und neurotische Täter. Psychotische Täter kommen äusserst selten vor. Neurotischen Tätern dagegen dient die Vergewaltigung oftmals dazu, die Inhalte der Neurose abzuwehren. Im alltäglichen Leben erscheinen diese Täter meist aggressionsgehemmt und sozial unauffällig.
Tab. 2 zeigt Rehders (1990) Klassifikation. Neben der Typologie von Groth (1979) sind fast alle unter 4.2.1 aufgeführten Kategorisierungen integriert; lediglich die Klassifikationen von Wyre & Swift (1991) und von Beier (1995) sind nicht enthalten.
Beiers (1995) Einteilung ist eine relativ junge, empirisch gewonnene Klassifikation, basierend auf dem Konzept der „Dissexualität“: Damit bezeichnet Beier (1995, 1997, 1998) ein „sich im Sexuellen ausdrückendes Sozialversagen“ (Beier, 1997, S. 13). Dissexualität und Dissozialität können sich überlappen, genauso aber für sich allein stehen. Für den Tatbestand der Vergewaltigung schliesst Beier (1995) auf vier Gruppen:
1. Dissoziale Aggressionstäter haben meist ein niedriges Bildungsniveau und unregelmässige Arbeitsverhältnisse. Oft wechselnde Partnerschaften, ein Hang zur Verwahrlosung sowie die Gefahr eines Alkoholabusus sind die Regel. Die Dissexualität ist hier Teil einer allgemeinen Dissozialität.
2. Jugendliche, sexuell unerfahrene Täter kommen oft aus einem scheinbar intakten Elternhaus, können jedoch verwirrende Körper- und Sozialisationserfahrungen in der Pubertät aufgrund fehlender Anlaufstellen nicht aufarbeiten. Häufig machen diese Täter den Eindruck eines schüchternen Einzelgängers; die Vergewaltigung ist hier meist Ausdruck eines kläglichen Ausbruchsversuchs aus der sozialen Isolation und bleibt in der Regel episodisch.
3. „Symbolisch-agierende“ Täter leiden oft - trotz einer gelungenen Sozialisation und ohne Auffälligkeiten in der Entwicklung - in einer Partnerbeziehung unter Minderwertigkeitsgefühlen und Rollenverkennungen. Die angestaute Wut entlädt sich in mehr oder weniger grossen Zeitabständen gegenüber einer (in der Regel) unbekannten Frau als Symbol des übermächtig Weiblichen.
4. Schwachsinnige Täter sind seltener und leiden unter einem erheblichen Differenzierungsmangel (mindestens Debilität) bezüglich Beziehungs- und Situationseinschätzungen. In der Regel wird das Ausmass der eigenen Tat kognitiv nicht erfasst.
Tab. 2: Typologie von Rehder (1990)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Von allen diesen Kategorisierungen ist auch heute noch die Klassifikation von Groth (1979) eine der einflussreichsten, da sie sehr praxisorientiert ist und auf empirisch gewonnenen Daten basiert. A.-N. Groth hat sich nicht nur mit dem Phänomen der Vergewaltigung beschäftigt, sondern hat versucht, auch betreffs des sexuellen Missbrauchs eine Typologie zu entwerfen (s. 4.2.2.1), ein Delikt, welchem besonders in unserer Zeit viel Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Neben Vergewaltigung als aggressivem Sexualdelikt wurden vor allem für den sexuellen Missbrauch von Kindern verstärkt Klassifikationssysteme geschaffen, um Täterpersönlichkeiten einordnen und Missbrauchsverhältnisse aufhellen zu können. In der klinischen Praxis spielen Frauen als Täter (bis jetzt) eine geringe Rolle, so dass bestehende Typologien sie wenig oder gar nicht berücksichtigen. Daher orientieren sich auch erklärende Psychodynamiken in der Regel an einer „Mann-Opfer“-Dyade. Dargestellt werden stellvertretend für mehrere Typologien die Klassifikationen von Groth (1978) und Finkelhor (1984). Groths (1978) Einteilung ist praxisnah und versucht, die Durchführung der Tat sowie deren Umstände aus der Täterpersönlichkeit heraus zu erklären. Finkelhor (1984) entwickelt ein Faktorenmodell, das eine Typologie auf drei Dimensionen vorschlägt.
