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Mehr InfosMagisterarbeit, 2008, 146 Seiten
Politik - Internationale Politik - Thema: Frieden und Konflikte, Sicherheit
Magisterarbeit
3,0
Die größte Bedrohung der Demokratien nach dem II. Weltkrieg ging von dem russischen Kommunismus aus, der in rasender Bewegung seine Flügel nicht nur über Osteuropa, sondern auch weltweit ausbreitete und damit den Ost-West-Konflikt herausbildete. Dieser Sicherheitskonflikt wurde als sog. „Kalter Krieg“ bezeichnet und sorgte für Unsicherheit und Rüstungswettlauf zwischen beiden Seiten.
Nach dem Niedergang des kommunistischen Blocks stellt der internationale Terrorismus[1] eine langwierige Herausforderung für die Demokratien dar. Die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001, gefolgt von den Bombenanschlägen in Madrid (März 2004) und London (Juli 2005), haben uns demonstrativ gezeigt, dass die Terroristen entschlossen sind, alle Mittel einzusetzen, um den Westen massiv zu tangieren.
Als Reaktion darauf hat der Westen unmittelbar danach gemeinsam mit seinen weltweiten Verbündeten eine Vielzahl von Maßnahmen in diesem Kontext ergriffen, um sich mit dieser neuen Bedrohung auseinander zu setzen. Der Ernst der Lage wird nicht nur durch die staatlichen Maßnahmen, sondern auch durch die Einschätzung seitens der Bevölkerung widerspiegelt, denn der internationalen Terrorismus wird von zwei Dritteln den Europäer und von 79 Prozent der Amerikaner (bzw. 74 Prozent im Jahr 2007) als Bedrohung wahrgenommen.[2] Die schwierige Situation soll uns zum Reflektieren veranlassen, um die Reaktionen Deutschlands auf diese Herausforderungen zu analysieren. Die Untersuchung des Sicherheitsverhaltens der übrigen westlichen Staaten und das Verhalten der internationalen Terroristen werden hier aus pragmatischen Gründen nicht berücksichtigt.
Der internationale Terrorismus stellt eine Kompliziertheit dar, zumal aufgrund der Globalisierung die Möglichkeit der raschen Verbreitung von „Botschaften“ besteht, und weil die Terroristen aufgrund ihrer kleinen Gruppierungen in verschiedenen Ländern gleichzeitig operieren können. Ungeachtet dessen möchte das demokratische System die Sicherheit der Bevölkerung durch seine staatlichen Organe gewährleisten, aber:
Welches sind die Determinanten des Sicherheitsverhaltens Deutschlands gegenüber dem internationalen Terrorismus?
Welches sind die wesentlichen Akteure in diesem Prozess und welche Auswirkungen haben die Strategien zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus bis jetzt gezeigt bzw. waren diese Strategien normgerecht und angemessen?
Um diese Fragen zu beantworten, werden die folgenden Kapitel dargestellt:
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem theoretischen Grundrahmen, um den Zugang zum Materie zu ermöglichen. Zunächst wird der Begriff Terrorismus selbst erläutert, anschließend wird auf seine neuen Formen und internationalen Dimensionen eingegangen. Außerdem werden dann zwei politische Theorien über die internationalen Beziehungen, nämlich zum einem der neue Liberalismus und zum anderen der Konstruktivismus aufgezeigt. Schließlich werden auf der Grundlage dieser Theorien zwei Hypothesen bezüglich des Sicherheitsverhaltens Deutschlands aufgestellt.
Im Rahmen des dritten Kapitels wird die angewandte Methode (Diskursanalyse) erläutert und die Operationalisierung behandelt. Nach der Erläuterung der Diskursanalyse werden sowohl die unterschiedlichen Daten aufgelistet als auch die Fallauswahl begründet. Abschließend werden zwei Hypothesen operationalisiert und Fragestellungen formuliert.
Die Überprüfung der Hypothesen durch die Diskursanalyse ist Gegenstand des vierten Kapitels. Hier werden also die Ergebnisse präsentiert und mögliche Modifizierungen der Hypothesen in Betracht gezogen.
Das fünfte Kapitel diskutiert die gefundenen Ergebnisse und unterbreitet Empfehlungen. Zum einem werden die Ergebnisse aus der Untersuchung in die Bekämpfungsstrategie eingearbeitet, zum anderen wird das Verhältnis zwischen Strategie und Praxis analysiert, um festzustellen, welche Leistungen erbracht worden sind und welche Herausforderungen noch bewältigt werden müssen. Ganz zum Schluss werden aus den bestehenden Herausforderungen einige Handlungs-empfehlungen gegen den internationalen Terrorismus entwickelt.
Am Ende der Arbeit, im sechsten Kapitel, werden die Resultate zusammengefasst und kritisch reflektiert.
In diesem Kapitel werden zuerst verschiedene Definitionen für den Begriff Terrorismus behandelt, um dann im zweiten Teil dessen neue Formen darzustellen und auf die neuen internationalen Dimensionen einzugehen. Außerdem sollen die Theorien der internationalen Beziehungen, nämlich Liberalismus bzw. utilitaristischer Liberalismus und Konstruktivismus, erläutert werden. Abschließend werden aus diesen theoretischen Annahmen zwei Hypothesen bezüglich des Sicherheitsverhaltens Deutschlands gegenüber dem internationalen Terrorismus abgeleitet.
Aufgrund der Tatsache, dass in der Wissenschafts- und Politikwelt pluralistische Auffassungen existieren, kann nicht erwartet werden, dass es eine einheitliche Definition für ein bestimmtes Phänomen wie den Terrorismus gibt. Aus diesem Grund werden im weiteren Verlauf einige Definitionsbeispiele für den Begriff Terrorismus betrachtet, und somit werden die Grundlagen für den weiteren Zugang zur Analyse bereitgestellt.
Die Variationen des Begriffs Terrorismus zu verdeutlichen bzw. zu thematisieren ist nicht Gegenstand dieser Analyse, da wir nicht feststellen wollen, in welcher Epoche, in welchem System und in welchem Kontext die Gesellschaft und die Staaten von Terrorismus bzw. nicht von Terrorismus sprechen.
Um dies das anhand eines Beispiels zu verdeutlichen, müssen nur die Spannungslinien zwischen den Demokratien und Nicht-Demokratien bezüglich der Definition und der Bekämpfung des internationalen Terrorismus beobachtet werden, denn wenn wir im Westen von Terrorismus sprechen und dementsprechend Maßnahmen ergreifen, um die Freiheit zu beschützen, wird in den autoritären Staaten bzw. Pseudodemokratien diese Bewertung nicht geteilt.
Alleine die unterschiedlichen Begriffsverständnisse des gleichen Phänomens zeigen uns ein evidentes und gravierendes Konfliktpotenzial, denn die Standpunkte der autoritären Staaten führen dazu, dass die Terroristen direkt oder indirekt dadurch ermutigt werden bzw. Unterstützung finden, und somit können sie ihre Ziele weiterhin weltweit verfolgen. Zunächst sollen drei Definitionen betrachtet werden, die vom westlichen Demokratieverständnis ausgehen, um im Anschluss daran die neuen Formen und Dimensionen des internationalen Terrorismus zu erläutern.
Terrorismus ist nach Waldmann „als eine Gewaltstrategie zu definieren, die primär durch die Verbreitung von Furcht und Schrecken (daneben bei einigen Gruppen auch durch das Werben um Schadenfreude und Sympathie) das bestehende Herrschaftssystem auszuhöhlen und eine mehr oder weniger grundlegende politisch-gesellschaftliche Umwälzung herbeizuführen sucht.“[3]
Während die Guerillas militärische Strategien anwenden, müssen sich die Terroristen mit einer symbolischen Strategie zufrieden geben.[4] Mit anderen Worten: Die Guerillas okkupieren ein Gebiet, und die Terroristen wollen das Denken besetzen.[5] Die terroristischen Handlungen haben den Zweck, einen allgemeinen Zustand der Angst, Nervosität und Hysterie hervorzurufen, sodass der angegriffene Staat überreagiert, also das tut, was die Terroristen unfähig wären alleine zu realisieren, nämlich einen allgemeinen Aufstand zu bewirken.[6]
Holtmann definiert den Terrorismus wie folgt: „politisch motivierte Gewaltkriminalität (insbes. Mord, Flugzeugentführung, Geiselnahme) mit revolutionärem bzw. extremistischem Motivhintergrund. Terroristische Aktionen, die von verdeckt operierenden Kommandos vorbereitet und verübt werden, zielen gleichermaßen darauf, das staatliche Gewaltmonopol als ohnmächtig vorzuführen bzw. zu Überreaktionen herauszufordern, beidesmal mit dem Kalkül, ein der herrschenden politischen Ordnung abträgliches Meinungsklima zu erzeugen“[7].