Zunächst jedoch sollten keine Unklarheiten bezüglich der Terminologie entstehen:
„ Sexueller Kindesmissbrauch “ definiert jeglichen aktiven, manifesten, erzwungenen Sexualkontakt mit Minderjährigen (Jungen oder Mädchen) gegen deren Willen, egal ob oder in welchem Verwandtschaftsverhältnis Täter und Opfer stehen.
„ Pädophilie “ ist dem nicht gleichzusetzen. Vielmehr bezeichnet Pädophilie eine sexuelle Orientierung, eine dauerhafte Stilbildung und stellt nach Groth (1978) eine hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung des Missbrauchs dar, quasi eine Unterklasse des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Von „ Inzest “ spricht man, wenn der Täter zur Kernfamilie gehört: Vater, Stiefvater, Freund der Mutter etc. Da diese Gruppe eine spezielle Psychodynamik sowie eine notwendige Betrachtung familiärer Dysfunktionen beinhaltet, wird sie in manchen Klassifikationen gesondert aufgeführt. Rehder (1990) beispielsweise sieht den Unterschied zwischen Pädophilie und Inzest darin, dass „...Inzest ein innerfamiliäres Verhalten in einem beziehungsgestörten sozialen Gefüge [ist], das durch Stressbedingungen gefördert wird und bei dem pädophile Neigungen selten eine Rolle spielen...“ (Rehder, 1990, S. 80).
Diese Kategorisierung wird nicht von allen Autoren unterstützt. So entwickelt Finkelhor (1984) ein zweidimensionales Kriteriensystem, welches sowohl sexuelle Missbraucher als auch Inzesttäter umfasst (s. 4.2.2.2). Im Rahmen dieser Arbeit wird auf die Unterform des Inzest als sexueller Missbrauch nicht näher eingegangen: Erstens wird die Psychodynamik von Inzesttätern in den nachfolgenden Typologien an mehreren Stellen integriert. Zweitens wird hiermit auf Literatur verwiesen, die sich der Dichotomisierung „Inzest vs. Nicht-Inzest“ widmen (vgl. Finkelhor, 1984; Rehder, 1990; Deegener, 1995).
Dennoch muss die Frage einer gemeinsamen Psychodynamik von Missbrauchern und Inzesttätern auch in künftigen Forschungsprojekten diskutiert werden. Als einer der ersten hat sich A.-N. Groth mit der Typologie von sexuellen Missbrauchern beschäftigt.
Groth (1978) teilt sexuelle Missbraucher in zwei Gruppen ein, wobei vor allem die Dimensionen der primären sexuellen Orientierung und der sozio-sexuellen Entwicklung eine Rolle spielen:
1. Fixierte Missbraucher. Bei diesem Tätertyp stellt der Hang zu Kindern als Sexualobjekt eine überdauernde sexuelle Stilbildung dar, oft mit frühem Beginn in der Adoleszenz. Der Täter identifiziert sich stark mit dem Opfer und gleicht sein Verhalten dem Niveau des Kindes an. Die Taten sind meist geplant und in langen Phasen von Masturbationsphantasien durchgespielt. Primäre Opfer sind Jungen. Diese Merkmale kennzeichnen weitgehend den „Pädophilen“; beim „Hebephilen“ dagegen findet sich eine überdauernde sexuelle Orientierung gegenüber Heranwachsenden. Der fixierte Missbraucher zeichnet sich meist durch fehlende Bindungen zu seiner Altersgruppe aus; seine sozialen Fertigkeiten sind unterentwickelt, die Persönlichkeit unreif. Oft fehlen sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen fast oder vollständig. Drogenmissbrauch in der Biographie ist selten.
2. Regressive Missbraucher. Die Neigung zu Kindern bildet sich bei diesem Typ erst im Erwachsenenalter heraus. Der regressive Missbraucher begeht die Tat aufgrund situationaler Aspekte, oft als Reaktion auf grossen Stress. Übergriffe sind (zumindest in der Anfangsphase der sexuellen Stilbildung) meist nicht das Ergebnis grösserer Planung und treten eher episodisch auf. Das Kind hat sexuellen Ersatzcharakter, überwiegend sind die Opfer weiblich. Im Gegensatz zum fixierten Missbraucher versucht der Täter, das Opfer auf sein Niveau zu hieven. Der Täter ist gewöhnlich verheiratet, sexuelle Kontakte zu Gleichaltrigen sind die Regel. Kontakte zu seiner Altersgruppe bleiben unterentwickelt. Oft geschehen die Taten unter Alkoholeinfluss.
3. Simkins et al. (1990) erweitern die Klassifikation von Groth um einen Tätertyp: den soziopathischen Missbraucher. Dieser empfindet meist keine Reue für seine Taten und hat eine abgestumpfte Haltung gegenüber Frauen und Sexualität. In einigen Fällen zeigt der Täter eine sadistische Orientierung. Der Missbrauch ist eingebettet in eine ganze Reihe anderer, auch nicht-sexueller Delikte (Einbruch, sexuelle Nötigung etc.). In der Regel findet man längeren Drogenmissbrauch in der Vorgeschichte des Täters. Der Übergriff erfolgt mit ausgesprochener Brutalität, meist als anale oder vaginale Penetration. Kinder werden als Objekte betrachtet; eine emotionale Annäherung an das Opfer geschieht nicht.
Auf einer weiteren Dimension, nämlich der Art und Weise der Interaktion, bestimmt Groth (1978) drei Klassen:
1. Sexualdelikte unter Druck. Typischerweise verführt der Täter das Opfer. Wenn überhaupt, ist die ausgeübte Gewalt gering. Das Kind wird mit Geld, Vergünstigungen oder anderem bestochen, überredet und in eine Scheinkooperation mit dem Täter gezwungen, von der es unter Umständen glaubt, an ihr mitschuldig zu sein. Dies nutzt der Täter aus. Falls das Opfer Widerstand leistet, wird der Missbrauch manchmal abgebrochen. Der Täter möchte oftmals zärtlichen Körperkontakt und Zuneigung, was nicht mit der Anwendung körperlicher Gewalt konform geht. Nicht selten idealisiert der Täter das Opfer, beschreibt es als unschuldig, zärtlich, liebevoll, attraktiv, anspruchslos. Sehr oft kennen sich Täter und Opfer bereits vor dem Missbrauch.
2. Gewaltsamer Missbrauch mit ausbeuterischem Charakter. Gewalt wird hier instrumentell angewandt, oft hat der Missbraucher keine Freude daran, das Kind zu quälen. Dennoch wird er nicht zögern, sich das Kind notfalls auch brutal gefügig zu machen. Der Täter versucht, das Opfer (manchmal unter Einsatz von Waffen) einzuschüchtern und zu manipulieren. Er lässt keinen Zweifel daran, wer der Stärkere und Mächtigere ist. Das Opfer dient ihm als Objekt im Dienst seiner eigenen Befriedigung. Emotional nimmt er keine Beziehung zum Kind auf; viele Täter beschreiben ihre Opfer als schwach, hilflos, manipulierbar. Angeblich nicht mehr kontrollierbare Sexualbedürfnisse stellen das Hauptmotiv dar; meist bleibt der Missbrauch episodisch.
3. Gewaltsamer Missbrauch mit sadistischem Charakter. Der sadistische Missbraucher erotisiert die Gewalt. Er muss dem Kind wehtun, um sexuell erregt zu werden. Gewöhnlich schlägt der Täter sein Opfer, er würgt und foltert es, bevor er es missbraucht. Dies kann sich bis zur Tötung des Kindes steigern. Allein aufgrund des Zeitbedarfs geschehen solche Taten geplant, meist flankiert von ausgeprägten, sadistisch-pädophilen (Masturbations-) Phantasien. Sexualität wird zum Ausdruck von Dominanz und Wut. Das Kind symbolisiert Personen, Situationen oder Objekte, die der Täter hasst. Stellvertretend wird das Kind verletzt und bestraft. Fast immer werden Waffen (Gewehre, Messer, Stöcke) eingesetzt.