Schließlich betrachten wir die Definition von Jesse: „Der Terrorismus ist eine Form des politischen Extremismus. Durch die systematische Anwendung von Gewalt insbesondere auf ausgewählte Repräsentanten des <<Systems>> soll die <<herrschende Schicht>> verunsichert und die <<unterdrückte Klasse>> mobilisiert werden - z.B. dadurch, dass der Staat mit seinen Abwehrmechanismen überreagiert.“[8]
Diese drei Definitionen sollen nun miteinander verglichen und bewertet werden.
Die erste Definition akzentuiert den Terrorismus als eine Strategie, die Gewalt einsetzt, um Furcht und Schrecken auszustrahlen. Hier wird aber nicht gesagt, was und gegen wen die Terroristen Gewalt anwenden. Werden nur die Sicherheitsorgane angegriffen oder auch die Zivilbevölkerung? Außerdem werden die sog. „Botschaften“ der Terroristen, also, die Benutzung u.a. der Medien zur Verbreitung ihrer Propaganda, nicht berücksichtigt. Das Ziel der Terroristen sei es, das System auszuhöhlen und eine politisch-gesellschaftliche Wandlung zu realisieren. Es ist also von einer politisch–gesellschaftlichen Umwälzung die Rede, während die ideologischen und religiösen Aspekte hier nicht betont werden.
Bei der zweiten Definition wird der Terrorismus als politisch motivierte Gewaltkriminalität mit revolutionärem bzw. extremistischem Motivhintergrund hervorgehoben. Hier wird der linke bzw. extremistische Terrorismus mit Kriminalität vermischt. So wie bei der ersten Definition fehlen auch bei dieser Begriffsbestimmung die Gewalt- und Botschaftsaspekte. Zwar wird nachdrucksvoll betont, dass die Terroristen ihre Aktionen verdeckt und nicht spontan vorbereiten und dann gezielt ausführen, aber es wird nicht gesagt, welche genauen Zielobjekte und Zielsubjekte sie angreifen. Das Ziel der Aktionen sei es, das staatliche Gewaltmonopol als ohnmächtig vorzuführen bzw. zu Überreaktionen herauszufordern, um ein der herrschenden politischen Ordnung abträgliches Meinungsklima zu erzeugen. Hier wird nicht betont, dass die Terroristen einen Systemwechsel herbeiführen wollen, sondern es soll nur das Meinungsklima durch die Überreaktionen des Staates verschlechtert werden.
Bei der dritten Definition schließlich wird der Terrorismus nicht mit Kriminalität in Verbindung gebracht, sondern es wird deutlich gemacht, dass es sich um eine Form des politischen Extremismus handelt. Jedoch wird der Extremismus nicht spezifiziert. Im Vergleich mit den beiden o.g. Definitionen werden zum einem die systematische Art und Weise der Durchführung von Gewaltaktionen und zum anderen die Zielobjekte bzw. -subjekte konkretisiert, da die Aktionen gegen die ausgewählten Repräsentanten des „Systems“ geführt werden, um die „herrschende Schicht“ zu verunsichern und die „unterdrückte Klasse“ zu mobilisieren - z.B. dadurch, dass der Staat mit seinen Abwehrmechanismen überreagiert. Jedoch auch hier wird nicht der Wechsel des Systems als politisches Ziele genannt, sondern das System soll durch unüberlegte staatliche Maßnahmen aus dem Gleichgewicht geraten.
Im Zusammenhang mit der Umschreibung des Begriffs Terrorismus hat Schmid die Häufigkeit der Elemente, die in 101 unterschiedlichen Definitionen vorkommen, untersucht. Dabei stellte er 22 Wortkategorien fest, wobei fünf Elemente die Liste anführten: 1) Gewalt/Zwang mit 83,5 Prozent; 2) Politisch 65,0 Prozent 3) Hervorhebung von Furcht und Schrecken mit 51,0 Prozent. 4) Drohung mit 47 Prozent und 5) Psychologische Effekte und antizipierte Reaktionen mit 41,5 Prozent[9].
Diese Kernelemente kommen auch in der Definition von Hoffman vor. Terrorismus ist danach: „als bewusste Erzeugung und Ausbeutung von Angst durch Gewalt oder die Drohung mit Gewalt zum Zweck der Erreichung politischer Veränderungen“[10] zu verstehen. Es empfiehlt sich jedoch, die vorhandenen Elemente einerseits zu spezifizieren und anderseits die neuen Elemente des internationalen Terrorismus hinzuzufügen. Auf die neuen Elemente wird im übernächsten Abschnitt ausführlich eingegangen.
Bevor die neuen Dimensionen des internationalen Terrorismus behandelt werden, soll hier ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen klassischen Formen des Terrorismus gegeben werden:
- Sozialrevolutionärer Terrorismus: In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre begann er sich zu entwickeln. Das Hauptziel bestand darin, eine Umwälzung (Revolution) der Besitz- und Herrschaftsverhältnisse durch die Anwendung von Gewalt überwiegend in der westlichen Welt auszulösen. Als Beispiel für Deutschland gilt die RAF, wie die Roten Brigaden in Italien oder die französische Action Directe.
- Ethnisch-nationalistischer Terrorismus: Bei dieser Form geht es darum, die Autonomie innerhalb eines Staates zu steigern bzw. einen eigenen Staat zu gründen oder die Befreiung von einer (kolonialen) Fremdherrschaft zu erreichen. ETA und IRA gelten als Beispiele dafür.
- Vigilantischer Terrorismus: ist eine Mischform von Terror, der von oben, und Terrorismus, der von unten ausgeht. Durch die Provokation zielen die Gewaltaktionen auf Stärkung der staatlichen Autorität. Dazu zählen u.a der Ku-Klux-Klan sowie paramilitärische bzw. polizeiliche Todesschwadronen in Südamerika.
- Symbiotischer Terrorismus: Damit werden die Verbindungen zwischen dem Terrorismus und der organisierten Kriminalität beschrieben. Um an den Verteilungsgewinn zu kommen, werden terroristische Erpressungen durchgeführt. Es handelt sich um sog. Narco-Terrorismus.
- Religiöser Terrorismus: Schon früh in der Antike traten radikale Sekten und Weltuntergangskulte auf und sind auch heute noch in allen Glaubensgemeinschaften vorzufinden. Entscheidend ist die Berufung auf bzw. die Legitimation der Anschläge durch eine metaphysische Instanz. Ab der Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts entstand eine neue Generation von Terrorismus, bei der die religiösen Motive im Vordergrund stehen, dazu gehört die Al Qaida.[11]
Wir beschränken uns auf den religiösen Terrorismus, der sich, wie wir aus den Darstellungen entnehmen können, weder eine Ideologie (linksgerichtet wie Kommunismus bzw. Sozialismus oder rechtsgerichtet wie Faschismus) noch den Nationalismus (wie Sezession oder Autonomie) auf seine Fahnen geschrieben hat, sondern bei dem primär der religiöse Fundamentalismus die entscheidende Determinante darstellt. Im folgenden Abschnitt werden wir uns diesem relevanten Teil widmen.
Um die neuen Dimensionen des internationalen Terrorismus zu erfahren, werden folgende drei Definitionen, die aus dem staatlichen Bereich stammen, vorgestellt und analysiert:
Erstens soll die Definition des Bundesministeriums des Inneren angeschaut werden:
„Terrorismus ist die aggressivste und militanteste Form des politischen Extremismus, bei der die extremistischen Ziele mit Mitteln eines nachhaltig geführten gewaltsamen Kampfes durch systematische Anwendung massiver Gewaltakte verfolgt werden. Kennzeichen des Terrorismus ist die Verübung schwerer Anschläge durch arbeitsteilig organisierte, grundsätzlich verdeckt operierende Gruppen. Durch terroristische Aktionen erhofften sich die Urheber in den 70er und 80er Jahren eine massenmobilisierende und revolutionierende Wirkung, wohingegen das heutige Phänomen des islamistischen Terrorismus mit massiven Anschlägen auf „weiche“ Ziele mit hohen Opferzahlen auch auf eine Destabilisierung und Einschüchterung ganzer Gesellschaften und Staaten zielt.“[12]
Als zweites sehen wir uns die Begriffsumschreibung durch den Bundesnachrichtendienst an: „Terrorismus ist ein grenzüberschreitendes und transnationales Phänomen. Er existiert in unterschiedlicher Form und Ausprägung als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele. Im Lauf der Zeit haben sich die Tätergruppen und die eingesetzten Mittel geändert. So ist der ideologisch-politisch motivierte Terrorismus der 70er und 80er-Jahre zurückgegangen. Seit Beginn der 90er-Jahre gewinnen Tätergruppen an Bedeutung, die dem radikal-religiösen Fundamentalismus, dem rechtsextremen Bereich sowie dem Umfeld der "Organisierten Kriminalität" entstammen oder sich keiner klar umrissenen Gruppe mehr zuordnen lassen.“[13]
Abschließend drittens: Der Verfassungsschutz versteht unter dem Begriff Terrorismus folgendes: „Zur herausragenden Bedrohung auch für die innere Sicherheit Deutschlands hat sich der Islamismus entwickelt, insbesondere in seiner terroristischen Ausprägung. Der Islamismus ist eine - in sich heterogene - politische, zumeist sozialrevolutionäre Bewegung, die von einer Minderheit der Muslime getragen wird. Ihre Anhänger, die Islamisten, fordern unter Berufung auf den Urislam des 7. Jahrhunderts die <<Wiederherstellung>> einer <<islamischen Ordnung>> als der nach ihrem Verständnis einzig legitimen Staats- und Gesellschaftsform, die alle anders geprägten Ordnungssysteme ersetzen soll. (…) Militante Islamisten glauben sich legitimiert, die <<islamische Ordnung>> mit Gewalt durchzusetzen. Sie beziehen sich dabei auf die im Koran enthaltene Aufforderung zum <<Jihad>> (eigentlich: Anstrengung, innerer Kampf, auch: <<heiliger Krieg>>), die sie - abweichend von anderen Muslimen - als heilige Pflicht zum unablässigen Krieg gegen alle <<Feinde>> des Islam sowohl in muslimischen als auch in nichtmuslimischen Ländern ansehen.“[14]
Bei der Analyse der drei Definitionen wurden folgende neuen Dimensionen festgestellt: zum einem die Einstellung, die durch den radikalen Fundamentalismus militärischer Prägung geformt wird, zum anderen das Verhalten, also die Art und Weise, wie die Anschläge massiv gegen die Zivilbevölkerung und den Staat durchgeführt werden, sowie das Ziel der Destabilisierung bzw. der Herbeiführung einer neuen „islamischen Ordnung“, die durch dieses Verhalten fanatisch verfolgt wird.
Was die Einstellung anbelangt, kann davon ausgegangen werden, dass die Terrorgruppen die Demokratie als Regierungsform kategorisch ablehnen, sie wollen statt dessen u.a. einen „Gottesstaat“, eine sog. „islamische Ordnung“ (politische Ziele werden religiös verpackt) herbeiführen.
Bezüglich des Verhaltens wurde bis jetzt beobachtet, wie die Terrorgruppen massive Anschläge nicht nur im Westen, sondern auch im Irak, in Afghanistan und zahlreichen arabischen Ländern (die als prowestlich gelten), durchgeführt haben. Dieser Krieg findet sowohl im physischen als auch im psychischen Bereich statt, wenn man bedenkt, wie die Terroristen die Vernetzung der Welt zur Verbreitung ihrer fundamentalistischen Ziele benützen. Das Internet und die Medien (Al Dschazira) erfüllen Propagandafunktionen, denn durch die professionelle Verpackung der Religion, der Geschichte und der Ereignisdarstellung werden sowohl materielle (Geld, Material, Objekte…) als auch nicht materielle (Nachwuchs, Sympathisanten) Unterstützer herausgefischt.[15]
Dabei lässt sich feststellen, dass der religiös verpackte Fundamentalismus die Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten verringert hat, denn die schrecklichen Drohungen bleiben nicht als leere Hülle, sondern werden durch die systematischen Selbstmord-Angriffe mit verheerenden Wirkungen in die Tat umgesetzt. Zusammengefasst können wir die zwei neuen Hauptdimensionen des internationalen Terrorismus wie folgt skizzieren:
Tab. 1: Dimensionen des internationalen Terrorismus
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung.
Nachdem die verschiedenen Definitionen des Begriffs Terrorismus betrachtet wurden, wollen wir uns mit theoretischen Überlegungen zu dessen Bekämpfung beschäftigen, und bedienen uns dabei des Gedankenguts zweier bedeutender politischer Theorien, nämlich des Liberalismus und des Konstruktivismus. Andere Theorien der internationalen Beziehungen wie Neorealismus und Institutionalismus sind für die Herleitung unserer Hypothesen weniger geeignet, denn wir wollen nicht überprüfen, ob Deutschlands Verhalten machtorientiert ist (Neorealismus), oder herausfinden, wie Deutschland im internationalen System kooperiert (Institutionalismus), sondern welches Sicherheitsverhalten Deutschland zeigt.
Hier werden zum einem kurz die Entstehung des Liberalismus und zum anderen die Hauptannahmen und die Varianten des neuen Liberalismus dargestellt.
Der Liberalismus ist eine der großen Bewegungen bzw. politischen Strömungen der modernen europäischen Ideengeschichte. Seit dem 17. Jahrhundert zeichnet sich seine politische Wirksamkeit ab durch den Konflikt mit dem Absolutismus bzw. dessen Abschaffung und der Deklaration der Bürgerrechte.[16] Der Liberalismus ist sehr eng mit der Garantie politischer Freiheiten verbunden, die das Individuum vor staatlicher Unterdrückung beschützen sollen. Um die individuellen politischen Freiheiten zu gewährleisten, muss ein Staat die liberalen Prinzipien in die Verfassung einbeziehen.[17]
Der Liberalismus geht auf den Idealismus zurück, der aufgrund des Scheiterns des Völkerbundes in den 1930er Jahren (und den Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg) zum größten Teil von den Vertretern des Realismus kritisiert worden war, da seine Annahmen zu optimistisch bzw. „utopisch“ seien.[18] Denn die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg machten den Gedankengang einer Harmonie zwischen den Staaten zunichte. Dennoch etablierte sich die liberale Theorie der internationalen Beziehungen mit der Zeit in Deutschland noch während des Ost-West-Konfliktes. In diesem Kontext spielten zwei Erscheinungen eine Rolle: zum einem die Entspannungspolitik und zum anderen das Aufkommen der Friedensforschung in den Siebzigerjahren. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems in den Jahren 1989/90 und mit der Unfähigkeit des Realismus/Institutionalismus, dieses Phänomen vorherzusagen, erhielt der Liberalismus zusätzlich Auftrieb und Relevanz.[19]
Im Vergleich zum Realismus und zum Institutionalismus wird die Ursache für das Verhalten der Staaten beim Liberalismus nicht in den Kategorien Macht, Staat, Wirtschaft und Institutionen gesucht, sondern die sozialen Akteure (die ihre Partikularinteressen vertreten) und die Gesellschaft werden als die wichtigsten Determinanten für das Verhalten der Staaten betrachtet.[20] Im Weiteren soll der neue Liberalismus von Moravcsik ausführlich behandelt werden.
Moravcsik hat durch die Reformulierung einer liberalen Theorie in einem nicht-ideologischen und nicht-utopischen Sinn zur Systematisierung der liberalen Theoriebildung beigetragen. Auf der einen Seite wird der Liberalismus auf ein Minimum reduziert[21], und auf der anderen Seite wird er erweitert durch die offene und weniger optimistische Formulierung der Fortschrittsperspektive.[22]
Der neue Liberalismus steht in der Tradition des methodologischen Individualismus, denn das Handeln von gesellschaftlichen Individuen steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Ungeachtet dessen, das sich Individuen tendenziell zu kollektiv handlungsfähigen sozialen Gruppen (Makroebene) zusammenschließen, kann das Handeln von Gruppen nur auf der Basis des Individualverhaltens (Mikroebene) hergeleitet werden.[23]
Das proklamierte Menschenbild des neuen Liberalismus entspricht dem „homo oeconomicus“. Dieses Konzept umfasst zwei Annahmen: Was die Ziele anbelangt, sucht das Individuum seinen Nutzen zu maximieren. Ferner sollen diese Ziele durch ein rationales Handeln mit möglichst geringem Aufwand realisiert werden.[24] Mit anderen Worten: Das Individuum versucht, rigoros nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip seine Ziele rational durchzusetzen.