Die Typologie von Groth (1978) lässt erkennen, dass zumindest auf der Dimension der Interaktionsart die Unterschiede zwischen Missbrauchern und Inzesttätern verwischen. Auch was die beiden anderen Dimensionen, sozio-sexuelle Entwicklung und primäre sexuelle Orientierung betrifft, wird für Inzesttäter keine spezielle Psychodynamik angenommen. Die folgende Klassifikation von Finkelhor (1984) bestärkt die Vermutung, dass Inzesttäter keine eigenen Klassifikationen benötigen. Vielmehr können sich bei Inzesttätern innerfamiliäre Konstellationen und Bedingungen (Stiefvater-Stieftochter-Verhältnis, „broken-home“-Effekte) als zusätzliche, für die Tat selbst entscheidende Faktoren entpuppen.
Finkelhor (1984) geht es zunächst um vier Aspekte (Faktoren), die bei jedem Missbrauch auftreten und die sich in unterschiedliche Erklärungsansätze differenzieren lassen. Als Ansatzpunkt seines Modells dienen Finkelhor vier Fragen, die sich über alle Formen des sexuellen Missbrauchs stellen:
1. Warum findet eine Person die sexuelle Beziehung zu einem Kind emotional befriedigend und ihren Bedürfnissen entsprechend?
2. Warum ist eine Person fähig, durch ein Kind sexuell erregt zu werden?
3. Warum ist eine Person in ihren Fähigkeiten blockiert, sexuelle und emotionale Befriedigung durch als „normal“ angesehene Quellen zu erhalten?
4. Warum wird eine Person nicht von konventionellen sozialen Hemmungen davon abgehalten, eine sexuelle Beziehung zu einem Kind einzugehen?
Finkelhor interpretiert jede dieser Fragen als einen bestimmenden Faktor: 1. Emotionale Übereinstimmung, 2. Sexuelle Erregung, 3. Blockierung, 4. Enthemmung.
Die Faktoren 1-3 dienen der generellen Erklärung des sich entwickelnden sexuellen Interesses an Kindern, Faktor 4 beschreibt das Zustandekommen des tatsächlichen Missbrauchsverhaltens. Für jeden Faktor versucht Finkelhor, erklärende Theorien zu finden. Ein einheitliches Theoriegebäude besteht nicht. Die vier Faktoren kann man wie folgt umreissen:
1. Emotionale Übereinstimmung. Eine emotionale und sexuelle Befriedigung durch ein Kind tritt für einen Erwachsenen ein, so Finkelhor, wenn möglicherweise
- die Täter sich selbst noch als kindlich erleben, kindliche Bedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit haben und emotionale Beziehungen zu „Gleichaltrigen“ aufbauen wollen,
- ein äusserst geringes Selbstwertgefühl beim Täter besteht, welches durch das Macht- und Kontrollverhältnis gegenüber einem Kind ausgeglichen wird,
- durch einen früheren eigenen Missbrauch psychoanalytisch eine „Identifikation mit dem Aggressor“ auftritt und so eigene Demütigungen und Ängste überwunden werden sollen oder
- die Sozialisation im Hinblick auf ein „Mannsein“ fehlgeschlagen ist, da ich-schwächere Männer nur dann den kulturellen Normen von männlicher Dominanz und Macht folgen können, wenn sie diese an noch Schwächeren (an Frauen oder eben an Kindern) demonstrieren.