In diesem Kontext geht Moravcsik aber von einer beschränkten Rationalität aus, denn Regierungen versuchen, ihre Präferenzen, die sich liberal über innerstaatliche Aushandlungsprozesse herausbilden, möglichst effizient und rational umzusetzen.[25]
Im Folgenden sollen die drei Hauptannahmen des neuen Liberalismus beleuchtet werden:
1. Vorrang des sozialen Akteurs und der Gesellschaft vor dem Staat
Moravcsik geht davon aus, dass der Staat nur das Ergebnis gesellschaftlicher Verhältnisse ist und nicht umgekehrt. Also die gesellschaftlichen Akteure konstituieren den Staat mehr, als dass der Staat die gesellschaftlichen Akteure konstituiert. Vernünftige und risikoscheue Individuen und private Gruppen versuchen, im Lichte von Ressourcenknappheit, Wertekonflikten und variierenden Einflussmöglichkeiten, ihre verschiedenen Interessen mit Hilfe von Kommunikation und gemeinschaftlichen Aktionen zu realisieren.[26] Die verfolgten Ziele sind letztlich auf materielles und ideelles Wohlergehen ausgerichtet[27]. Meistens geht es jedoch um Geld und politische Macht. Diese sozialen Akteure tragen dann ihre Anliegen an die Politik heran und verlangen von der Politik, dass sie ihre Interessen vertritt und durchsetzt. Die liberale Theorie geht geradezu davon aus, dass es in der Gesellschaft die verschiedensten Interessen gibt und keine Interessen-Harmonie.[28] Weil aber nicht alle Interessen gleichzeitig erfüllbar sind, kommt es zum Interessenwettbewerb. Bei diesem Wettbewerb zeigt sich dann der Unterschied zwischen Individuen und Gruppen. Individuen sind meistens risikoscheuer als Gruppen. Sie versuchen, ihren erreichten Status um jeden Preis zu verteidigen, scheuen aber das Risiko, beim Versuch, einen höheren Status zu erreichen, etwas verlieren zu können. Die liberale Theorie versucht vorherzusehen, wann sich soziale Akteure eher auf Kooperationskurs bewegen und wann sie eher den Konflikt suchen und Zwang anwenden, um ihre Interessen durchzusetzen. Es gibt drei Faktoren, die dieses Verhalten steuern: a) verschiedene grundlegende Überzeugungen b) Streit über knappe Ressourcen und c) Ungleichgewicht bei der politischen Macht.
Zu a) Wenn die Überzeugungen grundlegend verschieden sind, wird der Konflikt gesucht. Wenn es hingegen Überschneidungen in den Überzeugungen gibt, wird der Konsens gesucht.
Zu b) Extreme Ressourcenknappheit führt meistens zum Konflikt, denn jeder will die jeweils knappe Ressource für sich alleine haben. Ressourcenüberschuss führt meist zum Konsens, also man gönnt es dem Gegner, dass er seine Ziele „auch“ erreicht, und versucht nicht, ihm seinen Erfolg zu vereiteln.
Zu c) Wenn das politische Kräfteungleichgewicht sehr stark ist, kommt es eher zum Konflikt. Bei ausgewogenem Kräfteverhältnis kommt es eher zum Konsens.
Ein starker Kräftevorteil für eine Seite kann zu Ausbeutungsverhalten führen, das aber insgesamt für die Gesellschaft schädlich ist, d.h. der Gegner verliert mehr, als der Ausbeuter gewinnt[29].
Terroristen suchen immer den Konflikt. Also sorgen sie a) für eine Polarisierung verschiedener Überzeugungen. Sie rücken also gezielt Themen in den Vordergrund, bei denen die unterschiedlichen Überzeugungen deutlich hervortreten. Weiterhin unterstützen die Terroristen b) die Ressourcenknappheit, indem sie z.B. Ressourcen zerstören oder bestimmte knappe Ressourcen für wichtig erscheinen lassen, um deren Knappheit auszunutzen. Außerdem ist es für die Terroristen von Vorteil, wenn es c) ein unausgewogenes Kräfteverhältnis gibt.
Jedoch ist es nicht Gegenstand dieser Magisterarbeit, das Verhalten von Terroristen zu untersuchen, sondern die Reaktion des Staates darauf. Will der Staat also den Terrorismus bekämpfen, dann muss er dafür Sorge tragen, dass solche Polarisierungen und Ressourcenknappheiten in der Bevölkerung möglichst klein gehalten werden, um den Terroristen keine Bühne zu verschaffen.
2. Innergesellschaftliche Repräsentation und staatliche Präferenzbildung
Staatliches Verhalten ist das Ergebnis derjenigen gesellschaftlichen Akteure, die sich im Interessenstreit durchsetzen können. Die gesellschaftlichen Akteure streben nach Wohlfahrt, während man von einem Staat erwartet, dass er nach Macht strebt. Oftmals führen Machtorientiertheit (Stolz) und Wohlfahrtsorientiertheit (Geld) nicht zur gleichen Entscheidung.
Nicht alle außenpolitischen Entscheidungen von Staaten sind machtorientiert, sondern sie können auch wohlfahrtsorientiert sein, sich also nach den Interessen der gesellschaftlichen Akteure richten, die nach Wohlfahrt streben.
Nach der liberaltheoretischen Vorstellung ist der Staat nicht ein Handlungsträger, sondern ein Repräsentant, der aus den Koalitionen der gesellschaftlichen Akteure hervorgeht.[30] Einzelpersonen und Gruppen tragen permanent ihre Wünsche und Interessen an den Staat heran, damit dieser sie realisiert. Dabei unterscheidet sich aber die liberaltheoretische Vorstellung vom pluralistischen Gedankengut, das von einem Kräftegleichgewicht ausgeht. Nach der liberalen Theorie gibt es gerade kein Kräftegleichgewicht. Ein Staat wird also immer eine Interessengruppe stärker repräsentieren als eine andere Interessengruppe. Im Extremfall ist ein Staat sogar ein Tyrann, der nur das Interesse einer einzigen starken Person repräsentiert (z.B. Stalin). Es gibt also die beiden Extrempositionen volle Demokratie (Pluralismus, Kräftegleichgewicht) einerseits und Tyrannei (Beherrschung des Staates durch eine einzige Person) andererseits. Dazwischen gibt es alle möglichen Schattierungen. Bei den meisten Staaten dominieren aber Partikularinteressen. Nach außen präsentieren sich Staaten manchmal als fair und offen, und in Wirklichkeit sind Eigentum, Risiko, Informationen oder organisatorische Kapazitäten so ungleich verteilt, dass sich Dominanzen bestimmter Gruppen bilden. Oftmals kommt es dazu, dass gezielt Personen mit bestimmten Präferenzen in Führungspositionen berufen werden.