2. Sexuelle Erregung. Nach Finkelhor wird dieser Faktor als physiologische Erregung verstanden, die gegenüber Kindern aktiviert werden kann, wenn
- der Täter als Kind selbst missbraucht wurde und entsprechende Prägungs- und Konditionierungsmechanismen die sexuelle Stilbildung „erleichtern“,
- ein „Lernen am Modell“ einsetzt, d.h. eine Person verfügbar ist, auf die Kinder sexuell erregend wirken,
- „Zuschreibungsfehler“ stattfinden, d.h. eine nicht-sexuelle Erregung gegenüber einem Kind („mütterlich-liebevolle“, „behütende“ Attributionen etc.) als sexuelle Stimulation fehlinterpretiert wird,
- durch neurologische, chromosomale oder hormonelle Besonderheiten des Täters ein psycho-sexuelles „Klima der Instabilität“ gegeben ist oder
- eine bereits vorhandene pädophil-sexuelle Ausrichtung durch den Konsum entsprechender Pornographie gefestigt wird und eine zunehmende Enthemmung eintritt.
Finkelhor führt aus, dass interessanterweise die Psychoanalyse keine besondere Erklärung für das sexuelle Interesse von Erwachsenen an Kindern bereithält: Sexuelle Erregung gegenüber Kindern sei ein Anteil der polymorph-perversen Partialtriebe des Kindes, die sich im Lauf der Entwicklung zu einem übergeordneten Sexualtrieb zusammenfügen. Somit sei eine mögliche sexuelle Erregung gegenüber Kindern auch noch im Erwachsenenalter präsent.
3. Blockierung. Dieser Faktor geht von der Frage aus, warum eine Person, die sich von einem Kind sexuell angezogen fühlt, nicht durch soziale Normen, Internalisierungen etc. von manifesten sexuellen Kontakten abgehalten wird. Hier kann man
- psychoanalytisch argumentieren, dass durch ödipale Konflikte mit der Mutter massive Kastrationsängste entstehen, die eine Bindung an andere, erwachsene Frauen nicht zulassen. Ein Kind als Sexualpartner befreit von der Auseinandersetzung mit eigenen Reifeprozessen.
- individualsoziologisch argumentieren, dass Männer, die sich bei ihren ersten sexuellen Erfahrungen als impotent erlebten oder tief enttäuscht wurden, weitere sexuelle Beziehungen zu Frauen mit Schmerz und Versagen assoziieren. Kinder werden so zu Ersatzobjekten, denen gegenüber man sich als mächtig und potent erleben kann.
- gesellschaftssoziologisch argumentieren, dass bei einer männlichen Übernahme von repressiver Sexualmoral, sei es Selbstbefriedigung betreffend, sei es abgezielt auf aussereheliche Sozialkontakte des Mannes oder ähnliches, Schuldgefühle und Konflikte entstehen. Das Kind wird zum scheinbar einzig gangbaren Ausweg aus der moralischen Zwangssituation.
- familiendynamisch argumentieren, dass eine zerrüttete Familie oder eine Partnerin, die sexuelle Kontakte verweigert, innerfamiliären Missbrauch (in der Regel den der eigenen Tochter) begünstigt.
4. Enthemmung. Das Moment der Enthemmung findet seinen Ausdruck im konkreten Begehen der Tat. Finkelhor findet mögliche Ursachen
- in einer geringen Impulskontrolle, so dass der Täter über sein Handeln (kurzzeitig) die Kontrolle verliert.
- in möglichen situativen Bedingungen wie z.B. starkem persönlichen Stress (Arbeitsplatzverlust, Tod eines nahestehenden Menschen etc.). Besonders bei Tätern, in deren Vorgeschichte sich keine einschlägigen Verhaltensweisen finden lassen, können situative Elemente entscheidend zur Enthemmung beitragen.
- den Inzest betreffend in entfernteren bzw. nicht blutsverwandten Verwandtschaftsverhältnissen. Dadurch fehlen „quasi-biologische“ Hemmungen, welche normalerweise durch ständige Präsenz und Nähe während der frühen kindlichen Entwicklungsstadien sowie durch eine empathische Elternrolle herausgebildet werden.