Politischer Druck wird auch ausgeübt durch Gehorsamsverweigerung, Auswanderung, Schmiergeldzahlungen an die Justiz und ähnliche Trotzreaktionen.[31]
Jeder Staat hat seine Präferenzen. Damit sind nicht die Verhandlungstaktiken gemeint, die von manchen anderen Autoren als Präferenzen bezeichnet werden, sondern eben Grundüberzeugungen. Die liberale Theorie beschäftigt sich mit den Inhalten dieser Präferenzen, also den Grundinteressen eines Staates, und nicht damit, mit welcher Taktik oder Intensität ein Staat in Verhandlungen seine Interessen verteidigt oder durchsetzt. Das ist ein anderes Thema.[32] Der Staat kann in der Außenpolitik geschlossen oder gespalten auftreten. Es gibt Situationen, wo die Politiker eines Staates nach außen hin zusammenhalten, so dass der Staat geschlossen mit einer einheitlichen Meinung und einem einheitlichen Ziel auftritt, und die internen Streitigkeiten nach außen hin verbirgt. Es gibt aber auch Situationen, in denen sich die verschiedenen im Staat wirkenden Kräfte deutlich zeigen, z.B. Regierung, Gerichte, Zentralbanken, Verwaltungsbehörden, an der Macht befindliche Parteien usw. Und jede dieser Kräfte führt eine eigene Außenpolitik, der Staat wirkt gespalten. Geschlossenes Auftreten des Staates kommt häufiger bei traditionellen Politikfeldern vor, gespaltenes Auftreten eher bei neuen Politikfeldern. Nach Achen bedeutet gespaltenes Auftreten des Staates, dass der Staat dabei ist, zu einem bestimmten Politikfeld seine Präferenzen erst noch zu finden.[33] Staaten haben drei Ziele: Sicherheit, Souveränität und Wohlfahrt. Während die Realisten und die Institutionalisten meinen, ein Staat würde diese drei Ziele ganz einfach unter einen Hut bringen, geht die liberale Theorie davon aus, dass es sich um drei unterschiedliche Ziele handelt und dass sie Gegenstand von Interessenkonflikten innerhalb des Staates sind.[34] Es hängt vom sozialen Umfeld ab, wie diese drei Interessen gewichtet werden.[35] Das Grundmotiv der gesellschaftlichen Akteure liegt in der Regel im Bereich der Wohlfahrtspolitik, allerdings schließt das nicht aus, dass Machtpolitik im Interesse besonders starker gesellschaftlicher Gruppen favorisiert wird, und diese dann auch in der Tat verwirklicht wird.[36]
Wenn Terroristen einen Staat also schwächen wollen, dann müssen sie bei Themen ansetzen, bei denen sich Sicherheit, Souveränität und Wohlstand besonders schlecht unter einen Hut bringen lassen. Terroristen müssen also darauf bedacht sein, die Konflikte unter den sozialen Gruppen hochzuspielen. Der Staat muss deshalb darauf achten, dass er diese Konflikte klein hält, um den Terroristen keine Angriffsfläche zu liefern.
3. Internationale Umwelt und interdependente Präferenzordnungen
Staaten handeln im internationalen System immer erst, wenn es dafür einen Anlass gibt, wenn also eine konkrete Frage auf dem Tisch liegt. Und dann provozieren sie entweder einen Konflikt oder suchen einen Konsens oder unternehmen sonst etwas. Jeder Staat trifft dabei mit seinen Präferenzen auf die Präferenzen der anderen Staaten, die an dem Streitpunkt beteiligt sind. Während die Realisten behaupten, der Staat suche immer den Konflikt, und die Institutionalisten behaupten, der Staat suche immer den Konsens, behauptet die liberale Theorie, dass es von der Situation und von den staatlichen Präferenzen abhängt, ob ein Staat den Konflikt oder den Konsens sucht.[37]
Der Staat ist zwar politisch unabhängig, aber er trifft mit seinen Präferenzen auf andere Staaten, die andere Präferenzen aufweisen. Interdependente Staatspräferenzen sind demnach diejenigen Staatspräferenzen, die „übrig bleiben“, nachdem die Präferenzen der anderen Staaten abgezogen wurden, also letztlich nur noch die „durchsetzbaren“ Staatspräferenzen.
Man kann situationsabhängige Verhaltensmustergruppen bilden.
- (1) Wenn die staatlichen Präferenzen sich mit den Präferenzen anderer Staaten vertragen, wird es nur ein geringes Konfliktpotenzial geben, die Staaten werden koexistieren.
- (2) Wenn es keine gemeinsamen Präferenzen mit dem anderen Staat gibt, also wenn ein Staat seine Interessen nur auf Kosten der Interessen eines anderen Staates durchsetzen kann, ist das Konfliktrisiko sehr hoch.
- (3) Wenn divergierende Interessen in beiden Staaten vorkommen, also die jeweils „andere“ Position im jeweils „anderen“ Staat auch ihre Befürworter hat, und wenn gegenseitige Zugeständnisse die Wohlfahrt in beiden Staaten verbessern, dann haben die Staaten einen Anlass und eine Basis zu Verhandlungen.[38] (Kooperation).
Die Liberalisten interessieren sich für den Zusammenhang zwischen dem Wesen der Präferenzmuster eines Staates und seiner Kooperationsbereitschaft. Dabei betrachten die Liberalisten besonders gesellschaftliche Präferenzen und ungelöste Verteilungskonflikte im In- und Ausland, während die Institutionalisten und Realisten von Unsicherheit und Partikularkonfigurationen des Machtgleichgewichts zwischen den Staaten reden.[39]
Aus der Abbildung eins können wir noch einmal erkennen, dass die Gesellschaft und die sozialen Akteure zu Beginn eines Prozesses Einfluss auf die Regierung (und damit auf den Staat) ausüben wollen. Im Laufe des Prozesses werden sich dann aber nur einige starke soziale Akteure durchsetzen, und somit stehen deren Interessen dann im Mittelpunkt der Regierung (Überrepräsentation). Die staatlichen Präferenzen ergeben sich zum größten Teil aus dem Einfluss der starken sozialen Akteure, aber auch die internationale Umwelt (z.B. EU, NATO, UNO, einzelne Staaten) spielen in diesem Kontext eine (geringe) Rolle.
Schließlich erzeugt das rationale Handeln des Staates wiederum Rückwirkungen auf die Gesellschaft bzw. deren starke soziale Akteure und auf die internationale Umwelt.
Abb. 1: Annahmen des neuen Liberalismus nach Moravcsik
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung
Die verschiedenen Varianten der liberalen Theorie sollen hier kurz erläutert werden, um ein Gesamtbild von der Moravcsik’schen Theorie zu erhalten.[40] Es gibt eine ideelle, eine kommerzielle und eine republikanische Variante. Dabei werden die Forderungen der Gesellschaft, deren Verarbeitung zu Staatspräferenzen und deren Teilrealisierung in der Weltpolitik aufgearbeitet.
Der ideelle Liberalismus
Gesellschaftliche Identitäten und Werte bestimmen die Staatspräferenzen und damit auch das internationale Konsens-, Kooperations- oder Konfliktverhalten.
Gesellschaftliche Identitäten sind die Werte, die die Individuen in der Gesellschaft gemeinsam haben, soweit sie sich auf die Schaffung öffentlicher Güter bezieht. Daraus ergibt sich die innere Ordnung und die Bestimmung, welche gesellschaftlichen Akteure zur Politik (polity) gehören und was die Gesellschaft ihnen schuldet. Es kommt nicht darauf an, wo diese Werte herkommen und ob sie sich auf ideelle oder auf materielle Faktoren beziehen. Die geographischen Grenzen, die politischen Entscheidungsprozesse und das Regulierungssystem für Gesellschaft und Wirtschaft sind drei typische Elemente der öffentlichen Ordnung (also die oben genannten öffentlichen Güter), die sich aus der gesellschaftlichen Identität herleiten.[41] Diese drei genannten öffentlichen Güter müssen legitimiert sein. Auch die staatliche Verteidigung muss in der Gesellschaft ihren Rückhalt finden.
Der ideelle Liberalismus überprüft z.B., inwieweit die Staatsgrenzen mit den Positionen der starken gesellschaftlichen Gruppen übereinstimmen.[42] Je größer die Abweichungen zwischen den gegebenen politischen Grenzen und den Identitäten in der Bevölkerung, desto größer ist das Konfliktpotenzial. Es kommt zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, Angriffen, Abspaltungen oder militärischen Interventionen etc. Schon 20 Jahre vor dem Ausbruch des Jugoslawien-Konflikts wurde die dortige Situation von Weiner vorhergesehen und als "Mazedonien-Syndrom" bezeichnet.[43] Bei wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Regelungen ist es nicht so wie bei den anderen öffentlichen Gütern (Staatsgrenzen und politisches System), dass Unterschiede automatisch zum Konflikt führen, sondern (jedenfalls in der EU) erkennen die Staaten an, dass nicht in jedem Staat alles in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gleich wie in einem anderen Staat geregelt ist. Die Unterschiede führen hier also nicht zu größeren Konflikten.[44]
Wenn Terroristen also die internationale Gemeinschaft schwächen wollen, dann werden sie bestehende Konflikte schüren und hochleben lassen. Die betroffenen Staaten müssen also darauf achten, dass solche Konflikte klein gehalten bzw. gelöst werden, damit dem Terrorismus kein Raum gegeben wird.
Der kommerzielle Liberalismus
beschäftigt sich mit dem Verhalten von Staaten nach Marktanreizen im Hinblick auf Binnen- und Außenhandel. Immer, wenn sich die Struktur der nationalen oder internationalen Wirtschaft ändert, ändert sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Außenhandels. Dadurch wird Druck auf die nationalen Regierungen ausgeübt, um den Außenhandel durch markt- und sicherheitspolitische Maßnahmen zu erleichtern oder zu blockieren.[45] Viele kommerziell-liberalistische Analysen beginnen damit, dass sie die Vermehrung des Wohlstandes als Folge des Handels beschreiben, indem sie beobachten, wie sich die Märkte spezialisieren und funktionell differenzieren, und dann versuchen sie zu erklären, wie sich verschiedene wirtschafts- und sicherheitspolitische Maßnahmen auf die Entwicklung dieser Märkte auswirken. Weiterhin suchen kommerziell-liberalistische Analysen nach der Ursache dafür, dass manchmal der kollektive Nutzen aus dem Außenhandel nicht eintrifft (z. B. bei Subventionen). Sie untersuchen zu diesem Zweck nationale und internationale Verteilungskonflikte, z.B. der Autor Adam Smith.[46]
Außerdem beschäftigt sich der kommerzielle Liberalismus auch mit Sicherheitsfragen. Handel ist in Bezug auf die Herbeiführung und Erhaltung von Wohlstand billiger als Krieg, Sanktionen oder andere Zwangsmaßnahmen, weil dadurch weniger Zerstörungen angerichtet werden. Dennoch wenden Regierungen manchmal Gewalt an, um internationale Märkte zu erzeugen oder zu kontrollieren. Wir können diese Phänomene aber nicht so einfach mit inländischen Verteilungsproblemen und der Struktur der Weltmärkte erklären.[47] Die kommerziellen Liberalisten sagen, dass, je komplexer die Verflechtungen auf dem Weltmarkt sind, desto weniger Sinn Zwangsmaßnahmen machen.[48]
Dass Terroristen die Gesellschaft auch auf Handelsebene angreifen, zeigen gerade die Anschläge vom 11. September. Diese wurden nämlich auf das große Symbol des internationalen Handels, nämlich das World Trade Center, gerichtet.
Der republikanische Liberalismus
Die Schlüsselvariable für das staatliche Handeln ist die Art und Weise der inländischen politischen Repräsentation, denn davon hängt es ab, wessen gesellschaftliche Interessen durch inländische Einrichtungen an die Politik herangeführt werden. Wenn die politische Repräsentation auf die Bevorzugung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ausgerichtet ist, dann gelingt es diesen Gruppen meistens, die Regierung vor ihren Karren zu spannen, und die Einrichtungen der Regierung für ihre Zwecke zu nutzen, um nur ihre Ziele (und nicht die Ziele anderer gesellschaftlicher Gruppen) zu verwirklichen. Den Preis dafür zahlen die schlechter repräsentierten Gruppen (oder die ganze Gesellschaft, wenn die Ziele dem Allgemeinwohl nicht dienen).[49] Also hängt die Politik, welche die Regierung betreibt, davon ab, welche gesellschaftlichen Gruppen in ihr repräsentiert werden. Die Schaffung von Regimes, die freien Handel und Währungsstabilität gewährleisten, beruht nach der liberalen Theorie nicht nur darauf, dass anderenfalls die nationale Sicherheit bedroht wäre oder dass internationale Organisationen sonst gefährdet wären, sondern auch darauf, dass der Staat dazu in der Lage ist, Verteilungskonflikte im Inland zu bewältigen, und zwar auf international verträgliche Weise. Davon profitiert dann sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik.[50] Aber inländische große Institutionen können die Schaffung von solchen Regimes sowohl fördern als auch behindern, wenn sie zu bestimmten Interessen oder Zielen geneigt sind. Meist gelingt es Interessengruppen, die ihren eigenen Vorteil suchen, solche Vorteile durch Schutzzölle oder Subventionen oder für sie günstige Gesetze oder Währungs-Abwertung im Wettbewerb zu erreichen.[51]
Es ist also fast der Normalfall, dass bestimmte Interessengruppen die Politik dominieren und damit das Allgemeinwohl belasten. Deshalb wird es auch immer wieder nationale bzw. internationale Konflikte geben.
Terroristen können Staaten und Gesellschaften auch dadurch angreifen, dass sie extreme Parteien bilden und als Interessengruppen im Staat mitmischen. Dadurch werden nationale und internationale Konflikte geschürt. Der Staat muss solche Gruppierungen und Parteien erkennen und dafür sorgen, dass sie möglichst nichts zu sagen haben (z.B. Parteienverbot, aber verfassungsrechtlich problematisch).
Um bildhaft die Varianten des neuen Liberalismus darzustellen, zeigen wir unten die folgende zweite Abbildung: Das Verhalten von Staaten wird auf drei unterschiedliche Ursachen zurückgeführt. Während der ideelle Liberalismus die Identitäten und die Werte als die wichtigsten Ursachen nennt, ist der kommerzielle Liberalismus der Auffassung, dass die Ökonomie die entscheidende Größe ist. Schließlich kommt der republikanische Liberalismus zu der Annahme, dass die innerstaatliche Repräsentation das Verhalten determiniert.
Abb. 2 : Varianten des neuen Liberalismus
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung.
Als zweite wichtige Theorie für das Verhalten von Staaten wird im Anschluss an den Liberalismus der Konstruktivismus dargestellt. Zunächst wird ein kurzes Vorwort zum Konstruktivismus präsentiert, danach werden seine Hauptannahmen aufgezeigt.
Die Ausgangsannahme besteht darin, dass sich die soziale Wirklichkeit nicht direkt ausforschen lässt, sondern nur auf Umwegen. Das heißt, entscheidend ist, wie wir die Umwelt wahrnehmen, wie wir denken und anschließend, wie wir handeln.[52]
Dass der Konstruktivismus in der Wissenschaft unterschiedliche Anwendung findet, wird im engeren Sinne nicht als Theorie gesehen.[53] Ulbert zeigt die Bewegung der konstruktivistischen Ansätze mit Hilfe eines Dreiecks:
1. Bei der Ontologie geht es um die Frage, wie die Welt zusammengesetzt ist.
2. Die Epistemologie betrifft die Frage, wie die Erkenntnisse gewonnen werden können, und
3. Die Methodologie betrachtet die Art und Weise der Rekonstruktion.[54]
Übertragen auf den Terrorismus würde das bedeuten:
- auf der ersten Ecke (Ontologie) würde stehen, aus welchen Elementen der internationale Terrorismus besteht;
- auf der zweiten Ecke (Epistemologie) stünde, wie wir die Erkenntnisse darüber gewinnen; und
- auf der dritten Ecke (Methodologie) wäre die Frage platziert, wie diese Erkenntnisse so nachvollzogen werden können, damit sie Schlüsse in die Zukunft gestatten.
Das konstruktivistische Dreieck-Bild veranschaulicht, wie auch die folgende Abbildung drei es visualisiert, die Relation von Ontologie, Epistemologie und Methodologie. Für das Gelingen einer Untersuchung sind die Bereiche voneinander abhängig und können nur als Ganzes zum Erfolg führen.
Abb. 3: Das konstruktivistische Dreieck
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Ulbert 2006: 411.