- in gesellschaftlich stillschweigend geduldeten „Normen“, die den sexuellen Missbrauch an Kindern - abgeleitet von einer männlichen Einschätzung von Frauen und Kindern als „minderwertig“ und „besitzbar“ - als ein minderschweres Delikt erscheinen lassen. Diese Normen, internalisiert oder nicht, dienen Tätern oft als Rechtfertigung vor sich und anderen. „Rechtfertigungsnormen“ tragen zur Enthemmung das Täters bei, da er sich mit gesellschaftlichen Erwartungen im Einklang glaubt. Nach feministischer Überzeugung könnten solche Normen bei Inzesttätern auch quasi-biologische Hemmungen ausser Kraft setzen.
Aufgrund dieser Überlegungen formuliert Finkelhor (1984) eine Tätertypologie auf drei Dimensionen, die von allen vier Faktoren geprägt werden:
1. Bevorzugung von Jungen oder Mädchen. Will sich der Täter narzisstisch mit dem Kind identifizieren, wird er eher einen Jungen als Opfer wählen. Bedürfnisse nach Macht und Omnipotenz dagegen stillt ein Täter meist gegenüber einem Mädchen, einem weiblichen und jungen Opfer. (Faktor I)
Befriedigende Erfahrungen mit Jungen (Mädchen) können zu einer dauerhaften Bevorzugung von Jungen (Mädchen) führen. (Faktor II)
Ödipale Konflikte können zu einer generalisierten Angst vor Frauen und Mädchen führen. Diese Blockierung mündet möglicherweise in einer sexuellen Beziehung zu Jungen. Andererseits erfolgt vielleicht bei situationsbedingten Hemmungen (z.B. wegen Beziehungsstörungen zur Partnerin) eine heterosexuelle Betätigung nicht. In einem solchen Fall werden meist Mädchen als Ersatzobjekte bevorzugt, weil sie der Partnerin am ähnlichsten sind. (Faktor III)
Aufgrund homophober Verstrickungen kann die Hemmschwelle gegenüber Jungen grösser sein als gegenüber Mädchen. Solche Täter sind jedoch oft ebenso gehemmt und verunsichert gegenüber Vergewaltigungstabus, die das „wehrlose Mädchen“ betreffen. (Faktor IV)
2. Ausmass der Ausschliesslichkeit und Stärke der sexuellen Erregung gegenüber Kindern. Finkelhor (1984) widerspricht der gängigen Dichotomisierung „Pädophile vs. Nicht-Pädophile“ bzw. „regressive vs. fixierte Täter“, eine Einteilung, die weitgehend auf den immer noch dominierenden Überlegungen von Groth (1978) basiert. Er möchte beide Kategorien durch zwei kontinuierliche Dimensionen ersetzen. Dimension 1 bezieht sich auf die Motivationsstärke, d.h. auf die Frage, wie gross das Interesse des Täters ist, Sex mit Kindern auszuüben. Dimension 2 bezieht sich auf die Ausschliesslichkeit der sexuellen Interessen an Kindern, d.h. auf den prozentualen Anteil von sexuellen Erfahrungen und Phantasien mit Kindern (gegenüber Erfahrungen und Phantasien mit Erwachsenen).
3. Unterteilung Inzesttäter - andere Missbraucher. Hierzu vermerkt Finkelhor (1984), dass, obwohl in der Theorie oft Inzesttäter und andere sexuelle Missbraucher ätiologisch getrennt behandelt werden, es nach seiner Ansicht empirisch keineswegs grosse Unterschiede zwischen beiden Gruppen gibt. Er plädiert daher für eine Auflösung dieser Dichotomisierung; geeigneter erscheint ihm die Einordnung auf seinen Dimensionen Ausschliesslichkeit und Sexuelle Erregung. Auch Deegener (1995) befürwortet ein solches Vorgehen: „Die Vielfalt der ätiologischen Faktoren bedarf eines theoretischen Grundgerüsts, welches [..] hinreichenden Erklärungswert besitzt, und so könnten eben auch Inzesttäter im Rahmen der oben angeführten Faktoren und Täter-Einteilungen differenzierter beschrieben werden als im Rahmen eingleisiger Erklärungsmodelle und dichotomer Typisierungen.“ (Deegener, 1995, S. 222).