Die ontologischen Prämissen sollten am Anfang jeder sozialwissenschaftlichen Untersuchung stehen, und sie müssen im Kontext mit epistemologischen Betrachtungsweisen bewiesen werden.[55] Während die Empiriker und Positivisten nur die beobachtbare „Realität“ anerkennen, vertreten die postmodernen Kritiker die Auffassung, dass diese Realität ausschließlich mit Hilfe von Diskursen verstehbar sei. Allein durch die Sprache könnten z.B. Bäume, Hunde, Katzen usw. erfasst werden. Demzufolge enthält der „Konstruktivismus“ sowohl eine ontologische als auch eine epistemologische Komponente, mit denen die Welt im wörtlichen Sinne „konstruiert“ wird.[56] Die von den Konstruktivisten geschaffene Welt besteht aus drei Komponenten, und zwar einer materiellen (eben den existierenden Gegenständen) und zwei immateriellen, nämlich subjektivem Wissen einerseits und Werten bzw. Gefühlen andererseits. Die entscheidende Frage ist, wie wir diese Welt direkt erforschen können. Dazu ist die Operationalisierung von Ideen (Ursache) und die Sammlung ihres Sinngehalts und die Bewahrung kollektiven Handelns (Folge) in der internationalen Politik erforderlich.[57]
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erhielt der konstruktivistische Ansatz einen neuen Auftrieb, da die bisherigen Theorien der Internationalen Beziehungen das Ende des OWK nicht vorhergesagt hatten.[58] Wendt setzte diese neuen Impulse durch sein Verständnis zur Abgrenzung vom Rationalismus ein.[59] Im Zentrum des Gedankens des internationalen Kontexts sind laut Konstruktivismus politische Handlungen, Wahrnehmungen und Ideen.[60]
Im Politikfeld „Internationale Beziehungen“ haben sich sozialkonstruktivistische Ansätze erheblich im Kern ausdifferenziert. (1) Der staatszentrierte Sozialkonstruktivismus: Wendt versucht hier analog zum Neorealismus eine systematische Theorie der internationalen Politik zu konzipieren.[61] (2) Die liberalen und institutionalistischen Ansätze aus sozialkonstruktivistischer Sicht: und zwar sowohl die deutsche IB-Diskussion als auch die US-amerikanische, sind hiervon stark dominiert.[62] (3) Neo-gramscianische Ansätze: es wird versucht, eine Brücke zwischen Neomarxismus und Sozialkonstruktivismus zu entwickeln, und die unabhängige Rolle von Ideen und Institutionen in der internationalen Politik wird thematisiert.[63] Und schließlich (4) die unterschiedlichen feministischen Theoriebildungen: diese beziehen sich explizit auf die sozialkonstruktivistischen Argumentationen.[64]
Wendt (1) vertritt die Auffassung, dass zwar die Staaten die wichtigsten Akteure sind, doch der Umgang der Staaten mit- und untereinander wird sozial erschaffen, und sowohl die Identität als auch die Interessen der Staaten entstehen aus den gesellschaftlichen Selbst- und Fremdbildern[65]. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird neu konstruiert, wenn in einer sich wandelnden Zeit die bisherigen Bilder über die Welt immer weniger „Sinn“ machen.[66] Allerdings braucht dieser Wandlungsprozess seine Zeit, da er die politischen Eliten und die Öffentlichkeit einschließt. Die Beteiligung der USA am Ersten Weltkrieg war in der amerikanischen Öffentlichkeit sehr strittig, weil dieser Krieg als europäische Angelegenheit gesehen worden war, und deshalb wurde der Rückzug aus Europa gefordert. Die Stimmung in der Öffentlichkeit änderte sich aber mit den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg, vor allem mit dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor.[67] Auch die europäische Integration kann als Beispiel für eine positive Änderung der „Bilder“ gegenüber den jeweiligen Nachbarn gesehen werden. Frühere sog. Feinde bzw. feindliche Staaten sind heute in die Kategorie „freundlich“ katapultiert geworden, weil sie hauptsächlich nicht mehr als Bedrohung der eigenen Identität und Kultur und des eigenes Systems empfunden werden.
Im Bezug auf den internationalen Terrorismus ist die Öffentlichkeit sensibilisiert worden, weil die diesbezüglichen Ereignisse sowohl im Inland als auch im Ausland im Brennpunkt der heutigen Zeit stehen und somit als Bedrohung wahrgenommen werden. Doch wie wir aus der Geschichte wissen, hat die Demokratie bis jetzt die schwersten Herausforderungen wie Faschismus und Kommunismus durch die Freiheit besiegt. Auch was den Kampf gegen den internationalen Terrorismus betrifft, haben sich die Rechtsstaaten dieser neuen Herausforderung gestellt.
Im Folgenden Abschnitt sollen die Hauptannahmen des Konstruktivismus dargestellt werden.
Um daraus spezielle Hypothesen im Bezug auf das Sicherheitsverhalten Deutschlands gegenüber dem internationalen Terrorismus abzuleiten, sollen dessen Hauptannahmen beschrieben werden.
1. Die soziale Welt wird durch gesellschaftliches Handeln und Sinnesinterpretation der Menschen konstruiert.[68] Das heißt, die Personen konstruieren ihre Realität subjektiv. Die Folge davon ist, dass so viele Realitäten existieren, wie es Menschen gibt. Da die sozialen Strukturen scheinbar nicht „vom Himmel“ fallen, sondern auf gesellschaftlichem Boden entstanden sind und wachsen, sind sie aus diesem Grund geschichtlich zufällig (kontingent) und variabel.[69]
2. Die Konstitution zwischen Strukturen und Akteuren vollzieht sich wechselseitig. Das bedeutet erstens, dass die gesellschaftlichen Strukturen das Verhalten der Akteure konstituieren, indem sie ihnen eine soziale Identität vermitteln und Handlungsmöglichkeiten für sie eröffnen oder einschränken, und zweitens können Akteure wieder gesellschaftliche Strukturen durch die Interaktion und Alltagspraxis reproduzieren und modifizieren.[70] Wie hoch die Veränderung ist, muss noch empirisch geklärt werden.[71] Zwar ermöglichen die Strukturen das Handeln, aber sie determinieren es nicht. Identität und Interessen der Akteure beeinflussen die Wahl einer bestimmen Handlungsmöglichkeit.[72]
3. Die gesellschaftlichen Strukturen können nicht nur das Handeln der Menschen, sondern auch das Denken und das Fühlen beeinflussen, weil diese Strukturen durch den Prozess der Konstituierung eine Identität erzeugen, und damit werden auch deren Interessen/Präferenzen beeinflusst. Aufgrund der Identität der Akteure erfolgt soziales Handeln. Allerdings verläuft der kausale Zusammenhang zwischen Identitäten, Interessen und Handeln nicht exklusiv in einer Richtung. Denn das tägliche Handeln kann die Interessen verändern, die sich dann erneut auf die Identitäten der Akteure auswirken. Die Endogenisierung von Identitäten, Interessen und Präferenzen, die nicht mehr als Realität hingenommen werden, ist der springende Punkt eines sozialkonstruktivistischen Forschungsprogramms.[73]
4. Die Logik des normengerechten Handelns bzw. dessen Angemessenheit ist die leitende Größe für die Handlung, die über Sozialisations- bzw. Internalisierungsprozesse verfestigt ist. Das Individuum versucht nicht, den eigenen Nutzen zu maximieren wie im Falle der rationalistischen Ansätze (homo oeconomicus), die als Hauptmotiv für die Handlung die eigenen Interessen betrachten, sondern das Individuum wird nur die eigenen Bedürfnisse in Übereinstimmung mit den geltenden Normen zu befriedigen suchen (homo sociologicus). Akteure sind in Institutionen eingebunden, die für die Interpretation der Handlungssituationen Hilfe im Sinne von Filtern bereitstellen und parallel dazu die Identität der Akteure aufbauen[74].
5. Die Kommunikationspraxis von Akteuren zeigt, ob die Normen einen „präskriptiven Status“ erhalten. Die Staaten sind keine „Blackboxen“ mehr, das heißt, innenpolitische und außenpolitische Interaktionen werden nicht mehr außer Acht gelassen, sondern sie werden bei der Analyse berücksichtigt. Die Identitäten, Interessen und Präferenzen entstehen also nur durch die gegenseitige Beeinflussung im Kontakt mit der Umwelt. Außerdem erhalten die Ideen eine zentrale Stellung bei der Herausbildung von Institutionen, Identitäten und Präferenzen.[75]
Die oben erläuterten Annahmen werden anhand der unten gezeigten Abbildung vier nochmals dargestellt. Die Welt wird von den sozialen Akteuren wahrgenommen und interpretiert (konstruiert); es werden sog. Bilder von der „Realität“ gemacht.
Sowohl die Wahrnehmung bzw. die Interpretation als auch das Verhalten der Akteure wird durch die Identitäten und Normen beeinflusst. Die Identitäten und Normen entstehen hauptsächlich durch die gesellschaftlichen Strukturen, die mit dem internationalen System kooperieren. Durch Sozialisationsprozesse werden Identitäten bzw. Normen an die Akteure vermittelt. Abschließend ergeben sich aus dem Verhalten der Akteure Feedbackeinflusse in zwei Bereichen:
zum einem ergeben sich Verstärker-Effekte auf die gesellschaftlichen Strukturen (also die Strukturen konstituieren die Akteure durch die Sozialisationsprozesse), zum anderen führt das Verhalten der Akteure zu Veränderung bzw. Modifizierung der Strukturen. Und zum dritten hat das Verhalten der Akteure auch einen leichten Effekt auf die internationale Umwelt, weil die anderen Akteure das Verhalten beobachten, interpretieren und anschießend auch dementsprechend reagieren.
Abb. 4: Hauptannahmen des Konstruktivismus
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung.
Wie die neue Sicherheitssituation nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wahrgenommen bzw. konstruiert wird und wie die Reaktion des Staates auf diese Herausforderung des 21. Jahrhunderts laut konstruktivistischen Annahmen sein wird, können wir bei der Aufstellung der zweiten Hypothese betrachten.
Durch die zuvor dargestellten Hauptannahmen des neuen Liberalismus und des Konstruktivismus können wir spezifische Hypothesen über das Sicherheitsverhalten Deutschlands im Rahmen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ableiten. In diesem Kontext werden wir zwei Hypothesen aufstellen, die dann im Kapitel vier anhand der vorliegenden Daten getestet werden sollen.
Nach dem neuen Liberalismus sind die Gesellschaft und die Akteure die entscheidenden Faktoren für die Herausbildung der staatlichen Präferenzen und das daraus resultierende Verhalten des Staates. Daraus folgt, dass das politische System auf die Umwelt angewiesen ist. Einflussreiche Akteure haben jedoch in diesem politischen Prozess mehr Macht zur Durchsetzung ihrer Forderungen.
Im Bezug auf die Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch den Staat sollten laut dieser Annahme die Gesellschaft und die (einflussreichen) Akteure Forderungen an den Staat stellen, weil sie den internationalen Terrorismus als Bedrohung einstufen. Diese Forderungen sollen den Aspekt der Sicherheit explizieren, und zwar sowohl für den materiellen Bereich (Geld), als auch den nicht-materiellen Bereich (Leben), da die Gesellschaft und die Akteure zum einem ihr Leben und zum anderen ihre Interessen von den internationalen Terroristen tangiert sehen. Das staatliche Verhalten wird sich dann daraufhin ausrichten, diesen Forderungen gerecht zu werden. Daraus leiten wir die erste Hypothese ab:
H1 (vom Liberalismus geleitet):
Wenn die Gesellschaft und die Akteure Forderungen an das politische System nach Sicherheit gegenüber dem internationalen Terrorismus richten, dann wird der Staat Maßnahmen ergreifen, um die gestellten Forderungen umzusetzen.
[...]
[1] Wird auch als Synonym für den islamischen Terrorismus verwendet. Doch wir bevorzugen die Verwendung des Begriffs des internationalen Terrorismus, um nicht eine Religion mit einer fundamentalistischen Terrorgruppe in Verbindung zu bringen und somit den Terroristen in die Hände zu spielen.
[2] Vgl. Transatlantic Trends 2006/2007 *Anmerkung: An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass die Internetquellen im Literaturverzeichnis vollständig angegeben werden.
[3] Waldmann 2001: 514.
[4] Vgl. Walmann 2001: ebd.
[5] Vgl. Wördemann 1977: 53, zitiert nach Waldmann 2001: ebd., zum Unterschied zwischen den Terroristen und
den Guerillakämpfer siehe: Schneckener 2006: 19ff.
[6] Vgl. Waldmann 2001: ebd.
[7] Holtmann 2000: 684.
[8] Jesse 2000: 590.
[9] Vgl. Schmid/Jongman 1988: 5f., zitiert nach Hoffman 2006: 50f.
[10] Hoffman 2000: 56.
[11] Vgl. Politikwissen: Lexikon: Terrorismus. Umfassend auch Urban 2006:35-42.; Hoffmann 2006: 81ff.
[12] Bundesministerium des Inneren. Lexikon der Innenpolitik: Terrorismus.
[13] Bundesnachrichtendienst: Internationaler Terrorismus.
[14] Verfassungsschutz: Islamismus und islamistischer Terrorismus.
[15] Vgl. Mekhennet/Sautter/Hanfeld 2006 : 156ff; umfassend auch Hoffmann 2006:305-347.
[16] Vgl. Holtmann 2000 : 352; Schiller 2001: 277f.; Schell 1987: 264 f.
[17] Vgl. Sartori 1997: 370 f.
[18] Vgl. Schieder 2006: 176.
[19] Vgl. Krell 2004 : 202 ; Schieder: 175f.
[20] Vgl. Krell 2004: 202f.; Knapp/Krell 2003: 69.
[21] Vgl. Long 1995: 499, zitiert nach Schieder 2006: 179.
[22] Vgl. Schieder 2006: 178f.
[23] Vgl. Schieder 2006: 180f./ Bienen/Freund/Rittberger 1999: 2.
[24] Vgl. Bienen/Freund/Rittberger 1999: 2f.
[25] Vgl. Schiedler 2006: 181.
[26] Vgl. Moravcsik 1997: 516f.
[27] Vgl. Kant 1991: 44, zitiert nach Moravcsik 1997: 517.
[28] Vgl. Moravcsik 1997: ebd.; Schieder 2006: 183.
[29] Vgl. Milgrom/Roberts 1990: 86f., zitiert nach Moravcsik 1997: 517.
[30] Vgl. Moravcsik 1997: 518; Schieder 2006: 184.
[31] Vgl. North/Thomas 1973, zitiert nach Moravcsik 1997: 518.
[32] Vgl. Moravcsik 1997: 519.
[33] Vgl. Achen 1995, zitiert nach Moravcsik 1997: 519.
[34] Vgl. Ruggie 1983: 265, zitiert nach Moravcsik 1997: 519f.
[35] Vgl. Ruggie 1982; 1983, zitiert nach Moravcsik: 520.
[36] Vgl. Bienen/Freund/Rittberger 1999: 9, zitiert nach Schieder 2006: 184.
[37] Vgl. Moravcsik 1997: 520.
[38] Vgl. Stein 1982; Snidal 1985; Martin 1992, zitiert nach Moravcsik 1997. ebd.
[39] Vgl. Grieco o. J., zitiert nach Moravcsik 1997: 521.
[40] Ausführlich siehe Moravcsik 1997: 513- 553.
[41] Vgl. Moravcsik 1997: 524ff.
[42] Vgl. Jackson 1990/ Gilpin 1989, zitiert nach Moravcsik 1997: 526.
[43] Vgl. Weiner 1971, zitiert nach Moravcsik 1997: 526.
[44] Vgl. Moravcsik 1997: 528.
[45] Vgl. Moravcsik 1997: ebd.
[46] Vgl. Moravcsik 1997: 529.
[47] Vgl. Moravcsik 1997: 530.
[48] Vgl. Evera 1990, zitiert nach Moravcsik 1997: 530.
[49] Vgl. Moravcsik 1997: ebd.
[50] Vgl. Moravcsik 1997: 532.
[51] Vgl. Moravcsik 1997: 532f.
[52] Vgl. Ulbert 2006: 409.
[53] Vgl. Joergensen 2001, zitiert nach Ulbert 2006: ebd.
[54] Vgl. Ulbert 2006: 410.
[55] Vgl. Nabers 2006: 29.
[56] Vgl. Nabers 2006: 32.
[57] Vgl. Nabers 2006: 38. Ausführlich siehe: 29-73.
[58] Vgl. Lebow/Risse/Kappen 1995, zitiert nach Ulbert 2006: 412; Risse 1999: 1.; Knapp/Krell 2003:78.
[59] Vgl. Ulbert 2006: 413.
[60] Vgl. Harmann 2001: 65.
[61] Vgl. Wendt 1992, zitiert nach Risse 1999: 35.
[62] Vgl. Katzenstein 1995; Müller 1995; zitiert nach Risse 1999: 36.
[63] Vgl. Cox 1996/1987; Gill 1993, zitiert nach Risse 1999:ebd.
[64] Vgl. Krell 1996: 149-181; Locher 1996; zitiert nach Risse: ebd.
[65] Vgl. Wendt 1994: 385, zitiert nach Harmann 2001: 66.
[66] Vgl. Wendt 1995: 72ff. , zitiert nach Hermann 2001: ebd.
[67] Vgl. Hermann 2001: 66.
[68] Vgl. Risse 1999: 36.
[69] Vgl. Schütz 1974; Anthony 1966, zitiert nach Risse 1999: ebd.
[70] Vgl.Wendt 1987: 335-370; Dessler 1989: 441-473; Charlsnaes 1992: 245-270., zitiert nach Risse 1999: 37.
[71] Vgl. Risse 1999: ebd.
[72] Vgl. Ulbert 2006: 417f.
[73] Vgl. Risse 1999: 37.
[74] Vgl. Risse 1999: 37ff.
[75] vgl. Risse 1999: 40ff.; Ausführlich siehe: Boekle u.a. 2001: 105-137; Risse 1999: 33-57.; Ulbert 2006: 409-440.; Adler 2002: 95-118.; Fearon/Wendt 2002: 52- 72.
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