5. Therapie
Als Einstieg in den komplexen Bereich der Therapie von Sexualstraftätern mag ein Zitat von Arentewicz (1991) dienen, das das therapeutische „Kardinalproblem“ klar umreisst: „Ein therapieschulengebundenes Denken ist nicht sinnvoll, da jede Richtung nur einen Teil des menschlichen Erlebens und Verhaltens fokussiert [..] und somit reduktionistisch bleibt.“ (Arentewicz, 1991, S. 268).
Sowenig es bis jetzt eine einheitliche Ätiologie der Sexualstraftaten gibt, sowenig existieren einheitliche Vorstellungen über entsprechende Therapieformen. Losgelöst von praktischen Bezügen kann man drei bis vier Schulmeinungen unterscheiden, die jedoch in der Praxis miteinander vernetzt werden. Das Ergebnis solch nebeneinander existierender, therapeutischer Herangehensweisen ist ein in der Praxis ausgelebter Wildwuchs, der seinesgleichen sucht. So findet man kaum zwei vergleichbare Therapieprogramme, vielmehr ein buntes Bausteinprogramm aus analytischen, lerntheoretischen und gruppentherapeutischen Elementen (vgl. Berner & Bolterauer, 1995; Berner & Karlick-Bolten, 1986; Fehlenberg 1997; Menghini & Ernst, 1991; Urbaniok, 1995 etc.).
Aus diesem Grund muss man den Komplex der Therapie von Sexualstraftätern entwirren: Zunächst werden die wichtigsten theoretisch-therapeutischen Konzepte vorgestellt. Danach folgt die Darstellung eines eklektisch orientierten Behandlungsprogramms sowie ein möglicher Richtlinien-Katalog zur Erstellung sinnvoller therapeutischer Intervention. Schliesslich werden bisherige Ergebnisse in der Behandlung von Sexualstraftätern referiert.
Schorsch et al. (1985) gruppieren eine therapeutische, tiefenpsychologische Intervention bei Sexualstraftätern um vier zentrale Punkte: Lebenshilfe, Krisenintervention, Arbeiten an eingrenzbaren Problembereichen sowie eine Ebene von Deutung und Konfrontation. Die Autoren betonen das dynamische Zusammenspiel der vier Bereiche, deren einzelne Beiträge einen wichtigen Zugang für den Patienten und dessen therapeutische Fortschritte darstellen. Die vier Punkte im einzelnen:
1. Hilfe bei der Bewältigung äusserer Lebensumstände. Dieser Aspekt hat eher sozialpädagogischen Charakter und wird einer intensiveren Therapie meist vorgeschaltet. Der Patient soll sozial gestützt werden; er erhält Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei der Regelung finanzieller Verhältnisse etc.
2. Hilfe bei der Bewältigung aktueller Krisen. Meist stellt die sexuelle Devianz für den Patienten selbst eine Form der „Krisenbewältigungsstrategie“ dar. Auch suizidale Krisen, Partnerschaftskonflikte etc. können in den Therapieverlauf eingreifen und müssen entschärft werden. Damit es nicht zu einer grösseren Störung kommt, werden ich-stützende Massnahmen angewandt, die dem Patienten auch über stärkere, akute Belastungen hinweghelfen.
3. Arbeit an konkreten Problembereichen. Die dem devianten Verhalten zugrundeliegenden Ängste, Hemmungen und Konflikte werden thematisiert und aufgearbeitet. Dabei richtet sich das therapeutische Vorgehen nach unterschiedlichen Variablen der Persönlichkeit des Patienten: ich-syntone vs. ich-dystone Verarbeitung, die Intensität des perversen Symptoms sowie die Abhängigkeit des Patienten vom perversen Symptom. Der Patient wird angeleitet, aktive Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um nicht mehr auf deviante Verhaltensweisen zurückgreifen zu müssen.
4. Herausarbeitung emotional-funktionaler Bewertungszusammenhänge und übergreifender Verhaltensstrukturen. Unter Zuhilfenahme integrativer, aber auch konfrontativer Techniken soll der Patient Einsicht in das Wechselspiel von Phantasien, sozialen Ängsten, Beziehungsproblemen und deviantem Symptom erhalten. Es geht um die Vermittlung des „Warum“, um das eigene Verstehen und Nachvollziehen der perversen Symptombildung.
Die genannten vier Punkte sind als vier Stufen zu verstehen, die an Komplexität und Schwierigkeit für den Patienten zunehmen. Dennoch geht es nicht immer darum, die „höchste Ebene“ zu erreichen. Ziel ist vielmehr, „...herauszufinden, was unter den gegebenen Umständen möglich und sinnvoll ist.“ (Schorsch et al., 1985, S. 140).
Duncker (1995) nennt unter anderem folgende Punkte, die in der Therapie beachtet werden sollten:
1. Der Patient soll in der Einrichtung eine wohlwollende Akzeptanz finden. Diese darf nicht mit grenzenloser, gewährender Gleichgültigkeit verwechselt werden. Im Sinne eines „good mothering“ sind reale Grenzsetzungen zur Ich-Strukturierung erwünscht.
2. Mechanismen der Herrscher-Beherrschten-Beziehung müssen vermieden werden.
3. Sadomasochistische Mechanismen (Bitte, Verweigerung, Forderung, Verwerfung, Revolte) sollen zunächst zugelassen und dann bearbeitet werden.
4. Die Identifikationsangebote an den Patienten müssen seiner Ideal-Ich-Entwicklung entsprechen.
In den letzten Jahren haben besonders kognitiv-behaviorale Methoden in der Straftäterbehandlung von sich reden gemacht (vgl. Lösel & Bender, 1997; Rüther, 1998). Eine kritische Bestandsaufnahme kognitiv-behavioraler Therapiepraxis findet sich bei Eucker (1998).
Traditionelle verhaltenstherapeutische Methoden, vor der „kognitiven Wende“ in den sechziger Jahren, folgen weitgehend den Prinzipien der klassischen und operanten Konditionierung. Prozesse der Informationsverarbeitung als Teil der menschlichen „black box“ werden nicht beachtet. Aus dieser Sichtweise heraus entstanden folgende Verfahren:
1. Systematische Desensibilisierung. Diese Methode dient der schrittweisen Annäherung an die oft mit Ängsten besetzte, partnerschaftliche Sexualität. Ähnlich der Behandlung von Phobien wird der Patient entlang einer selbstgewählten Hierarchie angstauslösenden Personen und Situationen ausgesetzt. Bei einem Teil der Störungen, z.B. dem Sadomasochismus, kann der angstauslösende, eigene Körper selbst im Mittelpunkt stehen.
2. Masturbatorische Konditionierung. Diese Technik arbeitet mit positiven, vom Patienten selbst induzierten Reizen. Der Patient soll sich kurz vor dem Orgasmus auf nicht-deviante Sexualziele konzentrieren. Durch Wiederholung wird eine Koppelung zwischen Befriedigung und konventionellen, nicht-devianten Sexualphantasien erwartet. Varianten davon sind die Sandwich-Technik, bei der zwischen devianten und nicht-devianten Sexualzielen gewechselt wird, und das Shaping (nicht-deviante Sexualziele werden in einem fortlaufenden Prozess immer mehr verstärkt).
3. Aversionstherapie. Sie sei der Vollständigkeit halber genannt. Faktisch hat die Aversionstherapie Bestrafungscharakter: Induzierte sexuelle Erregung, die durch eine sexuell deviante Stilbildung des Täters entsteht, wird mit aversiven - meist elektrischen oder olfaktorischen - Reizen beantwortet. Diese Form der „Therapie“ gilt heute als inhuman und nicht mehr zeitgemäss. Ähnliches gilt für die Technik des „Aversion relief“: Hier soll die „Erleichterung“ nach einer Bestrafung mit einem angekoppelten therapeutischen Impuls assoziiert werden.
[...]
Kommentare